Investigativ geht anders

Raul Krauthausen mit Handy in der Hand

Auch für mich als öffentliche Person gilt: Das Recht auf Privatsphäre sollte selbstverständlich sein. Warum muss ich trotzdem mehr darum bitten als andere?
Trüge ich einen Schlips, ich fühlte mich wohl öfters auf ihn getreten. Dabei beginnt es meist mit Nettigkeiten, mit offen gezeigter Neugierde. Ich spreche von Gesprächen mit JournalistInnen, die von meiner Seite aus dazu dienen, Auskunft zu geben. Meist drehen sich diese um Themen der Inklusion und der Barrierefreiheit. Doch dann geht es los.

„Was haben Sie eigentlich genau?“

Gerade hatte ich dem Gegenüber erklärt, wie viele Berliner U-Bahn-Stationen noch immer ohne Fahrstuhl sind, welche Probleme Behörden für Menschen mit Behinderungen bereithalten, ich war richtig in Fahrt – und nun fühle ich mich überrollt. Soll ich ehrlich sein und antworten: „Inwiefern ist das jetzt wichtig? Ich frage Sie ja auch nicht, ob Sie homo- oder heterosexuell sind.“

Besser nicht. Ich versuche es dann mit einem knappen Spruch wie „Ich habe Glasknochen“, aber das beflügelt die Fantasie mancher recherchierenden ZeitgenossInnen nur noch mehr.

„Glasknochen, wie habe ich mir das vorzustellen? Erzählen Sie mal! Wie oft haben Sie sich schon was gebrochen?“

Doch ich will jetzt nicht erzählen. Natürlich, mittlerweile kenne ich mich bei meiner Behinderung recht gut aus, ich könnte auch einen medizinischen Vortrag vor Fachpublikum darüber halten, oder wenigstens so tun als ob. Aber wir waren doch gerade bei Inklusion und Barrierefreiheit, oder? Plötzlich beschleichen mich zwei grundsätzliche Gedanken. Hat die/der InterviewerIn, erstens, kein Internet in der Redaktion, um die Antworten auf solche Fragen rasch zu ergooglen? Und geht es der Person, zweitens, vielleicht um die Befriedigung eines gewissen Voyeurismus? Für wen? Den eigenen? Aber muss man das multipliziert an die LeserInnen und HörerInnen weitergeben?

Diese Situationen erlebte ich häufig, und sie ermüden mich nicht nur. Sie verletzen meine Privatsphäre. Denn einem investigativen Zweck dienen solche Fragen kaum. Sie lenken vielmehr ab vom wesentlichen Thema.

Meine Behinderung ist nicht tragisch – der Umgang damit schon

Man kann sich an dieser Stelle vielleicht wundern, ob ich mich gerade anstelle, etwa ein Sensibelchen bin. Das mag sein, ist aber eine andere Debatte. Ich versuche es mit einem Bild: Wenn ein/e GewerkschaftsvertreterIn für einen Betrieb eine Lohnerhöhung fordert, dann würde die Frage „Hatten Ihre Eltern in Ihrer Kindheit eigentlich viel Geld?“ etwas überraschen. Oder wenn eine Ärztin für die Einführung einer gewissen OP in der städtischen Klinik plädiert, erwartet sie nicht von Lokalreporterseite die Frage: „Sind Sie gläubig?“

Derartige Fragen sind deplatziert. Auch wenn sie nicht anlasslos sein mögen. Schließlich bittet mich der/die JournalistIn ja nicht um ein Interview über die medizinischen Hintergründe von Osteogenesis imperfecta, wie meine Behinderung im Fachjargon heißt. Ich wehre mich prinzipiell ja auch nicht dagegen, darüber zu sprechen. Mich stört nur das Manövrieren einer gesellschaftlichen Angelegenheit auf die individuelle persönliche Ebene. Barrierefreiheit aber ist eine Aufgabe für uns alle. Geht es am Ende um meine Glasknochen, privatisiert sich das Anliegen und ich bin wieder der „Besondere“. Doch so ist es nicht. Schließlich ist meine Behinderung kein tragisches Momentum, sondern eine zu meisternde Situation und genau genommen deswegen eine Behinderung, weil ich einer Minderheit angehöre. Die Ausrichtung öffentlicher Strukturen und Institutionen auf die Mehrheit hindern mich und andere, die wie ich sind, an einer umfassenden gesellschaftlichen Teilhabe.

Sicher, vielleicht tue ich den armen JournalistInnen Unrecht, womöglich meinen sie es nicht so. Aber man muss nicht diskriminierend gesonnen sein, um diskriminierend zu reden. Worte haben eine perfomative Wirkung. Sie verändern die Realität oder zumindest unsere Wahrnehmung davon.

