Warum die Berliner Schulpolitik mal wieder ins Abseits steuert

Ein Schüler im Rollstuhl an der inklusiven Sophie-Scholl Schule in Berlin.
Foto: Andi Weiland, Gesellschaftsbilder.de

Der Senat von Bildungssenatorin Sandra Scheeres investiert in neue „Förderplätze“ für „Geistige Entwicklung“. Und verabschiedet sich damit von einer Inklusion, die bisher sowieso nicht ernst genommen wurde. 

Schon komisch, wie Meldungen hingenommen werden, als ginge es um die Übermittlung einer frohen Botschaft. „Mehr als 800 zusätzliche Plätze für Kinder mit geistiger Behinderung geplant“, schreibt der „Tagesspiegel“.  Ganz nutzwertorientiert heißt es weiter: „Diese Bezirke profitieren.“ Bleibt die Frage, ob auch die 800 Kinder davon profitieren.

Der Berliner Senat baut bestehende Förderschulen aus und begründet dies mit der gestiegenen Zahl von Schüler*innen mit geistiger Behinderung. Im Schuljahr 2009/10 besuchten 1896 Schüler*innen eine öffentliche Schule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, 2018/19 waren es 2426. Allerdings, so stellt auch der „Tagesspiegel“ fest, „stieg in dieser Zeit auch die Gesamtschülerzahl um etwa 40000 auf knapp 360000“.  Auffallend ist, dass im Artikel nichts über extra Lehrer*innen oder Lehrmittel für die 800 dazukommenden Schüler*innen erwähnt wird. Ist dafür auch Geld vorgesehen, oder werden tatsächlich nur neue modulare Klassenräume in den Förderschulen bereitgestellt? 

An dieser Stelle sei kurz vermerkt, dass die Bildungspolitik in Berlin seit Jahren im Dauerschlaf liegt. Dass Menschen die heute in Berlin geboren werden, sehr wahrscheinlich sechs Jahre später einen Schulplatz brauchen, scheint für Berlin ebenso verwunderlich. Dass Berlin eine attraktive Stadt ist, die Zuzügler*innen anzieht, wollte man partout auf der Kostenseite nicht zur Kenntnis nehmen: Mittlerweile gibt es einen Wettbewerb zwischen zu vielen Schüler*innen für zu wenige Schulplätze. 

So gesehen erscheint die Meldung mit den 800 neuen Plätzen als eine gute Nachricht, ist aber in Wirklichkeit das Eingeständnis, nicht wirklich an einer guten Bildung für alle Schüler*innen interessiert zu sein, auch wenn die Bildungsverwaltung eilig mitteilen lässt, der Platzausbau sei keine Abkehr von der Inklusion.

Doch. Das ist es!

Die neuen Investitionen zementieren ein altes Modell, während man das neue eh nicht richtig will.

Denn Inklusion an Berlins Schulen verfährt bisher nach dem typisch berlinerischen Schlendrian, wonach alles möglich ist, solange es nichts kostet: Von oben wurde schlicht beschlossen, dass Berliner Schulen Inklusionsschulen werden. Die Bundesregierung hatte ja die UN-Konvention zu den Rechten von Menschen mit Behinderung unterschrieben, und da steht auch etwas mit Anrecht auf Bildung für alle. Also hieß es in der Hauptstadt: Türen auf, aber “außer Spesen nichts jewesen” würde ein Berliner-Original sagen. Die Erfahrungen seitdem sind nicht so toll. Denn eine Inklusion, die verordnet wird, ohne die nötigen Mittel, Konzepte oder Personal, kommt nicht in den Köpfen an. Die Lehrkräfte haben zu exekutieren, ohne große Hilfestellung.

Also gab es Kritik aus der Elternschaft, als 2018 eine Sonderschule schließen sollte. Denn das Misstrauen gegenüber solch einer Inklusion auf dem Papier sitzt berechtigterweise tief.

Nun ist der Ausbau um 800 Plätze vorwiegend an Sonderschulen angeblich eine Antwort auf diese Kritik. „An meiner politischen Linie hat sich nichts verändert“, zitiert der „Tagesspiegel“ Bildungssenatorin Sandra Scheeres. „Ich war immer dafür, die Inklusion in Berlin behutsam und mit Augenmaß umzusetzen. Dabei waren mir Elternwille und Elternwahlrecht stets wichtig.“

Nun, Augenmaß hätte bedeutet, die Klassengrößen nach jeweiligem Bedarf auszurichten. Und behutsam wäre gewesen, die Ressourcen für eine Inklusion in Klassenräume in allgemeinen Schulen zu schaffen. 

