Das #Heimexperiment – Fünf Tage lebenslänglich

Leben im Behindertenheim. Aus Kostengründen. Alternativlos. Das geplante Bundesteilhabegesetz kann genau das bedeuten, wenn nicht konsequente Änderungen im Gesetzestext stattfinden.
Weil alle bisherigen Protest-Aktionen die entscheidenden Änderungen nicht gebracht hatten, entschied sich die Aktivistengruppe AbilityWatch für ein drastisches Projekt: Ab ins Heim und selbst ausprobieren, was ein Leben in Abhängigkeit bedeuten kann.

“Ambulant vor stationär”

Das geplante Bundesteilhabegesetz kann das Leben vieler Menschen mit Behinderung sehr verändern. Ganz besonders betroffen wären behinderte Menschen, die bereits in einem Heim wohnen, jetzt aber ausziehen und mit Assistenz in einer eigenen Wohnung leben wollen. Und Menschen, denen im Laufe ihres Lebens eine Behinderung passiert: Durch Unfall oder Krankheit. 90% aller Behinderungen passieren im Laufe des Lebens.
Wenn ein Mensch durch eine Behinderung im Alltag Unterstützung benötigt, ist dies außerhalb eines Behindertenheimes durch so genannte Assistenten*innen möglich, deren Job es ist, erforderliche Hilfsarbeiten zu übernehmen.
Entweder arbeiten die Assistenten*innen direkt für den behinderten Menschen, der sie aus dem Persönlichen Budget finanziert. Oder sie sind bei Unternehmen angestellt, die direkt vom Sozialamt bezahlt werden.
Abhängig von der Art einer Behinderung sind im Alltag unterschiedliche Hilfen erforderlich: Unterstützung beim Aufstehen, Waschen, Ankleiden, Essen machen, Hilfe bei Toilettengängen. Der zeitliche Bedarf an persönlicher Assistenz ist je nach Grad der Behinderung vollkommen verschieden.
Die persönliche Assistenz soll Menschen mit Behinderung die gleichberechtigte Teilhabe am Leben ermöglichen. Das heißt: Assistenz ist nicht optional, sondern ein Menschenrecht.
Das Neunte Sozialgesetzbuch (SGB IX) regelt, welche Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe erbracht werden müssen. In diesem Gesetzbuch war bisher festgelegt, dass der Grundsatz „ambulant vor stationär“ gilt.
Aber genau dieser wichtige Punkt wurde nicht mit ins Bundesteilhabegesetz übernommen.
Bis jetzt wurde Assistenznehmern also ermöglicht, selbstbestimmt über das eigene Leben zu entscheiden. Dazu gehört natürlich ganz klar die Wahl des Wohnortes, die Entscheidung mit wem man zusammenleben möchte – und auch sehr wichtig: Welcher Assistent die Hilfsaufgaben übernimmt, die bei pflegerischen Maßnahmen sehr intim werden können. Oder auch Assistenten*innen ablehnen zu können, die nicht so arbeiten, wie man es sich wünscht, grob oder indiskret sind.
Was verändert sich durch den Wegfall des Grundsatzes „ambulant vor stationär“?
Am besten erklärt es sich an einem Beispiel: Ein bisher nicht-behinderter Mensch hat einen Unfall. Nach Krankenhaus- und Reha-Aufenthalt steht schließlich fest: Ohne Hilfe im Alltag wird dieser Mensch nicht leben können; er wird Unterstützung beim Aufstehen, beim Einkaufen usw. benötigen.
Bisher wären diesem Menschen Assistenzleistungen nach Bedarf bewilligt und nach der Regelung „ambulant vor stationär“ alle anfallenden Kosten übernommen worden.
Da jetzt aber dieser Punkt wegfällt, könnte dem neu-behinderten Menschen stattdessen ein Heimplatz angeboten werden, der kostengünstiger als eine individuelle Assistenz wäre.
Wenn der Mensch diesen Platz ablehnte, würde ihm nur noch ein Assistenz-Budget in Höhe der Kosten des Heimplatzes bewilligt, von denen aber eben nicht Assistenz im notwendigen Ausmaß bezahlt werden könnte. Und dem Menschen würde schließlich keine andere Wahl bleiben, als den Behindertenheimplatz zu akzeptieren.

