Der letzte Strohhalm

Strohhalm
Umweltschutz ist gut und wichtig. Doch manche Ansätze sollten genauer geprüft werden, denn sie sind nicht zu Ende gedacht. Das Verbot von Plastikstrohhalmen ist ein Beispiel, wie gut gemeinter Aktionismus für Menschen mit Behinderungen zu riesigen Problemen führt.
2015 ging ein Video viral, das eine Meeresschildkröte zeigt, der unter Schmerzen ein zwölf Zentimeter langer Plastikstrohhalm aus der Nase gezogen wird. Was folgte, war eine Welle der Empörung: Plastikstrohhalme in unseren Ozeanen, die Ökosystem und Meeresbewohnern schaden, gehen gar nicht. Der Trinkhalm wurde zum Symbol für die etwa 700 Kilogramm Plastikmüll, die pro Sekunde in den Weltmeeren landen. Doch nun soll damit Schluss sein. Anfang des Jahres verkündete die EU, dass neben Halmen auch Einwegbesteck und Teller aus Plastik ebenso wie Ballonhalter verboten werden sollen. Auch außerhalb Europas verbannen Unternehmen und ganze Städte die umweltverschmutzenden Kleinteile.
Es stimmt, dass Plastik mittlerweile zu einem riesigen Problem geworden ist. Es ist billig, wird achtlos weggeworfen, verrottet nicht und führt zu massiver Umweltverschmutzung – für deren Folgen die Schildkröte aus dem Video nur ein Beispiel ist. Dass nun jedoch ausgerechnet der Strohhalm verboten werden soll, greift zu kurz. Zwar sind die Trinkhilfen unter den Gegenständen, die am häufigsten an Stränden gefunden wurden, in ihrer Gesamtheit machen sie allerdings nur einen geringen Anteil der bis zu 13 Millionen Tonnen Plastikmüll aus, die jährlich in den Ozeanen landen.

Außerdem lässt ein Verbot vollkommen außer Acht, dass Strohhalme für manche Leute nicht nur Schnickschnack im Cocktailglas sind, sondern lebenserleichternde und notwendige Alltagshelfer.

Dass nun jedoch ausgerechnet der Strohhalm verboten werden soll, greift zu kurz

Tatsächlich gibt es viele Menschen mit bestimmten Behinderungen, für die ein Strohhalm essentiell ist, um eigenständig zu trinken. Entweder, weil sie ihre Arme nicht bewegen können oder vom Hals an abwärts gelähmt sind, weil sie an Parkinson erkrankt sind, ihre Hände zittern oder sie eine Spastik haben. Ohne Strohhalm bleibt das Getränk unerreichbar oder wird verschüttet. So ein einfacher Gegenstand, wie ein Strohhalm bedeutet für diese Menschen Selbstbestimmung.

Warum denn kein Papier, Bambus oder Silikon?

Wer jetzt nach umweltfreundlichen Alternativen ruft, wird schnell merken, dass diese keine wirkliche Optionen sind. Metallstrohhalme lassen sich nicht biegen. Sie bergen ein Allergierisiko oder sogar eine Verletzungsgefahr. Denn wenn jemand eine Spastik hat, schneidet er sich daran den Mund auf oder beißt sich einen Zahn aus. Wie gefährlich Halme aus Glas in einem solchen Fall wären, bedarf wohl kaum einer Erklärung. Bambus ist ebenfalls unflexibel und zudem sehr teuer. Silikon wird schnell unhygienisch und so biegsam es ist, der Knick bleibt nicht bestehen. Und was ist mit Papier? Ebenfalls unflexibel. Zudem lösen sich die Halme nach kurzem Gebrauch auf und bergen so ein zusätzliches Verschluckungsrisiko. Heiße Getränke werden zur Gefahr und funktionieren auch mit Acryl- oder Pastastrohhalmen nicht. Plastikhalme sind immernoch die beste Lösung. Sie sind günstig, hygienisch, mehrfach verwendbar, sie haben – im Idealfall – einen Knick, bergen kein Verletzungsrisiko und lassen sich mit den Zähnen problemlos festhalten. Für viele Menschen mit Behinderung gibt es also keine wirkliche Alternative. Nichtbehinderte, die immer wieder auf eine solche hinweisen, versetzen sich nicht in die Lage von behinderten Menschen. Diese müssen sich wieder einmal rechtfertigen oder stehen im schlimmsten Fall als Umweltsünder da.

