Offener Brief zur gemeinsamen Stellungnahme von BAG WfbM und WRD vom 01. Oktober 2018

Demo zur Anhörung des Bundesteilhabegesetz
In einem Offenen Brief an die Werkstatträte Deutschland und an die Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen (BAG WfbM) setzt sich eine neu formierte „Initiative Inklusion“ konsequent für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ein und reagiert mit Verwunderung auf die gemeinsame Stellungnahme der BAG WfbM und der Werkstatträte Deutschland vom 1. Oktober 2018 zur Staatenprüfung Deutschlands. Die Initiative widerspricht insbesondere der Aussage: „…Werkstätten sind Teil der Lösung und nicht des Problems, denn sie machen den Arbeitsmarkt in Deutschland erst inklusiv“ und will hierzu einen intensiven Diskussionsprozess anstoßen.

Sehr geehrte Damen und Herren,
mit der Ratifizierung des „Übereinkommen(s) über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“, kurz UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), durch die deutsche Bundesregierung ist Deutschland die Verpflichtung eingegangen, diese Rechte seinen Bürgerinnen und Bürgern mit Behinderungen zu garantieren und in nationales Recht umzusetzen.
Die zentrale Leitidee der UN-Behindertenrechtskonvention besteht darin, Menschen mit Behinderungen den gleichberechtigten Zugang zu Bildung, Arbeit und Beruf, Freizeit und Kultur, und damit zu allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, zu garantieren. Menschen mit Behinderungen benötigen hierbei oft besondere Hilfen und Unterstützung. Diese Hilfe ist ihnen in denselben Strukturen zu gewähren, die den Menschen ohne Behinderung zur Verfügung stehen und von diesen genutzt werden. Gern wird übersehen, dass Menschen mit Behinderungen durch die UN-BRK nicht nur das Recht auf individuelle Unterstützung zugesagt wird, sondern dass das Ziel dieser Hilfen darin besteht, diejenigen Strukturen zu überwinden, die auf Besonderung dieser Menschen ausgerichtet sind.
Deutschland hat am 03. August 2011 den ersten Staatenbericht über die Umsetzung der Konvention vorgelegt. 2015 wurde die Umsetzung der UN-BRK in Deutschland zum ersten Mal durch den Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen der UN geprüft und in den „Abschließenden Bemerkungen“ Probleme bei der Umsetzung benannt und Empfehlungen ausgesprochen.
Das Deutsche Institut für Menschenrechte, bei dem die Monitoringstelle zur Umsetzung der UN-BRK angesiedelt ist, führt dazu aus: „Im nun anstehenden kombinierten zweiten und dritten Berichtszyklus muss Deutschland bis zum 1. Oktober 2019 unter besonderer Berücksichtigung dieser Empfehlungen über den Stand der Verwirklichung der Rechte von Menschen mit Behinderungen berichten und wird danach erneut vom Ausschuss überprüft und bewertet. Auftakt zu diesem Staatenprüfverfahren bildete die 20. Sitzung des Ausschusses im Herbst 2018, in deren Folge er Deutschland eine Frageliste (‚List of Issues prior to reporting‘) übermittelt hat, die die Grundlage für den zweiten und dritten Staatenbericht Deutschlands ist.“
Die Inklusion betreffend fordert der Ausschuss, Menschen mit Behinderungen eine unabhängige Lebensführung in der Gemeinde zu erleichtern (Ziffer 42 b), statt weiter an Doppelstrukturen für Bildung, Wohnen und Arbeit festzuhalten. Insbesondere sei das segregierende Schulwesen zurückzubauen (Ziffer 46 b) und seien die Behindertenwerkstätten zugunsten einer Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt schrittweise abzuschaffen (Ziffer 50 b).
Wir haben mit Verwunderung die gemeinsame Stellungnahme der BAG WfbM und der Werkstatträte Deutschland vom 01.10.2018 zur Staatenprüfung zur Kenntnis genommen. Wir widersprechen der Aussage: „…Werkstätten sind Teil der Lösung und nicht des Problems, denn sie machen den Arbeitsmarkt in Deutschland erst inklusiv.“
Wir konstatieren, dass Werkstätten per se nicht inklusiv sind, weil sie nicht den ersten Arbeitsmarkt darstellen und weil in ihnen fast ausschließlich Menschen mit Behinderungen beschäftigt sind.
Wir teilen die Einschätzung der internationalen Expertenkommission, dass Werkstätten für behinderte Menschen eine Sonderwelt darstellen, für die mit der Ratifizierung der UN-BRK in Deutschland Maßnahmen zum „Einstieg in den Ausstieg“ einzuleiten sind.
Ein aussondernder Arbeitsmarkt wird nicht dadurch inklusiv, dass man parallel dazu einen zweiten für die Ausgesonderten betreibt.
Selbstverständlich kann man Sonderwelten wie Werkstätten für behinderte Menschen, Tagesförder-stätten oder Wohnheime nicht sofort und nicht ersatzlos schließen. Man kann aber Fehlanreize beseitigen und man kann Weichen für gesellschaftliche Inklusion stellen.
Dazu ist es u.a. erforderlich, eine deutschlandweit breite Fachdiskussion darüber zu führen, wie einerseits bestehende Sonderwelten so zu entwickeln sind, dass sie der Inklusion zuarbeiten und wie andererseits auf bestehende Strukturen, die sich bisher nicht mit Inklusion auseinandergesetzt haben, eingewirkt werden kann, dass sie sich für alle Menschen mit Behinderungen öffnen.
Wir halten den 03. Dezember, der seit mittlerweile 25 Jahren als „Internationaler Tag der Menschen mit Behinderung“ begangen wird, für einen würdigen Zeitpunkt, mit der Debatte zu beginnen. Deshalb versteht sich dieser Brief auch als Impuls, diese längst überfällige Diskussion in Gang zu bringen.
Roland Frickenhaus, Sozialpädagoge und Heinz Becker, Sozialpädagoge

