Wenn Recht nicht immer recht ist

Kim-Lea Glaub ist 18, hat das Down Syndrom und macht eine Ausbildung in einer Behindertenwerkstatt in Herford. Bis vor einem halben Jahr hätte sie noch Anspruch auf Geld vom Staat gehabt - wegen einer Gesetzesänderung fällt das jetzt weg. Abgesehen von einem kleinen Lehrgeld bekommt sie nichts - genau wie bundesweit rund 13.000 junge Menschen mit Behinderung.
Keine hundert Euro im Monat als Lohn – wer will das schon? Für Lernende in Berufsbildungsbereichen von Lebenshilfe-Werkstätten für Menschen mit Behinderungen ist dies Alltag. Die staatliche Grundsicherung könnte abhelfen. Aber was sind die Folgen?
Für die Rechte anderer zu streiten, ist eine tolle Sache. Besonders wenn es einen nichts kostet. Betreiber von Werkstätten für Menschen mit Behinderung sind darin besonders gut – das zeigt ein Fall aus NRW.
„Wie lange sollen die Menschen mit Behinderung noch auf ihr Geld warten?“, empörte sich Ulla Schmidt, Bundesvorsitzende der Lebenshilfe. Was war passiert?
Ein Sozialgericht hat die Stadt Herford dazu verurteilt, Grundsicherung an eine Klägerin auszuzahlen. Die 19-jährige Kim-Lea Glaub lernt gerade im Berufsbildungsbereich der Herforder Lebenshilfe-Werkstätten, damit kommt sie auf ein monatliches Entgelt von 80 Euro. Glaub lebt mit dem Down-Syndrom, medizinisch wurde ihr eine Erwerbsminderung attestiert; damit hätte sie Anspruch auf mehrere hundert Euro im Monat – kein Pappenstiel bei den 80 Euro.

Früher genossen auch Lernende im Berufsbildungsbereich diesen staatlichen Grundanspruch, doch das Sozialgesetzbuch legt fest: Ihr Status soll nicht zu früh zementiert werden, vielleicht bringt die Ausbildung in den Werkstätten die jungen Leute weiter. Aus dem Bundesarbeitsministerium heißt es:

Weil der Anspruch auf Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung eine dauerhafte volle Erwerbsminderung voraussetzt, besteht während Eingangsverfahren und Berufsbildungsbereich kein Anspruch auf Grundsicherungsleistungen.

