Lieben und lieben lassen


Sex und Behinderung schließen sich nicht aus. Doch die Mehrheit unserer Gesellschaft tut sich damit noch schwer, scheint es.
Jeder Mensch hat ein Recht darauf, seine Sexualität erfüllend auszuleben. Natürlich gilt das auch für Menschen mit Behinderung.
Obwohl unsere Gesellschaft in vielen Bereichen stark sexualisiert ist, kaum eine Werbung ohne erotische Elemente auskommt, man sich öffentlich über den Sex mit seinem Tinder-Date austauscht, ist der Sex mit und von Menschen mit Behinderung nach wie vor ein Tabu-Thema.
Und auch ich habe das regelmäßig erlebt. Ich bin ein sehr aufgeschlossener Mensch und habe einen großen Freundes- und Bekanntenkreis, viele Kontakte zu potentiellen Sexualpartner*innen. Aber meine Rolle war und ist in den meisten Fällen fast automatisch der des guten, besten Freundes. Immer, wenn ich flirtete, nahm ich eine Art Verwirrung wahr – als wäre meinem Gegenüber erst in diesem Moment klar geworden, dass auch ich ein sexuelles Wesen bin.
Die Zeiten, in denen man Menschen mit Behinderung ihr Bedürfnis nach Sexualität von Vorneherein abgesprochen hat oder versuchte, sexuelle Bedürfnisse im Keim zu ersticken, sind zum Glück vorbei. Grundsätzlich gesteht man behinderten Menschen durchaus zu, dass sie ihr Verlangen nach Sexualität ausleben. Allerdings am besten außerhalb der Mehrheitsgesellschaft.

Sex ist Teil meiner Identität

Und so gibt es dann auch extra Kennenlern-Portale für Menschen mit Behinderung. Denn Dating-Seiten der Mehrheitsgesellschaft sind von vornherein nicht darauf ausgerichtet, dass behinderte Flirtende sich dort auf Partner*innensuche begeben. So gibt es zwar unzählige Details, die man für sich oder seine Suche anklicken kann – dick, dünn, groß, klein, lange Haare, blaue Augen, sexuell dominant oder fetischinteressiert, tierlieb, Nichtraucherin, reiselustig oder Stubenhocker, Tangoliebhaber oder Motorradfahrerin. Aber das Detail “behindert” ist üblicherweise nicht dabei.
Ein Versuch, sich dem Thema anzunähern, ist, die Befriedigung der Bedürfnisse behinderter Menschen auf professionelle Weise zu bedienen – eben auf die gleiche professionell-distanzierte Art, wie Assistenz beim Waschen, Ankleiden, Kochen, Türen öffnen usw. stattfindet: durch sogenannte Sexualassistent*innen, die behinderte Menschen sexuell befriedigen. Es gibt die Forderung, dies sogar als Kassenleistung anzubieten.
Zunächst klingt das nach einer guten Idee und verspricht auch einen grundsätzlich unproblematischen Umgang. Aber ist das Bedürfnis nach gelebter Sexualität tatsächlich mit dem Bedürfnis nach Hilfe bei alltäglichen Tätigkeiten vergleichbar? Oder ist Sexualität nicht doch viel mehr?
Meine Sexualität ist ein Teil meiner Identität. Ich möchte meine Sexualität ausprobieren und entdecken können, möchte sehen, wie mein Gegenüber auf mich und meine Ideen reagiert, möchte mich entwickeln können – und nicht nur mein Bedürfnis befriedigen lassen, sondern auch Befriedigung geben. Für mich passt das mit einer Kassenleistung und bezahltem Sex nicht zusammen.
Wahrscheinlich sind die Grenzen hier fließend. Wenn eine Behinderung zum Beispiel dazu führt, dass ein Mensch sich nicht selbst befriedigen kann, dann wäre für mich Hilfe zur Selbstbefriedigung durchaus eine wirklich wichtige Assistenz. Selbstbefriedigung gehört zu einem erfüllten Sexualleben, lässt mich meinen Körper, mein Verlangen und Empfinden anders kennenlernen als Sex mit einem Gegenüber. Ebenso wichtig finde ich die Möglichkeit durch Assistenz einem Paar, das aufgrund von Behinderung nicht selbständig Sex miteinander haben kann, diese Nähe und Leidenschaft zu ermöglichen.
Was mich allerdings ärgert ist, dass auch ich beim Thema “Behinderung und Sex” mit einer Art Automatismus auf das Thema Sexualassistenz zusteuere.

Sexassistenz – warum nicht?

Denn ja, neben der Tatsache, dass ich assistierte Selbstbefriedigung und partnerschaftlichen Sex gut und richtig finde – wünsche ich mir vor allem eines: ein gesellschaftliches Umdenken. Einen neuen, offenen und liebevoll-neugierigen, ja, auch begehrlichen Blick auf unterschiedliche Körper. Ein Loslassen von Vorurteilen.
Vielleicht kostet es Mut, in einem bewussten Willensakt dort hinzuschauen, wo weniger Schönheit, Reiz und Erregung vermutet wird. Aber ist das nicht mit allem so, bis es irgendwann zunehmend selbstverständlich wird? Traut euch! Ich verspreche euch: Ihr werdet es nicht bereuen.
(sb)
Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit Suse Bauer unter der Kolumne „Krauthausen konsequent“ auf sagwas.net zuerst erschienen.



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