Denn nun zu den Fakten:

Die gestiegene Anzahl der Schüler*innen mit geistiger Behinderung ist interessant. Bundesweit steigen sie auch. Aber: Die Anzahl der „schwer beeinträchtigten“ Menschen bleibt in Deutschland seit Jahren konstant. Nur jene mit einer Lernbehinderung werden mehr, und sie werden nun als „geistig behindert“ deklariert. Dabei gibt es den Förderbedarf “Lernen” in anderen Ländern nicht mal. Es ist, als müssten die geschaffenen Ressourcen der Sonderschulen gefüllt werden. Und so werden die Herausforderungen wegdelegiert, weg aus den Augen der Mehrheitsgesellschaft und hinein in die Sonderwelten.

Studien haben einhellig dokumentiert, dass ein gemeinsames Lernen für alle besser ist. Und dass an Förderschulen der Lernerfolg geringer ist. Kommen gerade viele Kinder mit Lernschwierigkeiten zusammen, passen sich alle an ein niedrigeres Niveau an, als wenn sie gemeinsam mit Kindern ohne Lernschwierigkeiten lernen.

Hat sich noch keiner gefragt, ob es nicht ein Skandal ist, dass seit Jahrzehnten so viele Schüler*innen die angeblich tollen Förderschulen ohne angemessenen Abschluss verlassen, kaum auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt  ankommen und in der Regel in Werkstätten landen, in denen sie dann für 180 Euro im Monat Arbeiten nachgehen?

Warum ist uns der Übergang von einer Sonderwelt in die andere prädestiniert und nicht der von der Sonderwelt ins reale Leben?

Eine echte Inklusion bricht diese verkrusteten Muster auf! Ich bin verdammt froh, dass ich das Glück hatte in einer allgemeinen Schule unterrichtet worden zu sein. Es eröffnete mir die Bildungschancen, die ich ergriff. Und es lehrte mir die Selbstverständlichkeit des gemeinsamen Lernens. So wie es Jahre später eine andere Schüler*innengeneration feststellte: Im Dokumentarfilm Kinder der Utopie wird dargestellt, wie ehemalige Schüler*innen ihren Weg nach der Schule gegangen sind. Er zeigt, wie sie Wünsche, Erwartungen, Herausforderungen und Ängste vorm Scheitern teilen – eben gemeinsam über das Leben reflektieren, das sie in einer Grundschulklasse für Kinder ohne und mit Behinderung einst teilten.

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Wer diesen Film sieht, spürt die Selbstverständlichkeit gegenseitigen Respekts. Und versteht nicht, warum der Berliner Senat das wenige Geld, das er für Bildung investieren will, dann noch an der falschen Stelle versenkt.

Update:

Ein weiterer Artikel zum Thema Elternwahlrecht:
Tweet entlarvt: Berlins Bildungssenatorin hat Inklusion und die Sache mit dem „Elternwillen“ nicht verstanden“ habe ich heir nochmal was aufgeschrieben.



3 Antworten zu “Warum die Berliner Schulpolitik mal wieder ins Abseits steuert”

  1. Guten Abend Raul Krauthausen, besten Dank für Deinen fulminanten Beitrag, den ich in allen Punkten teilen könnte, in fast allen Punkten teilen kann, aber es gibt eine Sache, die mich hemmt, unter den gegebenen Umständen eines eklatanten Lehrermangels, den ich nicht als Berliner Problem alleine sehe, bis auf das Problem der Nichtverbeamtung, wie auch angesichts des stärker empfundenen Rechtsruckes, den ich schon vor Jahren auch am Arbeitsplatz Schule zu spüren meinte, die Leute einfach „inklusiv“, ohne die Möglichkeit von Förderschulen und vielleicht doch auch „Schutzräumen“ zum Lernen und Arbeiten, „zusammen zu legen“.
    Hätte ich nicht selbst, zum Ende meiner Tätigkeit, als ich zunehmend litt unter den Anforderungen des Arbeitsalltages, der teilweise hämischen Kälte einiger Menschen um mich herum, mich verzweifelt an eine Förderschule gewendet, es war die Annedore Leber Schule damals, weil ich ganz einfach selbst das Bedürfnis nach einer „Zone“ hatte, von der ich hoffte, dieser dann irgendwie eher gewachsen zu sein, mich nicht mehr so „anders“ und „mangelhaft“ fühlen zu müssen, dann forderte ich vielleicht die Abschaffung aller Fördereinrichtungen.
    Vor meinem eigenen Hintergrund eines Menschen, der den harten Bedingungen, dem teilweise menschlich sehr rabiat geführtem Wettbewerb, und wenn es manchmal nur um kleine Dinge ging, vor der Realität kapitulieren musste, es einfach nicht mehr schaffte, den ruhigen Platz am Fenster, die Möglichkeit zu Laufen, die Freundlichkeit, die ich dringend brauchte nicht fand, obwohl andere sie vielleicht sahen, hier und da.
    Der Normalbetrieb war zu einer unüberwindbaren Hürde geworden, eine Lehrkraft kann dann nicht mehr, Schüler aber, möchten lernen, in Frieden und mit Freude.
    Persönlich habe ich für die kürzere bis mittlere Sicht keine Vorstellung, wie dies ohne Fördereinrichtungen gehen könnte.
    Ich finde nicht, dass Fördereinrichtungen schlecht sind für Inklusion, Fieslinge sind schlecht für Inklusion, ich kann persönlich sagen, dass Behutsamkeit in Bezug auf die Schwächsten in einer wirklich zerklüfteten Gesellschaft auch geeignet sein kann, den „Kindern der Utopie“ näher zu kommen.