Ab ins Heim

Als immer klarer wurde, dass sich das geplante Bundesteilhabegesetz in eine gefährliche Richtung entwickelt, riefen

Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de
Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de
im Spätsommer verschiedene Behinderten-Aktivisten zum Krisentreffen zusammen. Die vergangenen Gespräche mit Politikern, die öffentlichen Diskussionen, publikumswirksamen Demonstrationen, Protest-Aktionen bei Inklusionsveranstaltungen der Parteien und eine erfolgreiche Petition hatten nur bescheidene Resultate gebracht.
Während die Presse sich interessiert zeigte, blieben die entscheidenden Politiker – bis auf wenige Ausnahmen – konsequent fern.

Den Aktivisten war klar: Jetzt müssen andere Wege beschritten werden. Man diskutierte was möglich ist, was eventuell zu weit geht und was man sich ab jetzt nicht mehr bieten lassen würde. Ein Ergebnis dieser Tage war die Gründung der Disabled People’s Organisation (DPO) AbilityWatch. Das Motto: Nichts über uns, ohne uns!.
Einer der schwerwiegendsten Punkte im geplanten Teilhabegesetz wäre der Verlust der Selbstbestimmung. Wenn Menschen gegen ihren Willen in Heime gezwungen würden.
Deshalb stand dieses Thema bei den Aktivisten ganz oben auf dem Aktions-Plan:

Dann probieren wir das einfach aus. Und weisen uns selber ein!

Raus aus dem selbstbestimmten Leben mit Assistenz – ab ins Heim. Schnell war klar, dass der „Prominenteste“ der Gruppe die Idee in die Tat umsetzen sollte, um möglichst viel Aufmerksamkeit zu erregen: Raúl Krauthausen.
Damit das Ganze ein großes Publikum erreichen würde, mußte ein guter Medienpartner her. Eine Produktionsfirma, die mit Stern TV zusammenarbeitet, gab erstaunlich schnell grünes Licht: Stern TV war mit im Boot! Um dem Publikum später Raúls Erlebnisse präsentieren zu können, stellte die Produktionsfirma ihm eine versteckte Kamera.
Zunächst musste ein passendes Heim gefunden werden. Dabei war klar: Es geht nicht darum, ein bestimmtes Behindertenheim vorzuführen, sondern allgemein mehr über das Leben in einer derartigen Einrichtung zu erfahren.
Und man musste sich überlegen, wie man verhindert, dass Raúl sofort erkannt wird. So vorteilhaft die „Prominenz“ für starke Medienpartner war, so sehr barg sie die Gefahr aufzufliegen. Frederik & RaulSein Klarname konnte für die Anmeldung im Heim natürlich nicht verwendet werden. Ein anderer Name musste her. Und eine Story, die seinen Aufenthalt im Heim plausibel machte. Also nahm Raúl leihweise die Identität seines alten Schulfreundes Frederik Heinrich. an.
Schließlich könnte es sein, dass man ihn zur Identifikation nach seinem Personalausweis fragen würde. Eine echte Krankenkassenkarte wäre nicht nötig, der Aufenthalt würde privat bezahlt werden. Frederik ist im gleichen Alter und ebenfalls Glasknochenbesitzer. Die 20 cm Größenunterschied würde man hoffentlich nicht bemerken: Das Klischee, dass Menschen mit Glasknochen sich alle irgendwie ähnlich sehen, wurde nun zum Vorteil.
Aus Raúl wird Frederik. Mit Stern TV ging es noch zum Friseur, eine andere Brille wurde besorgt, Jogging-Klamotten in Kindergröße im Krankenhaus-Style geshoppt und die „Mann mit der Mütze“-Kopfbedeckungensammlung würde Zuhause bleiben. Ebenso der große und auffällige elektrische Rollstuhl. Auch wenn das bedeutete, dass Raúl in seinem kleinen Schieberollstuhl sehr auf Hilfe angewiesen wäre. Kurze Strecken könnte er selbständig damit zurücklegen. Aber wenn es darum ginge, das Haus zu verlassen, würde das alleine nicht möglich sein.

