Wir warten nicht mehr – Ein Blick auf die Generation Inklusion 2.0

Let's Date

Es lebt sich heute anders als junger Mensch mit Behinderung, als ich es vor 20 Jahren noch erlebte. Was hat sich verändert?

Seit diesem Jahr gibt es bei Funk ein neues Projekt: 100percentme. Auf YouTube und Instagram sprechen und gebärden junge Menschen mit Behinderung zu für sie relevanten Themen. Von total witzig bis hin zu sehr ernst. Die Themen kreisen um Dating, behindert feiern gehen, Selbstverteidigung im Rollstuhl, Inspiration Porn, Vorurteile bezüglich behinderten Sexualpartner*innen – Selbstverwirklichung, Selbstwahrnehmung und Erfahrungen mit der eigenen Behinderung.
Was mir beim Zuschauen, in Gesprächen mit den Protagonist*innen und dem Feedback der jungen Community auffällt: Viele (nicht alle) wollen keine Aktivist*innen sein. Und viele gehen mit einer großen inklusiven Selbstverständlichkeit an die Themen ihres Lebens: Selbstverwirklichung, Ausbildung, Job und Beziehungen.
Ich habe das Gefühl, es gibt hier einen Generationensprung – ganz ähnlich wie es Frauen in der Emanzipationsbewegung erlebt haben. So müssen Frauen heute selbstverständlich nicht mehr ums Wahlrecht kämpfen (behinderte Menschen bis vor kurzem durchaus!) – und fangen nicht bei Null an.
Viele behinderte Menschen in meinem Alter erlebten, immer der*die erste zu sein: die erste Schüler*in mit Behinderung in der Schule, in der es ansonsten nur nichtbehinderte Kinder gab, in der Ausbildung, im Berufsleben. Oder wurden komplett ausgeschlossen.
Und das ist heute nicht mehr unbedingt der Fall. Noch zu häufig – aber nicht so selbstverständlich, wie wir es damals erleben mussten.
Die nichtbehinderten Kinder einer Kollegin von mir gehen auf eine inklusive Oberschule. Natürlich haben sie behinderte und nichtbehinderte Freund*innen. Die Tochter hat einen besten Freund, der hochgradig schwerhörig ist und ein neues Hörgerät mit Bluetooth bekam. Per Passwort kann das Mädchen ihr Smartphone mit dem Hörgerät verbinden und spielt ihrem Freund – für Außenstehende nicht wahrnehmbar – Lieblingssongs und witzige Memes ins Hörgerät. Klar, dass die beiden dabei unheimlich viel Spaß haben. Und klar, dass hier ganz selbstverständlich Berührungsängste verschwinden oder gar nicht erst entstehen – und diese Erfahrungen Auswirkungen auf ihr ganzes Leben haben werden.

Ich erlebe mich und andere Mit-Aktivist*nnen zuweilen recht fixiert auf das, was eben noch nicht so richtig läuft. Und das ist auch gut und wichtig – denn es gibt eben noch zu vieles, das dringend verändert werden muss.
Trotzdem merke ich, wie wichtig der Blick auf die jungen behinderten Menschen ist – auf die Generation Inklusion 2.0 – für die einfach vieles schon selbstverständlich ist, die selbstbewusst und selbstverständlich Ihr Recht auf Teilhabe einfordern. Und dabei nicht die Verbitterung haben, die wir “alten” Aktivist*innen notgedrungen zuweilen entwickelten, weil es einfach schmerzt, immer und immer wieder an verschlossenen Türen rütteln zu müssen.
In der jungen Generation passiert allerdings auch immer wieder, was ich als Aktivist eher schwierig finde: Behinderte Menschen sorgen selbst für die Lösung der Probleme (Barrierefreiheit und co), die durch die Gesellschaft und falsche Strukturen produziert werden. Während ich verlange, dass es ein grundlegendes Umdenken in der Gesellschaft gibt, behindernde Strukturen durchbrochen und erneuert werden – macht sich die junge Generation auf den Weg und sagt: “Ich lasse mich nicht aufhalten.”
Und wie so oft liegen die besten Lösungen irgendwo in der Mitte.
Denn natürlich können wir nicht warten, bis die Strukturen durchbrochen und endlich gut geworden sind.

Noch heute ist es so: Je höher man sich in den Machtstrukturen bewegt, desto seltener trifft man Menschen mit Behinderung in Entscheider*innenpositionen. Und hier braucht es nach wie vor Aktivist*innen, die den Kampf aufnehmen, dabei aber auch den Spirit der nächsten Generation mit übernehmen: “Wir haben das gleiche Recht auf Entfaltung, wie alle anderen Menschen. Und zwar: Jetzt!” Und dafür braucht es gar nicht unbedingt neue Erfindungen, Creative Camps und Diversity-Konferenzen. Es müssen keine gigantischen neuen Technologien entwickelt, auf KI gehofft und Pflegeroboter gebaut werden.
Ich möchte nicht falsch verstanden werden: Ich selbst bin privat ein großer Fan von technischen Neuerungen und fasziniert von deren Möglichkeiten – aber es braucht sie nicht, um schon heute eine inklusive Welt zu schaffen.
Es geht vielmehr um eine gerechte Verteilung von Chancen. Wir haben Rampen, Blindenleitsysteme, Gebärdensprachdolmetscher*innen usw.
Es gibt schlichtweg gar keinen Grund mehr zu warten.

Darum: Teilhabe, jetzt!

Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit Suse Bauer erschienen.


Eine Antwort zu “Wir warten nicht mehr – Ein Blick auf die Generation Inklusion 2.0”

  1. Vielen Dank für die sehr kluge Beobachtung der verschiedenen Generationen.
    Ich bin psychisch krank und gehöre der älteren Generation an, sehe jetzt deutliche Fortschritte und genau was Du beschreibst.
    Die Lösung dazwischen stimmt auch meiner Meinung nach,Forderungen zu stellen mit Augenmaß, aber nachdrücklich.
    Insgesamt werden heute Behinderte mehr inkludiert in viele Lebensbereiche, aber eine Normalität und Selbstverständlichkeit ist nicht in allen Köpfen angekommen.
    Und da fängt die Inklusion an, wie Du in anderen Artikeln schon beschrieben hast.

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