Plastikhalme sind immernoch die beste Lösung

Auch der Ansatz, dass Plastikstrohhalme in Restaurants grundsätzlich verboten sind, für diejenigen, die sie benötigen, aber auf Nachfrage herausgegeben werden sollten, ignoriert einmal mehr die Benachteiligung in unserer Gesellschaft. Denn wieder müssen Menschen mit Behinderung danach fragen, nehmen die Position des Bittstellers ein und brauchen eine vermeintliche Extrawurst. Das fühlt sich nicht gut an und kommt im Alltag ohnehin schon oft genug vor.

Vielmehr sollte doch eine Umgebung geschaffen werden, die auf Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen ausgelegt ist – auch, wenn das ein paar Plastikstrohhalme mehr bedeutet.

Wir sollten Aktionismus hinterfragen

Wie wäre es denn beispielsweise, wenn man das Personal dahingehend schult, dass sie jeden Gast – ob mit oder ohne ersichtliche Behinderung – fragen, ob sie zum Getränk einen Strohhalm haben möchten? Es wäre ein recht geringer Aufwand, der denjenigen, die auf das kleine Utensil angewiesen sind, viel Selbstbestimmung und Würde zuspricht.
Ja, Umweltschutz ist gut und wichtig. Und ja, unsere Gesellschaft muss den Plastikverbrauch sowie ihren CO2-Ausstoß reduzieren, sollte sich für den Nutzen von regionalen Lebensmitteln und gegen Massentierhaltung stark machen. Aber manchmal sollten wir Aktionismus hinterfragen. Denn momentan ist das Strohhalm- Feuchttücher und Wattestäbchenverbot nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Politiker können sagen, sie hätten etwas für den Umweltschutz getan, ohne an den wirklich großen Stellschrauben (man denke an die Autoindustrie, Schifffahrt usw.) zu drehen.

Wer bei diesem Thema einmal mehr als Randgruppe behandelt und vollkommen außer Acht gelassen wird, sind die Menschen mit Behinderung. Sie wollen ihren Cocktail nicht mit einem Strohhalm schlürfen, weil sie Meeresschildkröten hassen. Sie sind darauf angewiesen und wollen ein selbstbestimmtes Mitglied dieser Gesellschaft sein. Diesen Aspekt sollte man, bei aller Emotionalität der Debatte nicht außer Acht lassen.


Dieser Artikel ist zuerst in leicht abgewandelter Form bei Mit Vergnügen erschienen.
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14 Antworten zu “Der letzte Strohhalm”

  1. Ein sehr guter Beitrag, der wieder einmal zeigt, wie kurzsichtig viele politische Überlegungen doch sind! Blinder Aktionismus ist nicht immer die beste Reaktion auf wirklich dringende Probleme.
    Kunststoffe sind eben doch nicht pauschal zu verdammen, sie können auch einen wichtigen Beitrag in vielen Bereichen des täglichen Lebens leisten. Das Ganze sollte jedoch wirklich sinnvoll sein und nicht verschwenderisch.
    Und als eines der größten Probleme sehe ich diejenigen, die ihren Müll achtlos in die Landschaft werfen. Hier besteht massiver Handlungsbedarf!
    Also einfach mal nachdenken und bei MacDonalds das Getränk ohne Plastikdeckel und Strohhalm nehmen und den Becher hinterher in den Mülleimer bzw. auf dem Tablett zurückgeben und nicht achtlos auf die Straße werfen!
    Wenn jeder sorgsamer mit der Umwelt umgeht, können wir schon einen guten Beitrag leisten, aber die großen sind auch gefragt!