Die fiktive Frederik-Geschichte:
Frederik wohnt noch Zuhause bei der Mutter und arbeitet in Berlin in einer Behindertenwerkstatt. Weil die Mutter verreist, muss Frederik in die Kurzzeitpflege. Sein „Cousin“ – ein Assistent von Raúl – bringt ihn ins Heim und wird ihn dort regelmäßig besuchen, um Speicherkarten aus der versteckten Kamera auszutauschen.

Zum Schluss waren sich alle einig: Das könnte klappen!

Raúls Heimtagebuch

Tag 1:

Fahre zusammen mit meinem Assistenten per Bahn zum Heim. Mir ist mulmig. Was wird mich erwarten? Zum Glück gibt es nachher noch ein Treffen mit den Stern TV-Leuten, die ich schon kenne. Danach wird es echt ernst.
Stern TV-Treffen vorbei, man hat mir nochmal alles zum Thema Kamera, Speicherkarten usw. erklärt, wir haben für Mitte der Woche ein weiteres Treffen verabredet. In einem kleinen Accessoire trage ich nun auf meinem Schoß den ganzen Tag eine versteckte Kamera mit Mikro mit mir herum. Hoffentlich fällt es mir nicht runter und alles fällt auseinander.
Gegen Nachmittag schiebt mein Assistent mich die letzten Meter zum Heim. Das mulmige Gefühl wächst.
Die ersten Begegnungen mit den Mitarbeitern: Alle nett. Man ist sich wohl nicht so sicher, ob man mich duzen oder siezen soll. Auch spricht man mehr mit meinem Assistenten/Cousin als mit mir und erklärt ihm alles notwendige. Wenn ich etwas aus dem Kühlschrank der Heimbewohner möchte, einen Joghurt oder so, muss ich fragen. Weil einer der Heimbewohner zu viel ißt, hat man ihn abgeschlossen. Ich stutze.
Ich werde von zwei Stationen betreut, der einen morgens, der anderen abends. Es fallen Worte wie „Entlastung” und ich fühle mich schon jetzt wie eine Last, die man nicht einer Station alleine aufbürden will.
Ich habe einige Probleme in meine Rolle zu finden. Fühlt sich an wie betrügen.
Man zeigt mir mein Zimmer. Ein kahler Raum mit Krankenhausbett, Krankenhausnachttisch und Schrank. Kein Schreibtisch. Keine Nachttischlampe. Auf der Matratze liegt eine Auflage gegen mögliches Einnässen.
Ich treffe die anderen Heimbewohner, alle super nett. Ich bin der einzige ohne E-Rolli. Damit sind alle anderen eindeutig schon mal selbständiger als ich.
Ich war noch nicht auf der Toilette. Habe große Hemmungen mit Fremden zu gehen. Schließlich bitte ich darum, als es nicht mehr anders geht. Der Schock: Gleich drei Mitarbeiter gehen mit. Ein Mann und zwei Frauen. Sie wollen gemeinsam sehen, wie es geht, mich aufs Klo zu setzen. Alle haben blaue Handschuhe an. Ich muss an eine Dokumentation über eine Fischverarbeitungsfabrik denken, in der die Mitarbeiter blaue Handschuhe trugen. Warum sind die hier nicht einfach hautfarben? Es wirkt klinisch. Die Tür zum Stationsflur steht weit offen, ich traue mich nicht etwas zu sagen. Hoffe, dass jetzt niemand vorbeigeht oder -rollt.
Gemeinsames Abendessen. Mein Rollstuhl ist zu klein für den Esstisch. Ich sitze an einem kleinen Beistelltisch. Fühlt sich nicht gut an. Das Essen schmeckt. Ob es auch Alkohol gibt? Einen Wein oder Bier zum Abendessen trinken wir Zuhause gerne mal.
Ich werde ins Bett gebracht. Es ist 21:00 Uhr. Man hat mir „empfohlen“, zwischen 21:00 und 23:00 Uhr ins Bett zu gehen, weil vor dem Schichtwechsel noch mehr Personal da ist. Aber was, wenn am Wochenende mehrere Leute auf Partys gehen oder ins Kino mit Freunden? Oder auf ein Date? Gibt es am Wochenende dann nach 23:00 Uhr mehr Personal?
Es gibt einiges, was ich in den nächsten Tagen unbedingt noch herausfinden möchte.