Nur fair also, dass eine Berufsbildung in der Werkstatt offen angelegt sein soll; alles andere unterliefe jeglichen Gedanken der Inklusion. Doch was sagen die Werkstätten? „Weltfremd“, nennt die Lebenshilfe den entsprechenden Paragraphen. Tatsächlich schaffen nur weniger als ein Prozent den Weg auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Dabei ist gerade das der konkrete gesetzliche Auftrag von Werkstätten für Menschen mit Behinderungen.
Mehrere Fragezeichen drängen sich da auf. Zum einen ist ein Monatsentgelt von 80 Euro ein Skandal. Auch scheint das Gesetz eine gewisse Willkür zu bewirken, denn offenbar beziehen manche Lernende in Berufsbildungsbereichen die Grundsicherung – wenn sie diese vorher beantragt hatten. Sie arbeiten dann Seite an Seite mit Kollegen, denen diese Hilfe verwehrt wird.
Die Kritik der Lebenshilfe aber hinterlässt ein ungutes Gefühl. Warum eigentlich schaffen es so wenige Menschen aus den Werkstätten hinaus in den Ersten Arbeitsmarkt – wenn das doch der Auftrag sein soll? Warum beziehen die Menschen in den Werkstätten generell so wenig Geld? Da erscheint die Kritik der ehemaligen Bundesgesundheitsministerin Schmidt in einem anderen Licht.
Die Lebenshilfe unterstützte Glaub bei ihrer Klage. Es ist einfach, für die eigenen Beschäftigten mehr Geld vom Staat zu fordern, wenn man von ihrer Arbeitskraft profitiert und sie selbst dafür kärglich entlohnt. Dieser Fall aus Herford zeigt auf, dass etwas gewaltig schief läuft in Deutschland.
In unserem Land arbeiten 300.000 Menschen in solchen Werkstätten. Im Schnitt erhalten sie monatlich dafür 185 Euro im Monat. Ein einziger Werkstattplatz erhält übrigens eine jährliche Förderung von durchschnittlich 13.000 Euro im Jahr. Die Einnahmen der Werkstätten für Menschen mit Behinderungen in Deutschland haben einen Eigenanteil von 27 Prozent.
„Nach dem Detmolder Urteil muss die Bundesregierung endlich handeln“, fasst Schmidt zusammen. Recht hat sie! Die Arbeit behinderter Menschen muss endlich auch als solche anerkannt werden und entsprechend entlohnt werden. Diese Aufgabe haben aber in ersten Linie die Arbeitgeber zu übernehmen, sprich die Werkstätten für Menschen mit Behinderungen.
Letztlich ist den Werkstätten für Menschen mit Behinderungen ein großes Versagen zu attestieren. Das „fit machen“ für ein reguläres Beschäftigungsverhältnis, für ein Hinaus aus der staatlichen Fürsorge, scheitert fast ausweglos. Liegt dies nur an den Behinderungen?
Über die Jahrzehnte hinweg hat sich mit den Werkstätten für Menschen mit Behinderungen ein großes Business entwickelt. Werkstätten wetteifern mit Konkurrenten, unterliegen einem Marktwettbewerb und durchaus hohem Produktionsdruck. Da werden zum Beispiel längst nicht nur Kugelschreiber zusammengedreht, sondern auch Luxusmöbel geschreinert; gerade dafür braucht man jene Kräfte, welche am ehesten Kandidaten für den allgemeinen Arbeitsmarkt wären. Aber ein Spruch besagt: „In eine Werkstatt geht’s schnell rein, aber kaum raus.“
Es scheint sich gut gefügt zu haben. Betriebe, die keine Menschen mit Behinderungen einstellen, sparen die Ausgleichsabgabe von 290 Euro pro Platz, wenn sie Aufträge an Werkstätten vergeben. Werkstätten sind geschlossene Räume, Gesellschaften für sich – Menschen ohne Behinderung betreten sie in der Regel nicht, es sei denn, es handelt sich um “Professionelle”. Man bleibt unter sich, hüben und drüben; ein gelungenes Miteinander sieht anders aus. Zurück bleibt die Klage des Deutschen Instituts für Menschenrechte: “Solange das so ist, kann von einer Verwirklichung des Rechts auf Arbeit und Beschäftigung im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention nicht die Rede sein.”
Nutzen die Werkstätten weiterhin ihre staatlichen Subventionen und günstigen Arbeitskräfte aus, ohne dabei dem eigentlichen Auftrag nachzukommen, sind sie in der heutigen Systematik in Frage zu stellen; ein Anreiz zur Änderung könnte beispielsweise die vermehrte Einführung von auf Vermittlungserfolgen basierende Finanzierungsmodellen sein.
Natürlich ist der Klägerin aus Herford die Grundsicherung zu gönnen. Alles kommt als Recht daher, welches mickrige 80 Euro erhöht – sei es über Mindestlöhne in den Werkstätten oder über Aufstockung. Andererseits gießt solch ein Urteil, welches der Lebenshilfe und der ehemaligen Ministerin so gut gefällt, Zement in eine Struktur mit vielen Fragezeichen.


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4 Antworten zu “Wenn Recht nicht immer recht ist”

  1. Immer mehr Menschen mit Behinderungen weigern sich, in einer Werkstatt zu arbeiten, sondern suchen sich selbst Arbeit oder machen sich mit einer Idee selbstständig. Das finde ich gut.
    Andererseits nehmen diese Werkstätten seit einigen Jahren auch Menschen mit psychischen Problemen. Und da wird es grotesk, denn dieser Personenkreis kommt aus dem 1.Arbeitsmarkt und wurden dort in der Regel einfach nur fertiggemacht. Das heißt im Klartext; JEDER kann in einer Werkstatt für Behinderte abgeschoben werden, wenn er Pech hat. Und da rollen sich bei mir die Zehennägel auf!

  2. Deutschland wurde schön öfters wegen der sklavenähnlichen Entlohnung von der Menschenrechtsorganisation der UNO kritisiert.
    Ich hatte mir mal einen geschäftsbericht der Behindertenwerkstatt in der Nähe angesehen.
    Interessant waren die geringen Lohnsummen von 1,5 Mio/a . Dagegen stehen 13 Mio. Erlös, die an den Staat abgeführt wurden. Ich halte es für einen Skandal, das Menschen mit Behinderungen so ausgenutzt und abgezockt werden.
    Die Geschäftsberichte können fas überall eingesehen werden.
    Die sollten bei den Klagen unbedingt mit berücksichtigt werden, um die Ungerechtigkeit darzustellen.

  3. Unsere Tochter ist auch in einer WfbM
    Sie geht gerne hin und kommt gut zurecht
    Für Ihre Grundsicherung sind wir auch noch im Kampf
    Somit hat Sie erst mal nur ihr Ausbildungsgeld von 117 €
    Die Bürokratie der Anträge finde ich als sehr lästig

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