Die Erstunterzeichner*innen:

Dr. Sigrid ARNADE, Geschäftsführerin ISL, Berlin
Gerhard BARTZ, Vorsitzender Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen ForseA e.V., Mulfingen-Hollenbach
Prof. Dr. Theresia DEGENER, Bochum
Horst FREHE, ISL-Vorstand, Bremen
Prof. Dr. Marianne HIRSCHBERG, Bremen
Prof. em. Dr. Wolfgang JANTZEN, Bremen
Prof. Dr. Sven JENNESSEN, Berlin
Raul KRAUTHAUSEN, Aktivist, SOZIALHELDEN e.V., Berlin
Ottmar MILES-PAUL, Netzwerk Artikel 3, Kassel
Dr. phil. Ilja SEIFERT, Berlin
Dipl. Bibl. Udo SIERCK, Autor und Dozent, Darmstadt
Andreas VEGA, Aktivist, München
Vereine:
Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen ForseA e.V., Berlin
Netzwerk Artikel 3, Berlin
Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. – ISL, Berlin

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Foto: Jörg Farys | Gesellschaftsbilder.de



4 Antworten zu “Offener Brief zur gemeinsamen Stellungnahme von BAG WfbM und WRD vom 01. Oktober 2018”

  1. Danke für diese Stellungnahme!
    Es macht mich traurig, dass es in unserer Gesellschaft offenbar nach wie vor als akzeptabel angesehen wird, Menschen wegen Behinderungen auszusondern und sie mit Almosen für „Arbeit“ abzuspeisen und zu behaupten, man würde etwas Gutes tun.
    Dazu auch: https://www.bagwfbm.de/page/101
    Zitat:
    „Laut Statistik des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zur Rentenversicherung von Menschenmit Behinderungen in Werkstätten betrug im Jahr 2016 das durchschnittliche monatliche Arbeitsentgelt eines Werkstattbeschäftigten etwa 180 Euro.“
    Es ist ebenfalls kein Geheimnis, dass weniger als 1% der Menschen aus Behindertenwerkstätten in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden. Da drängt sich der Verdacht auf, dass schon aus rein finanziellen Gründen kein großes Interesse daran besteht – denn dann würden sie ja als billige Arbeitskräfte fehlen und man würde Gefahr laufen, lukrative Verträge mit der Industrie nicht mehr erfüllen zu können.
    Siehe dazu auch:
    https://www.handelsblatt.com/unternehmen/management/soziale-einrichtungen-behindertenwerkstaette-machen-milliarden-umsatz/6332294.html
    https://www.brandeins.de/magazine/brand-eins-wirtschaftsmagazin/2016/das-neue-verkaufen/werkstattbericht

  2. Ich bin spastisch gelähmt, im ersten Arbeitsmarkt tätig und habe nie in einer Behindertenwerkstatt gearbeitet. Daher wurde mich vor allem die Stellungnahme von Menschen interessieren, welche in Behindertenwerkstätten und- Einrichtungen leben und arbeiten.
    Ist es wirklich für Jeden erstrebenswert, im ersten Arbeitsmarkt tätig zu sein? Würden Menschen mit geistiger Behinderung nicht permanent überfordert? Wären daher nicht übermassiger Stress und Burnout eine grosse Gefahr?

  3. Die Lage ist katastrophal. Behindert sein ist ein hartes Schicksal für die kaum noch jemand ein offenes Ohr hat. Familien werden gespalten, Integration wird verhindert. Der Staat ruht sich auf seinem sozialen Image aus. Niemand schaut genau hin, ausser die Betroffenen, die lautstark aber wirkungslos ihre Rechte einfordern und über die Misstände mal laut mal leise klagen und leiden.

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