Tag 2:

Ich liege im Bett und warte. Man hatte mich gefragt, wann ich aufstehen möchte und ich hatte gebeten um 8:30 Uhr. Jetzt ist es nach 9:00 Uhr.
Kurz nach 9:00 Uhr kommen zwei Mitarbeiter, klopfen zwar, aber lassen die Tür zum Flur offen. Jeder kann in mein Zimmer schauen, während ich aus dem Bett gehoben werde.
Man fragt mich, ob ich duschen möchte und ich bejahe. Welcher Pfleger mich duscht, scheine ich nicht entscheiden zu dürfen und ich habe das Pech, dass sich der laute, gröbere Pfleger gleich an die Arbeit macht. Plötzlich steht eine weitere Pflegekraft im Bad. Ich bin nackt. Privatsphäre gleich Null. Ich schäme mich.
Frühstück mit den Mitbewohnern. Trotzdem ich weiterhin am „Katzentisch“ sitze, komme ich ins Gespräch. Einige Mitbewohner haben einmal pro Woche Assistenz für individuelle Unternehmungen. Einmal pro Monat gibt es einen so genannten „Kreistag“, an dem die Bewohner mit einer Pflegekraft rausgehen können.
Unter den Mitbewohnern gibt es ein Paar. Die beiden haben zusammengelegte Zimmer.
Ich bin den Vormittag über alleine, die anderen Mitbewohner arbeiten in der Behindertenwerkstatt, die sich direkt auf dem Heimgelände befindet.
Die Mittagszeit ist stressig, die Mitbewohner kommen zum Essen nach Hause. Gibt mir das Gefühl, dass das Leben im Heim mit Arbeit in der Werkstatt in sehr kleinem Lebensradius stattfindet. Jeder muss aufs Klo.
Gemeinsames Essen. Ich frage, ob denn auch Essenswünsche berücksichtigt werden. Ja, wenn die Pfleger abends Zeit haben geht das. Oder mal am Wochenende. Am besten, wenn man sich mit anderen Bewohnern abspricht und sich alle dasselbe wünschen. Unter der Woche gibt es pro Tag drei Essen zur Auswahl, am Wochenende zwei. Man muss sich für den Wochenspeiseplan bereits eine Woche vorher festlegen. Und zwar für die gesamte Gruppe! Alle Bewohner einer Gruppe bekommen also pro Tag dasselbe Essen. Für Vegetarier oder Veganer gibt es nur die Beilagen. Morgen ist Schnitzeltag. Moslems müssen das Schnitzel eben weglassen. Ob die Soße dann doch Fleischbestandteile enthält, ist Pechsache.
Gespräch beim Essen:
Ein Bewohner saß nicht richtig und wollte richtig hingesetzt werden.
Bewohner:

Du musst warten, das hast du ja gelernt. Gleich kommt jemand.

Ich:

Warum warten? Wo sind denn die Pfleger?

Bewohner:

Beim Rauchen, die kommen gleich.

Ich:

Aber das ist doch doof, wenn man nicht richtig sitzt und es vielleicht sogar weh tut.

Bewohner:

Ja, für die Raucher ist das doof, wenn man gestört wird.

Ich frage eine Pflegerin, ob mir jemand das Gelände zeigen kann. Keine Zeit. Vielleicht in den nächsten Tagen mit den Pflegeschülern.
Nachmittags holt mich mein Assistent/“Cousin“ für ein paar Stunden aus dem Heim ab zum Speicherkartenwechsel. Wir trinken zusammen Kaffee im Hotel-Restaurant. Es fühlt sich nach Freiheit an. Mit Absicht komme ich zu spät ins Heim zurück, habe das Abendessen verpasst. Möchte sehen, was passiert. Aber es ist alles ok.
Ich sage heute nicht Bescheid, wann ich ins Bett möchte, sondern warte, wer wann kommt. Um 21:20 Uhr kommen drei Pflegekräfte, scheinbar wird immer noch eingewiesen. Alles Frauen. Ich finde es ungewohnt mich von Frauen pflegen zu lassen. Es gibt scheinbar keine Möglichkeit, gleichgeschlechtliche Pfleger zu haben, wenn der Dienstplan es nicht zulässt. Der Plan wird also wohl nicht mit Rücksicht auf diese Bedürfnisse der Bewohner erstellt. Ich fühle mich entsexualisiert.