  2. Danke Herr Krauthausen für den Artikel mit vielen wichtigen Seiten. Es fehlt leider der Blick aus den Förderzentren für geistige Entwicklung. Diese wurden im letzten Jahrzehnt zunehmend als letzter Zufluchtsort genutzt für Schüler*innen mit Beeinträchtigungen die nicht mit den inklusiven Schulformen zurecht kamen oder dort überhaupt keinen Raum sahen. Leider oft verkannt als Resteschule und vielerorts, mangels Lobby, auch so behandelt. Mittlerweile herrscht dort auch eine 27% Überbelegung für ganz Berlin. In Kombination mit weiteren zusätzlichen und vielen abgelehnten Schüler*innen sind nunmehr spezielle Modulare Ergänzungsbauten (MEB) scheinbar die Lösung des Problems. Leider nur von außen betrachtet, denn schon lange finden nur noch Schüler*innen mit einer höheren Förderstufe (1 oder 2) oder unter Klagedrohung den Weg in die Förderzentren. D.h. die angepriesenen 12×8=96 Plätze pro MEB sind oftmals nur 12×6=72 Plätze, hinzu kommen Ersatzbauten für marode Altbauten. Das sind dann schnell nicht mehr 800 zusätzliche Plätze, sondern nur noch 500-600 Plätze. Hinzu kommt, dass diese MEBs meist an bereits großen und überfüllten Förderzentren mit über 150 Plätzen gebaut werden, bei denen Fachräume als Klassenräume und Klassenstärken bis zu 10 Schüler*innen normal sind. In bester Weise nutzt man diese zusätzliche Kapazität zur Entspannung der prekären Situation. Dann sinkt die Zahl auf gerade mal 200 zusätzliche Plätze. In schlimmster Weise füllt man auch die MEB mit Schüler*innen und entlastet nur den äußeren Druck mit der Konsequenz nunmehr Monsterschulen mit über 200 Schüler*innen zu haben. Dies entspricht dann leider auch nicht mehr den Bedürfnissen der zunehmend mit Verhaltensproblemen belasteten Schüler*innen mit Förderbedarf Geistige Entwicklung. Die Folge sind weiterhin steigende immense Belastungen der Beschäftigten und mehr alltägliche Gewaltvorfälle bei zu hohen Klassenfrequenzen und Raummangel. Aber Hauptsache die Schüler*innen haben einen Platz. Grundsätzlich benötigt gerade Berlin eine flächendeckende Ausstattung mit Förderzentren in passender Größe bis maximal 150 Plätzen. Dies hieße nicht schnelle Aufblähung der bisherigen Förderzentren auf Kosten aller, sondern eine ortsnahe gewünschte Versorgung statt mittlerweile notwendiger Zwangsinklusion mangels freier Kapazitäten. Diese Förderzentren müssten dann nicht nur Mangelverwaltung betreiben, sondern könnten auch kooperativ mit den umliegenden inklusiven Schulen zusammen arbeiten und den notwendigen Wissens- und Erfahrungstransfer realisieren. Keine Diskreditierung von Förderzentren, wie oftmals medienwirksam und polemisch platziert, sondern gemeinsame Nutzung der langjährigen Erfahrungen und vorhandenen Ressourcen sollte das Ziel der bis dato streng getrennten Schulformen in Berlin sein.

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