Nicht wenige JournalistInnen tendieren dazu, eine Sachlage anhand einer Person zu erzählen. Die Taxifahrerin steht dann stellvertretend für ein Land, oder eine Demonstrantin für die Frage einer gerechten Besteuerung von X oder Y. Aber was in der Welt geschieht, lässt sich nicht immer zu einer einzigartigen Erzählung verdichten. Viele ReporterInnen erfahren derart viel von ihren Gesprächspartnern, dass der Stoff entweder erfunden sein muss oder ich bei dem Gespräch lieber nicht dabei gewesen wäre, so intim müssen die Fragen gewesen sein! Zeit sich fremdzuschämen bleibt selten, man soll ja den investigativen Einsatz anerkennen. Doch würde ein/e ReporterIn ähnliche private Fragen zu sich selbst erdulden?

Es gibt Grenzen zwischen Menschen. Sie zu respektieren sollte normal sein. Niemand muss sich deswegen befangen fühlen oder Themen tabuisieren. Aber für alles gibt es eine Zeit und den richtigen Ort.

Dieser Artikel ist unter der Kolumne
"Krauthausen konsequent" auf sagwas.net zuerst erschienen.


4 Antworten zu “Investigativ geht anders”

  1. Danke Raul Krauthausen,
    ich kann mich da hinein versetzen, obwohl meine Situation eine andere ist, eigentlich immer war, aber das nahm ich nicht so wahr lange Zeit, es ging auch.
    Ich denke heute oft an eine Matheklausur – Präpaedeutik-Schein – Wirtschaftswissenschaften.
    Ich saß 5 Stunden vor der Klausur und kam nicht zurecht, bis auf eine Aufgabe, die kriegte ich hin.
    Klar fiel ich durch die Klausur. Da ich aber für mein angestrebtes Englandstudium Referenzen brauchte, mehrere und ich kannte aber nur einen etwas besser, ging ich zu diesem, einfach weil er mir gutmütig vorkam, ich dachte, das klappt vielleicht, so war es auch.
    Aber klar, die Durchfaller-Klausur kam zur Sprache. Wieso konnten sie denn ausgerechnet die schwierigste Aufgabe, die anderen aber nicht, fragte er?
    Ich hatte darauf keine Antwort, aber es geht mir oft so, ich kann irgendetwas plötzlich super gut, aber die anderen Sachen nicht, ich schrieb Note 1 und Note 5 in kurzen Wechseln, ich kenne bis heute kaum jemanden aus meinem Bekanntenkreis, der so ein Durcheinander fabrizierte, notentechnisch. Im Durchschnitt ist das immer unauffällig, eine mainstreamige 3, da schlägt keiner Alarm wegen und ich auch nicht.
    Trotzdem habe ich den Eindruck, als böse, egozentrisch zu gelten, einfach weil ich mich nicht auf so viele verschiedene Gebiete einlassen kann, meine „Steckenpferde“ habe, die ich mir aber letztlich ja nicht mit böser Absicht so zurecht gelegt habe, wie sie da sind.
    Mir tun diejenigen leid, die in ähnlicher Lage sind wie ich, aber nicht so geschickte Sprachhandwerker sind wie ich, Sprache ist ein Instrument, sich zu behaupten, aber auch zu werben für sich, für seine Schwächen, für die eigenen Anliegen.
    Es ist aber eben auch doof, immer Sprachakrobatin „Schön“ machen zu müssen, um das an Anerkennung zu bekommen, was „normale“ Menschen auch ohne die ganze Wortklimmzieherei bekommen.
    Ich bin ehrgeizig und lasse mich auf die alte Wortturnerei immer wieder ein, ja ja.
    Bei Social Media habe ich mich wieder mögen gelernt, längere Zeit war ich mir gram wegen dem wie ich bin. Das ist vorbei, es ist auch schön, dass ich nicht Team sein muss, sondern einfach Ich sein kann hier.
    Social Media ist so gesehen, nach meiner Erfahrung, der inklusivere Ort, denn es geht da nicht um die Verteilung von „Fellchen“, aber auch um die muss es gehen, und deshalb müssen mehr behinderte Menschen in die Parlamente, nicht als gelegentliche Ausstellungsmenschen, sondern als Mandatsträger, das ist ganz wichtig.

  2. Wir Menschen mit einer Behinderung werden als erstes von vielen Menschen über die Behinderung definiert. Dabei ist sie nur eine unserer vielen Eigenschaften. Ich werde sehr oft, sobald mir jemand hilft, sofort über meine Blindheit befragt. Die Menschen beginnen, während sie mit mir z.B. fünf Minuten von einer Straße zur U-Bahn gehen, die Situation für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Das ist anstrengend, weil ich selbst nicht dauernd an meine Blindheit denke und auch nicht denken möchte. Es ist eine gewisse Sensationslust, die für viele normal zu sein scheint. Als ich mal einer Dame sagte: „Wenn ich an einer Haltestelle stehe und mir begegnet ein Rollstuhlfahrer, geh ich nicht zu ihm hin, um ihn zu fragen, seit wann und warum er im Rollstuhl sitzt. Genauso möchte ich als blinde Person nicht ständig auf meine Blindheit angesprochen werden. Wir haben alle eine Privatsphäre.“ Die Antwort der Dame lautete: „Aber sie haben eine sichtbare Privatsphäre.“ Was ist denn eine sichtbare Privatsphäre? Und dann ging es weiter: „Schließlich haben wir Ihnen ja geholfen, das Gleis zu wechseln.“ Muss ich, weil mir jemand hilft, als Gegenleistung Rede und Antwort stehen? Ich finde, ich muss das nicht. Leider unterscheiden sich Journalisten nicht von anderen Menschen, nur dass sie das, was sie erzählt bekommen, aufschreiben möchten. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Du von ihnen auf Deine Behinderung angesprochen wirst, aber es ist ärgerlich und anstrengend, genau wie auf der Straße darauf angesprochen zu werden.