Tag 3:

Ich liege im Bett und wurde gestern nicht gefragt wann ich aufstehen möchte. Es ist 8:30 Uhr. Wann wohl jemand kommt?
Um 9:05 Uhr kommt eine Pflegekraft, die ich noch nicht kenne. Ohne vorher anzuklopfen steht sie plötzlich vor meinem Bett. Beim Anziehen frage ich nochmal nach, ob mir jemand das Heimgelände zeigen könnte.
Nach dem Frühstück kommen zwei Pflegeschülerinnen, die eine schiebt mich übers Gelände (ich vermisse meinen E-Rollstuhl immer mehr!). Ich stelle Fragen und bekomme einige Antworten: Zum Teil sehr private Infos über Mitbewohner, die ich nicht hören möchte. Aber auch: Manche Bewohner haben erzählt, dass sie sich in der Werkstatt langweilen. Und man kann Alkohol im Heim trinken.
Ich frage weiter: Warum ist der Dienstplan für die Heimbewohner nicht einsichtig? Dann könnte man sich darauf einstellen, welche Pflegekraft wann da ist und man hätte mehr Überblick.
Schulterzucken bei den Pflegeschülerinnen.
Plötzlich habe ich das Gefühl, dass ich zu viele Fragen stelle. Ich möchte nicht auffallen.
Als wir wieder zurück im Heim sind, frage ich explizit nach einem bestimmten Pfleger für den Toilettengang. Es klappt.
Ich habe ein bisschen Hunger, ein Joghurt wäre jetzt super. Aber der der Kühlschrank ist ja zugeschlossen und gerade kein Pfleger in Sicht.
Mittagessen mit den Mitbewohnern. Ich mag sie alle und höre ihnen gerne zu.
Nach dem Mittag quatsche ich mit ein paar Bewohnern. Manche würden schon gern länger wachbleiben, aber abends rausgehen ist nicht so leicht. Es gibt im Ort ein Kino, aber Kinogänge zu organisieren ist wohl schwierig. Eine Teestube gibt es auf dem Gelände, manchmal ist da Disko. Freitags ist sie geschlossen. Aber da wäre man ja nur unter sich und würde ewig dieselben Gesichter sehen.
Einige Bewohner sehen das hier als ihre letzte Bleibe. Trauen sich nicht auszuziehen.
Mein „Cousin“ holt mich ab. Wir treffen uns mit dem Stern TV-Redakteur und gehen zusammen essen. Ich fühle mich für kurze Zeit, als würde mein echtes Leben wieder stattfinden. Ich esse, wonach mir ist, trinke ein halbes Glas guten Wein, mein mir vertrauter Assistent bringt mich auf die Toilette. Ich bestimme, was wie und wann passiert.
Gegen 23:20 Uhr kehre ich ins Heim zurück. Die Tür ist zu. Wir klingeln, ich bin leicht besorgt, was jetzt passiert. Alles kein Problem. Ich bitte den Nachtpfleger noch um einen Joghurt, esse die Kleinigkeit und werde danach ins Bett gebracht.
Ich liege im Bett und bin kurz davor einzuschlafen. Plötzlich stürmt eine Pflegerin ins Zimmer, Licht an, kein Anklopfen vorher. Sie wisse, wer ich sei, habe ein Video auf YouTube über mich gesehen. Nichts von wegen in einer Werkstatt arbeiten, ein Doktor sei ich. Ob ich sie hier ausspionieren wolle oder was. Mir wird ganz schlecht vor Schreck: Ich bin entlarvt! Bis ich begreife, dass sie gar nicht Raúl Krauthausen entdeckt hat, sondern ein altes Video über meine Leih-Identität Frederik, der tatsächlich Doktor für Bio-Chemie ist. Erleichterung. Trotzdem fühle ich mich so kurz vorm Einschlafen mit der Situation überfordert, stottere etwas davon, dass sie mich mit dem Frederik aus dem „Marienhof“ verwechselt. Der Charakter in der Vorabendserie trägt den selben Namen wie mein alter Schulfreund. Aber sie widerspricht. Es ginge nicht um Marienhof, sondern um einen Doktor aus Berlin, der ebenfalls Frederik Heinrich heisst und der bestimmt nicht in einer Behindertenwerkstatt arbeitet! Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll und versuche das Gespräch zu beenden, ich sei müde und möchte jetzt meine Ruhe. Schließlich geht sie.
Muss ich das Experiment abbrechen?

