Berliner Zeitung: „Leben auf Rädern“

Raul hat die Glasknochenkrankheit und gehört dennoch zu den aktivsten Studenten der Stadt
Na, gehen wir später ’nen Kaffee trinken?“. Die blonde Redakteurin von Radio Fritz lächelt. „Klar, ich komm dann vorbei“, sagt Raul und streicht mit Daumen und Zeigefinger über seinen Kinnbart. Das tut er oft. Der 26-jährige Student kommt sportlich zu seinem neuen Halbtagsjob in der Online-Abteilung des Senders: blaue Chucks, beiger Kapuzenpulli. Sein braunes Haar ist lässig kurz geschnitten. Auf dem Weg zu seinem Schreibtisch in einem hellen Großraumbüro im ersten Stock grüßen ihn alle, sowohl der Pförtner am Haupteingang, als auch die Moderatoren, die hinter dicken Glaswänden in den Aufnahmestudios sitzen. „Ich bin halt ein bunter Hund“, erklärt Raul. Sein Assistent Gregor lächelt. Er weiß, dass Raul ohne ihn den Weg durch die langen Flure des Gebäudes nicht zurücklegen könnte. Raul sitzt im Rollstuhl.
Und das Zeit seines Lebens. Schon früh fanden Ärzte heraus, dass Raul Osteogenesis imperfecta, sogenannte Glasknochen hat. Die Eltern, die damals noch in Südamerika lebten, beschlossen nach Deutschland auszuwandern, sobald ihr Kind alt genug für die lange Reise wäre. Die seltene erblich bedingte Bindegewebsstörung könne dort am besten versorgt werden, sagten die Ärzte. So landete die kleine Familie in Berlin.
Dort schrieb sich Raul nach seinem Abitur in den Studiengang Gesellschafts- und Wirtschaftkommunikation an der Universität der Künste (UdK) Berlin ein. Nebenbei gründete er mit Freunden die „Internetagentur fabrik neue medien GmbH“. Zwei Mal war er Synchronsprecher des Kinder-Anwalts in der Serie „Ally Mc Beal“. Letztes Jahr hat Raul eine Ausbildung als Telefonseelsorger angefangen – und jetzt hat er schon vor seinem Abschluss einen Job bei dem Sender. „Wenn ich auf etwas stolz bin, dann darauf, dass ich mittlerweile meinen Lebensunterhalt selbst verdiene. Das ich so unabhängig wie möglich bin“, sagt er. Seine Stimme klingt zu hoch für die eines 26-Jährigen, doch sie hat auch etwas Beharrliches.
Diese Eigenschaft macht sich nicht nur in Rauls Lebenslauf, sondern auch an seinen WG-Regeln bemerkbar: Erstens sollen sich seine beiden nicht behinderten Mitbewohner wegen ihm keine Umstände machen. Zweitens bezahlt er mehr Miete. Ausgleichende Gerechtigkeit, findet er. „Immerhin kann ich nicht im Haushalt helfen.“ Er will niemandem zur Last fallen.
Doch ganz ohne Hilfe geht es nicht. Jeden Morgen kommt einer von Rauls Assistenten und hilft ihm, sich fertig zu machen. Zum Beispiel kümmert er sich in der geräumigen Küche um Frühstück. Genau wie der Rest der Erdgeschosswohnung zeigt der Raum keine Indizien dafür, dass einer seiner Bewohner im Rollstuhl sitzt und gerade mal hüftgroß ist. Alles in der Wohnung sieht unerreichbar für Raul aus, auch der Ikea-Schreibtisch in seinem Zimmer. „Nur wenn ich in meinem normalen Rollstuhl sitze“, erklärt der Student gelassen. „Ich habe noch einen Elektrorollstuhl. Der ist höhenverstellbar.“ Mit dem kann er auch alleine zur Uni fahren, zumindest zum nahe gelegenen Medienhaus der UdK. Dort hat Raul manchmal Filmseminare. Noch ein knappes Jahr, dann will er sein Diplom in der Tasche haben.