  2. Vielen Dank für diesen Beitrag! Ich gebe zu, dass ich so weit nicht gedacht habe, als ich von dem Plastikhalm-Verbot hörte. Aber mein erster Gedanke dazu war eben auch, dass das wohl kaum die Natur vor den Plastikmüll-Ozeanen retten wird. Also ich hoffe, dass sich der Vorschlag durchsetzen kann, statt eines Verbots die Strohhalme auf Wunsch zu vergeben und nicht automatisch wie Konfetti zu verteilen, dito Becherdeckel usw. Klar müssen wir alle endlich umdenken – aber bitte auch Industrie und Handel, das wäre nämlich noch weitaus effektvoller. Naja. Da werd ich mal Plastehalme bunkern für alle Fälle, falls sich mal wieder die Vernunft nicht durchsetzen sollte 😉

  3. Da sieht man wohin dieser Aktionismus führen kann. Besonders die Politiker und die Verantwortlichen der Umweltverbände sollten verpflichtet werden einen Monat lang eine Assistenzstelle bei einem der Betroffenen mit einer stark ausgeprägten Spastik anzutreten.
    Fakt ist, dass diese Verantwortlichen das Pferd von hinten aufzäumen. Bei aller Dringlichkeit etwas für die Umwelt zu tun, sollte mit mehr Augenmaß gearbeitet und auch mal über den eigenen Tellerrand geschaut werden.

  4. Es existieren bereits Alternativen aus „Bio-Plastik“ – also aus Pflanzen-Stärke. Diese sind aus nachwachsendem Rohstoff hergestellt, biologisch abbaubar, und bringen quasi die gleichen Eigenschaften mit wie Plastik.
    Dieser Hersteller verkauft flexible und gerade Strohhalme: https://www.bio-strohhalme.com/bio-pot/ Wahrscheinlich sind sie etwas teurer als Plastikartikel – und somit nicht so weit verbreitet. Aber das (sinnvolle) Verbot von Einwegplastik wird sicher zu mehr Konkurrenz auf dem Markt führen.
    Persönlich sehe ich das EU-Verbot nicht als Aktionismus an, sondern als einen notwendigen Schritt in die richtige Richtung.

  5. […] Auf die zweite Frage möchte ich nur kurz eingehen, weil es dazu schon mehrere Artikel gibt: Was sind eigentlich richtig gute Alternativen zum Plastikstrohhalm? Ich benötige zum Beispiel Strohhalme, die knickbar sind. Damit sind Glas und Metal schon raus. Papier und Nudeln (ja, Nudeln!) halten keine Hitze aus. Silikon, Bambus und Co. sind teilweise nicht geschmacksneutral und teuer zudem. Wer sich über dieses Thema näher Infomieren möchte, kann bei Twitter zum Beispiel unter dem Hashtag #strawban schauen oder bei bei Raul Krauthausen weiterlesen. […]

  6. Die meisten „Behinderten“ brauchen keinerlei Strohhalme. Falls einige „Behinderte“ – wohl eher: ganz spezifische, eng umgrenzte Personengruppen – Plastikstrohhalme brauchen sollten, soll und wird man da schon Ausnahmeregelungen entwickeln. Oder andere Produkte entwickeln. Es kann jedenfalls nicht sein, daß europäische Läden gut bestückt für jedermann sind und Massen an Strohhalmen für Partys oder Kindergeburtstage verkaufen, nur damit auch einige wenige spezifische Körperbehinderte dort einkaufen können.
    Es gibt für die, die es brauchen, auch Methadon und Methylphenidat… es kommen Menschen mit Herzschrittmacher durch Flughafenkontrollen… Blindenhunde dürfen Sehbehinderte bis in Behörden oder ins Parlament begleiten… usw. usw. Deswegen geben wir aber nicht alle Drogen frei, geben Flughafenkontrollen auf oder laden sämtliche Haustiere in sämtliche öffentlichen Gebäude ein.
    Also bitte Regelungen mit Augenmaß und keine Panikmache gegen überfällige Beschränkungen, nur weil dazu halt Sonderregeln für Sonderbedürftige nötig werden.

  7. Den langen Beitrag über Strohhalme las ich mit Interesse.
    Der Beitrag hat allerdings einen gravierenden Verständigungsfehler:
    Bei der ganzen Debatte ging es nicht um Strohhalme, die gibt es über 50 Jahre nicht mehr. Es ging um Trinkhalme aus Plastik und nicht um Trinkhalme aus Stroh.
    Aber es wäre überlegenswert, wieder richtige Strohhalme zu produzieren,
    das wäre Einnahmequelle für Landwirte!

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