Tag 4:

Ich habe ein bisschen Sorge vor dem kommenden Tag. Was wird mich erwarten? Wissen jetzt alle Bescheid? Alle Pflegekräfte? Vielleicht auch alle Bewohner? Wie werden sie mit mir umgehen? Fühlen sie sich betrogen? Und haben sie damit vielleicht auch Recht? Aber hätten wir es anders machen können – das Leben im Heim auszuprobieren und damit aufmerksam zu machen, was das alles bedeutet? Welche Abhängigkeiten dadurch entstehen? Ich bin hin- und hergerissen.
Um kurz nach 9:00 Uhr kommt der Pfleger. Ich warte, ob er mich auf die Entdeckung der Kollegin anspricht. Aber nichts.
Beim Frühstück mit den Mitbewohnern ist alles wie immer. Die Pflegerin scheint nichts erzählt zu haben. Dabei hatte sie noch gesagt, es gingen die wildesten Gerüchte über mich um. Ich werde mich heute unauffällig verhalten.
Den Vormittag über bin ich wieder alleine, die anderen sind wie immer in der Werkstatt. Ich denke viel nach. Ja, ich veranstalte hier eine Undercover-Sache und man kann auch sagen, dass ich etwas vorspiele. Trotzdem finde ich es nicht in Ordnung, dass ich als Bewohner von Pflegekräften gegoogelt und damit quasi ausspioniert werde. Und noch schlimmer finde ich, dass ich damit in einer Abhängigkeitssituation konfrontiert werde: Im Bett liegend. Ich kann mich nicht selbständig aus der Situation herausbewegen, kann nicht einfach das Zimmer verlassen. Kann nicht aktiv reagieren. Ein respektvolles Miteinander ist etwas anderes.
Beim Toilettengang wird wieder die Tür zum Heimflur offen gelassen. Als draußen Leute vorbeigehen werde ich mutiger und fordere den Pfleger auf, die Tür zu schließen. Er macht es.
Am Nachmittag besuche ich eine Mitbewohnerin in ihrem Zimmer und sie erzählt über ihr Leben vor diesem Heim. Wir fahren zusammen zum gemeinsamen Abendbrot mit den übrigen Bewohnern. Danach schauen einige zusammen Fernsehen im Essensraum. Ich auch.
Ich liege im Bett. Es ist die letzte Nacht. Ich bin sehr nachdenklich. Einige der Mitbewohner, die ich hier kennenlernte, werde ich auf jeden Fall vermissen. Was mich sehr stört hier sind die Massen an Leuten, die ständig im Heimflur unterwegs sind: Pflegekräfte, Putzleute, Reparaturservice, Caterer usw. Man hat da schnell den Überblick verloren und kommt sich wie auf einem Bahnhof vor. Ganz besonders, wenn dann noch bei Toilettengängen die Türen weit offen stehen gelassen werden und alle diese Leute einem zuschauen können, wie man gerade auf dem Klo sitzt.
Ich wünsche mir, dass Planer von Heimen und Prozessen selber einmal hier leben müssen.