  3. Ich habe eine Behinderung, ja, aber wenn ich im gesellschaftlichen Diskurs meinen Willen erkläre, hat dies ja nichts mit meiner Behinderung zu tun.
    Ich fordere inklusive Bildung, eine freiheitliche Bildung, die die Menschen befähigt, freie Menschen zu sein, die das Handwerkszeug der Demokratie benutzen lernen, um sich selbst die Demokratie nützlich machen zu können.
    Das ich das will, dafür plädiere, dafür schreibe, ist unabhängig davon, dass ich einen Knacks habe, den Knacks habe ich, ich habe kein Problem, von mir aus darüber zu reden oder zu schreiben.
    Sauer würde ich aber, wenn man meinen Debattenbeitrag durch den Verweis auf meinen Knacks als minderwertig gegenüber anderen Debattenbeiträgen würdigen wollte und meiner Sichtweise, meiner Stimme, weniger Gewicht beimessen wollte, als dies für andere Menschen, die als „knackslos“ gelten, der Fall wäre.
    In der Vergangenheit habe ich das wohl erlebt, weshalb ich mich bis heute vor dem Schulalltag fürchte – ich wurde als nicht normal angesehen, was ich sagte, wurde unter „nicht normal“ abgetan, nicht mehr wichtig genommen. Das war schrecklich, die schrecklichste Erfahrung meines Lebens.
    Heute darf ich mich bei Social Media einbringen, wie es mir entspricht, die erste Zeit vor etwa 2,5 Jahren waren viele Trolle unterwegs, die mich genauso abtaten, wie zuvor das im Schulalltag war.
    Heute ist Frieden eingekehrt – aber nur für mich und das reicht mir nicht. Es muss selbstverständlich sein, dass jeder Mensch, jeder Mensch seine Wünsche, seinen Willen in die Gesellschaft einbringen darf und dies für die Gesellschaft immer lehrreich ist und nicht als Bürde oder als Ausdruck charitativer Großzügigkeit angesehen wird.
    Deshalb: Heraustreten aus dem „Behinderungsreservat“ und sagen – ich bin genauso frei wie du! Mach Dir das klar! Dazu möchte ich jeden Behinderten ermutigen.
    Mich ermutigten die handgepflückten Links bei Raul Krauthausen und sowieso die Twitterwelt.
    Herzlichen Dank ALLEN!

  4. Ich bin als Inklusionsmensch international unterwegs. Die erste Tomate begegnete mir durch eine Erzählung meines Großonkel Hermann Moschner, der als junger Mann bei einem Autohersteller in Niedersachsen arbeitete, ein Kollege von ihm führte ihn in die Geheimnisse der Pasta mit Tomatensauce ein. Großonkel Hermann zog ins Münsterland, um eine katholische Frau zu finden, was in Niedersachsen schwieriger gewesen wäre und so kochte meine Oma ihm und auch meiner Mutter manchmal die Nudeln mit Tomatensauce nach dem Rezept, das er aus Niedersachsen mitgebracht hatte nach. Meine Mutter mochte die Tomatensauce nicht und so lernte ich sie auch nicht kennen, auch keine Pizza. Die erste Pizza lernte ich in einer amerikanischen TV-Serie kennen – “ Eine amerikanische Familie“, die Kinder saßen regelmäßig im Schneidersitz auf den Betten und bissen in Dreiecke, die sich Pizza nannten. Weil meine Mutter die Tomatensauce nicht mochte, gab es bei uns auch keine Pizza.
    Meine Freundin und ich entdeckten in der Schulpause schöne Sachen in der kleinen Stadt – Sachen, die es im Dorf nicht gab, z. B. eine Pizzeria, für 10 Mark konnten wir uns eine Pizza bringen lassen und einen Lambrusco, außerdem wurden wir hier wie Signoritas behandelt – mit prego, grazie, wenn nicht unsere Augen auch noch unglaublich schön gefunden wurden.
    Wir fühlten uns erwachsen, niemand würde uns je können, und den Mief zu Hause mit Gulaschkanonon und schießendem Kopfsalat glaubten wir uns schon von der Backe geschafft zu haben, wenigstens an diesen kleinen Ausflügen glaubten wir das.
    Ich glaube bis heute daran, dass man frei leben kann, wenn man will, aber man kriegt es nicht geschenkt, sich zu emanzipieren, die Bildung sich emanzipieren zu dürfen, die sollte man schon geschenkt bekommen, von seinem Staat.
    Ich hätte das Tomatenthema fast vegessen gehabt, ich wollte es noch gerne nachreichen.
    Damit ist es gut für heute!

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