Um überhaupt studieren zu können, hat Raul damals einen Härtefall-Antrag gestellt. „Mit meinen Noten allein hätte ich es wahrscheinlich nicht geschafft“, sagt er nachdenklich. „Manchmal wird man als Behinderter eben doch bevorzugt behandelt. Deshalb finde ich es auch arrogant, so zu tun, als ob ich mein Leben nur aus eigener Kraft gemeistert hätte“. Er streicht mit Daumen und Zeigefinger über seinen Kinnbart. Seine Finger gleichen denen eines Kleinkindes.
Freunde zu finden, war für Raul nicht immer einfach. Um mehr Leute an der Uni kennenzulernen, verzichtete er dort auf die Begleitung von Assistenten. So klappte es zwar mit den Bekanntschaften, aber an einer Uni, deren acht Gebäude über ganz Berlin verteilt sind, wurde es mit der Fortbewegung oft schwierig. Außerdem sind die meisten UdK-Gebäude Altbauten, und nicht überall gibt es Aufzüge.
Auch im Medienhaus hatte Raul oft Schwierigkeiten. Den Aufzug dort gibt es noch nicht sehr lange, und auch jetzt sind längst nicht alle Räume mit ihm erreichbar. „Ich muss meine Kommilitonen oft bitten, mich irgendwohin zu tragen oder zumindest zu schieben. Das ist mir unangenehm.“ Doch Raul hat sich daran gewöhnt. Außerdem bekommt er sowieso ständig Hilfe angeboten, auch ohne darum zu bitten. Wenn er zum Beispiel mit seinem Rollstuhl vor einer Treppe steht, bekommt er in kürzester Zeit mindestens fünf Hochtrage-Angebote. „Einer der Vorteile meiner Behinderung ist, dass alle immer nett zu mir sind“, sagt Raul und lacht laut. Die Unbefangenheit, die er in Bezug auf seine Krankheit an den Tag legt, überträgt sich auch auf sein Umfeld. Doch es gab auch Momente, in denen er sich in der Uni etwas verloren fühlte. Zum Beispiel wenn er vor der Entscheidung stand, sich ständig in einen Seminarraum tragen zu lassen oder die UdK-Behindertenbeauftragte Susanne Hagen zu bitten, den Raumplan zu ändern. „Ich wollte nie, dass wegen mir ein Seminar in einen anderen Raum verlegt werden muss“, sagt er. Mit Susanne Hagen hatte Raul nur einmal zu tun: bei seiner Immatrikulation. Und die anderen zehn Körperbehinderten Studierenden der UdK? „Keine Ahnung wo die sich rumtreiben“, sagt er und lacht. „Ich hab die irgendwie noch nie gesehen. Schade eigentlich!“
Jetzt wird daraus wohl auch nichts mehr. Denn Raul muss nicht mehr so oft in die Uni. „Schön, aber auch traurig“, findet er. Doch der Radiojob macht ihm Spaß, und im Radio-Fritz-Gebäude ist das Kaffeetrinken auch viel gemütlicher, als in der Uni-Cafeteria. Da macht es auch nichts, dass Raul eigentlich gar keinen Kaffee trinkt.



2 Antworten zu “Berliner Zeitung: „Leben auf Rädern“”

  1. Hallo Raul
    ich fand den Artikel klasse! Respekt für dich …
    bin eigentlich durch Zufall hier gelandet, einer meiner Zwillingssöhne heißt auch Raul 🙂
    viele Grüße und alles Gute
    Agy

  2. gratuliere zu der promotion…
    freut ja wenn leute nicht nur gute blogs machen, sondern ab und an auch die aufmerksamkeit kriegen, die sie verdienen.
    ausserdem hab ich übrigens auch mal an der anstalt studiert, wo du das offenbar (laut artikel) noch tust…

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