Tag 5:

Letzter Tag.
Wie jeden Morgen, werde ich später geweckt als ich gebeten hatte. Aber heute ist es mir egal.
Alles läuft wie automatisch ab, aufstehen, frühstücken, ich verabschiede mich schnell von den Mitbewohnern, mit denen ich die letzten Tage zusammengelebt habe. Alle sind schon in Eile, um noch schnell auf die Toilette und dann in die Werkstatt gebracht zu werden.
Ein Pfleger packt meine Sachen. Ich drehe mich nochmal um und schaue in das leere Zimmer. So steril und anonym wie am ersten Tag. Ich werde es nicht vermissen.
Insgesamt bin ich unendlich froh, dass es wieder nach Hause geht. Dass ich in mein selbstbestimmtes Leben zurück kann, meine Assistenten ihre Dienstpläne nach meinen Terminen und Bedürfnissen richten. Und ich mich nicht an rigide Planungen halten muss, die für eine ganze Heimstation gelten.
Nachtrag: Ich habe in meinem Tagebuch kaum etwas über die Gespräche mit den anderen Bewohnern aufgeschrieben, um ihre Privatsphäre zu schützen. Es gab viele schöne und spannende Zusammentreffen dort, die ich sehr genossen habe.
Mehr Infos gibt es hier: Heimexperiment.de

Macht mit!

Für uns ist dieses Projekt nach Verlassen des Heimes nicht einfach abgeschlossen. Den kurzen Blick auf das Leben in einem Behindertenheim, wollen wir erweitern.
Deshalb würden wir gerne deine Erlebnisse mit dem Leben im Heim erfahren. Gute und schlechte. Lustige und traurige. Befreiende und einschränkende.
Hast du dich selbst entschieden in einem Heim zu leben? Oder gab es scheinbar keine andere Möglichkeit? Hast du es vielleicht sogar geschafft, aus dem Behindertenheim auszuziehen und lebst jetzt in deiner eigenen Wohnung mit Assistenz?
Schreib mir!

Was wir fordern!

(sb)



10 Antworten zu “Das #Heimexperiment – Fünf Tage lebenslänglich”

  1. Hallo Raúl, danke für diesen spannenden und auch sehr erschütternden Einblick in das Leben im Heim und den Umgang mit Menschen mit Behinderung. Was mich sehr interessieren würde: Inwiefern sind die rechtlichen und/oder tatsächlichen Gegebenheiten für alte Menschen mit Pflegestufe und Menschen mit Behinderung unterschiedlich? Hast Du auch eine Pflegestufe? Ist eine Pflegestufe Voraussetzung für die Gewährung von Assistenz? Fällt ein Mensch, der aufgrund von altersbedingten Einschränkungen pflegebedürftig wird, ebenfalls unter das Bundesteilhabegesetz? Das, was Du schilderst, ist ja für tausende von Senioren täglich traurige Realität. Mangelnde Privatsphäre, nicht das essen können, worauf man Lust hat, Leben nach Plan (und zwar nicht dem eigenen!). Assistenz und Pflegedienst unterscheiden sich ja offensichtlich sehr im Leistungsspektrum. Könnte eine Seniorin ohne Angehörige ebenfalls Assistenz beantragen, weil sie Unterstützung im Alltag benötigt?
    Wie Du merkst, ist mir die Abgrenzung zwischen Pflegebedürftigkeit und Assistenzbedürftigkeit nicht ganz klar. Mir scheint, da wird an zwei Fronten gekämpft, obwohl im Grunde alle im selben Boot sitzen. Ich weiß, das sind viele Fragen… Vielleicht ein Thema für einen zukünftigen Blogeintrag? Ich habe in meinem engeren Umfeld weder pflegebedürftige Menschen noch Menschen mit Assistenz, darum habe ich mir darüber noch nie Gedanken gemacht.

  2. Hallo Raul, ich habe deinen Beitrag gerade mit grosser Sorge gelesen, selbst einmal in diese Lage zu kommen, oder meine Kinder.
    Ich wünsche dir und uns allen, dass „ambulant vor stationär“ in jedem Falle beibehalten wird!
    Danke für deinen Mut!!!!!

  3. Danke für Deinen Einsatz, beim Lesen schauderte es mich einige Male, wie Du nicht als Mensch sondern als ToDo gesehen wirst, das in die Arbeitsabläufe passen muss. Ich hoffe, dass Du die Nacht vor Deinem Abreisetag gut verarbeitest, das war so krass. Und gleichzeitig m.E. eine der wichtigsten Erfahrungen Deines Aufenthalts, die ich mir wünsche von pflegenden Menschen gelesen, verstanden und beHERZigt werden.

