“Inklusion ist ein Recht” – im Gespräch mit Yetnebersh Nigussie

Im Zusammenhang mit der Verleihung des Alternativen Nobelpreises habe ich Yetnebersh Nigussie getroffen und zu verschiedenen Fragen rund um die Thematik Behindertenrechte interviewt. Unter anderem sprachen wir über Bildungsgerechtigkeit.

Yetnebersh Nigussie
Yetnebersh Nigussie ist Rechtsanwältin, Menschenrechtsaktivistin und Inklusionsbotschafterin für die Organisation “Light for the World”.
2017 erhielt sie den Alternativen Nobelpreis für „ihre inspirierende Arbeit, die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu stärken“.
In der UN-Behindertenrechtskonvention, die auch Deutschland unterzeichnete, steht eindeutig im Artikel 24:

(1) Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen (…).
Bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Vertragsstaaten sicher, dass
a) Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden und dass Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom
Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden;
b) Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben. (…)
d) Menschen mit Behinderungen innerhalb des allgemeinen Bildungssystems die notwendige Unterstützung geleistet wird, um ihre erfolgreiche Bildung zu erleichtern.

Inklusionsgegner wie u.a. der Gymnasiallehrer Michael Felten meinen in der Formulierung ”integratives Bildungssystem” ein Argument für den Erhalt der Förderschulen zu erkennen, übersehen allerdings, dass es sich hier um die deutsche Übersetzung handelt. Im Original der UN-Behindertenrechtskonvention steht eindeutig: „Persons with disabilities can access an inclusive, quality and free primary education (…).“
In der französischen Version findet sich ebenfalls “inclusif”.
Zu diskutieren, ob Inklusion an Schulen gescheitert ist, ist der vollkommen falsche Ansatz. Tatsächlich geht es darum, Bildungsgerechtigkeit endlich umzusetzen: Für alle Schüler*innen.
Inklusion als Bildungssparmaßnahme auszunutzen, wie es aktuell nicht selten passiert, ist nicht nur der falsche Weg, sondern ein klarer Verstoß gegen die UN-Behindertenrechtskonvention, die ebenfalls im Artikel 24 fordert:

(4) Um zur Verwirklichung dieses Rechts beizutragen, treffen die Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen zur Einstellung von Lehrkräften, einschließlich solcher mit Behinderungen, die in Gebärdensprache oder Brailleschrift ausgebildet sind, und zur Schulung von Fachkräften sowie Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen auf allen Ebenen des Bildungswesens. Diese Schulung schließt die Schärfung des Bewusstseins für Behinderungen und die Verwendung geeigneter ergänzender und alternativer Formen, Mittel und Formate der Kommunikation sowie pädagogische Verfahren und Materialien zur Unterstützung von Menschen mit Behinderungen ein.

Dass Deutschland sich hier bisher nicht an die Richtlinien hält, hat auch der UN-Ausschuss bemerkt und weist Deutschland bereits 2015 an:

Immediately develop a strategy, action plan, timeline and targets to provide access to a high-quality, inclusive education system across all Länder, including the required financial resources and personnel at all levels.

Deutschland soll also umgehend eine Strategie, einen Aktionsplan und Zeitplan sowie Ziele entwickeln, wie in allen Bundesländern ein hochwertiges inklusives Bildungssystem umgesetzt werden kann. Dass es dafür sowohl die notwendigen Mittel als auch das entsprechende Personal geben muss, ist Teil der Forderung.
So langweilig diese juristischen Texte sein mögen – es ist doch wichtig darauf hinzuweisen, was die UN hier von den Vertragspartnern fordert, die dem Abkommen per Unterschrift zugestimmt haben. Und es ist wichtig klarzustellen, dass Deutschland hier bisher gegen die UN-Behindertenrechtskonvention verstößt, wenn Schul-Inklusion als Bildungs-Sparmodell umgesetzt wird.
Was zur Zeit passiert ist, dass die Inklusions-Diskussion auf den Schultern behinderter Schüler*innen ausgetragen wird. Lernende mit Förderbedarf sollen nun angeblich Schuld am Ruin des Bildungssystems sein.
Unter diese Form der Diskursverschiebung muss ein klarer Schlussstrich gezogen werden. Spätestens seitdem Deutschland der UN-Behindertenrechtskonvention zustimmte, geht es nicht mehr darum, ob Inklusion an Schulen stattfindet, sondern wie Bildungsgerechtigkeit für alle Schüler*innen umgesetzt werden kann: Wie die Finanzierung stattfindet, welches Personal benötigt und wie möglichst nachhaltig das Problem des Lehrkräftemangels gelöst wird.
Momentan werden Lehrer*innen an die Grenzen der Belastbarkeit getrieben, zahlreiche Brandbriefe weisen auf höchst problematische Situationen an Schulen hin. Guter Wille der Lehrkräfte reicht nicht aus, um Inklusion umzusetzen. Und es wird auch kein Trick oder schnell wirkender Mechanismus helfen, allen Kindern Deutschlands gerechte und gute Bildungschancen zu ermöglichen.
Die Politik muss endlich realistische Finanzierungskonzepte für den Bereich Bildung entwickeln.
Eine Initiative von rund 200 namhaften Pädagogen*innen startete aktuell eine Petition mit der Idee, einen Bildungsrat aus Experten*innen für Bildungsgerechtigkeit zu gründen. Sie fordern unter anderem: “Inklusion ist die Aufgabe aller Schulen: Alle Kinder müssen mitgenommen, nicht abgeschult werden.”
Eine Petition allein löst keine Probleme, aber kann den Finger in die Wunde stecken.
Bildungsrat für Bildungsgerechtigkeit bei change.org.
(sb)
Dieser Artikel entstand in Zusammenarbeit mit Suse Bauer.
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Foto: Suse Bauer



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