  4. Hallo Herr Krauthausen, ich verfolge seit einiger Zeit ihre Aktivitäten und ihren Mut. Sie leisten sehr wertvolle Öffentlichkeitsarbeit für Menschen mit Behinderungen. Danke, für ihre wertschätzende Schilderung ihres Heimexpirimentes. Ihre Schilderung lenkt den Blick genau auf das Problem eines Heimbetriebes. Die normierten Abläufe erschweren ein selbständiges Leben. Hatten sie dort keinen festen Bezugsbetreuer/ Pfleger ? Ich wünsche Ihnen weiterhin so viel Tatenkraft für ihre Aktionen. Und das sie viele Menschen erreichen. Besonders die Entscheidungsträger. Denn Inklusion kann nur gelinge, wenn sich die Haltung in den Köpfen verändert.

  5. Hallo Raul,
    ich bin 100% schwerbehindert und trotzdem Pflegestufe 0. Jetzt muss ich beim Sozialamt Eingliederungshilfe für Behinderte beantragen, wo ich auch finanziell kontrolliert wieder!
    Es ist für mich das schlimmste, wenn ständig Sachbearbeiter von Behörden meine Bankkonten kontrollieren dürfen.
    Ein Wohnheim für Behinderte gibt es mehrere in Reutlingen, aber das ist gar keine Option für mich!
    Barrierefreie Grüße
    Markus Lemcke

  6. Hallo Herr Krauthausen,
    Ich habe eine Ausbildung zum Heilerziehungspfleger gemacht und in verschiedenen Einrichtungen gearbeitet. Vieles davon, was Sie beschrieben haben, kommt mir sehr bekannt vor. Ob es die Pflegesituationen, die fehlenden Angebote und Entscheidungsmöglichkeiten oder die Abhängigkeiten sind, das ist mir alles bekannt und von der Mitarbeiterseite aus besteht da auch wenig Wunsch auf Änderung, wie ich bereits erlebt habe
    Noch ärger wird es, wenn es um Themen wie Sexualität geht. Diese wird häufig geleugnet oder aber die Auseinandersetzung findet nur oberflächlich statt. Beispielsweise habe ich mit einem heterosexuellen Mann gearbeitet, der ein großes sexuelles Interesse hatte, aber als ich seine Bezugsbetreuerin auf die Möglichkeit einer Sexarbeiterin hinwies, lehnte sie diese ab, weil das nicht in seinem Interesse gewesen wäre.
    Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie auf die derzeitige Situation in Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderung darstellen und sich für dieses Experiment bereit erklärt haben. Vielleicht wird es nun mehr Menschen verständlich, dass hier noch viel Änderungs- und vor allem Verbesserungsbedarf besteht.
    Mit freundlichen Grüßen, Stephan

  7. […] Abendessen in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung oder in einem Altersheim. Das Pflegepersonal bereitet acht Schälchen mit jeweils einem Klacks Margarine vor – für jede/n Bewohnerin eine. Sind diese leer, gibt es keinen Nachschub, aber es fragt auch kaum jemand danach. Soweit nichts Ungewöhnliches. Doch schaut man genauer hin, verdeutlicht dieses Beispiel bei Menschen mit Behinderung, das Volker Schulze-Weigmann in seinem Artikel “Unsere anspruchslosen Assistenznehmer” beschreibt, ein strukturelles Problem im Umgang mit behinderten Menschen: Das Pflegepersonal hat Macht über die Bewohnerinnen. Begonnen bei der Margarine zieht sich dieses Ungleichgewicht zwischen Pflegenden und “Gepflegten” durch den Einrichtungsalltag. Egal, ob es um festgelegte Essens- oder Schlafenszeiten geht, um Gruppenaktivitäten, an denen alle teilnehmen müssen, oder um den vorgeschriebenen Ablauf in Sachen Duschplan. Raum für “Sonderwünsche” gibt es nicht. Ich weiß, wovon ich hier schreibe. […]

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