ZEIT ONLINE: „Wir sind alle behindert – irgendwann“

Raul Krauthausen ist das Aushängeschild von Wheelmap.org. Auf der Open Street Map markieren die Nutzer rollstuhlgerechte Orte. Nun bekommt er Unterstützung von Google.
Raul Aguayo-Krauthausen hat sich damit abgefunden, im Mittelpunkt zu stehen. Jedenfalls so lange es um sein Projekt geht: wheelmap.org – eine Onlinekarte, auf der Freiwillige weltweit rollstuhlgerechte Orte sammeln und verzeichnen. Krauthausen, 30 Jahre alt und Rollstuhlfahrer, ist ihr Erfinder, Promoter und Aushängeschild. Und eigentlich wollte er das alles nie sein.
Noch vor einem halben Jahr sagte er im Interview mit der tageszeitung: „Ich will nicht, dass es immer um mich als Rollstuhlfahrer geht. Klar funktioniert die Wheelmap mit mir als Medienperson super, aber wir sind ja ein Team. “ Außerdem hält er sich selbst für einen schüchternen Menschen. Vor öffentlichen Auftritten ist er immer noch nervös. Inzwischen hat er aber eingesehen, dass er dem Projekt nur nutzen kann. Daher spielt er nun die Hauptrolle in einem TV-Werbespot für wheelmap.org, der ab dem kommenden Wochenende zur besten Sendezeit ausgestrahlt wird.
Android-App soll bald erscheinen
Seit einem Jahr gibt es die Wheelmap. Sie basiert auf Open Street Map, einem Projekt, das Geodaten sammelt, damit jeder sie nutzen kann. Krauthausen und sein Team nutzen sie, um Rollstuhlfahrern zu helfen. In ihrer Karte markieren Nutzer aus aller Welt mit einem Ampelsystem, welche Restaurants, Cafés, Kinos, Arztpraxen und andere Gebäude rollstuhlgerecht sind und welche nicht. 75.000 Orte sind es bereits, täglich kommen mehr als Hundert dazu.
Eine iPhone-App gibt es bereits, die Android-Version soll bis Anfang Oktober fertig sein. Die Einträge helfen einerseits Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind. Sie setzen andererseits die Betreiber der für Rollstuhlfahrer unzugänglichen Restaurants und Cafés unter sanften Druck, Rampen zu bauen und behindertengerechte Toiletten.
Die Seite gibt es jetzt seit genau einem Jahr und sie ist bereits in elf Sprachen verfügbar, darunter auch Klingonisch. Ein Freiwilliger hatte angeboten, das Angebot in die Sprache des kriegerischen Volkes aus der Fernsehserie Star Trek zu übersetzen. Nützlich ist das nicht wirklich. Aber es ist genau die Art von schrägem Humor, die Krauthausen gefällt.
Witze über Behinderte
Krauthausen, geboren in Peru, aufgewachsen in Deutschland, fällt zunächst wegen seines Äußeren auf: Er hat Osteogenesis imperfecta, sogenannte Glasknochen und ist durch die Erbkrankheit kleinwüchsig und auf den Rollstuhl angewiesen.
Vor allem aber ist er ein begnadeter Redner. Er ist selbstironisch, er lockert seine Vorträge mit Witzen (auch über Behinderte) auf – und er hat gute Argumente, warum Barrierefreiheit nicht nur für die 1,6 Millionen Rollstuhlfahrer in Deutschland wichtig ist. Denn der demografische Wandel führe dazu, dass immer mehr Menschen immer älter und damit immer mehr nur noch eingeschränkt mobil sind. Wer einen Rollator benötigt, könne mit einer mehrstufigen Treppe genauso wenig anfangen wie ein Rollstuhlfahrer.
Genaugenommen, sagt Krauthausen, sind wir alle behindert – irgendwann. In einem Vortrag vor einem Jahr in Berlin zitierte er den österreichischen Professor Volker Schönwiese, der sagte: „Behindert ist, wer Hilfe braucht.“ Krauthausen führte den Gedanken weiter: „Wir brauchen immer Hilfe. Entweder als Kind, oder als Greis. Und dazwischen gibt es eine Zeit, in der die meisten von uns nicht behindert sind. Es gibt also gar nicht diese Dichotomie zwischen behindert und nichtbehindert, sondern nur zwischen behindert und zeitweise nicht behindert.“
Das Problem gehe also alle an. Genau wie die Tatsache, dass Behinderte von großen Teilen des Alltags ausgeschlossen sind. Eben weil sie die zwei Stufen vor einem Laden nicht überwinden können, weil sie nicht an den Briefkasten herankommen, oder weil sie in speziellen Einrichtungen leben müssen, da sie keine Wohnung finden, die ihren Bedürfnissen entspricht.
Krauthausen will das ändern. Der studierte Kommunikationswirt hat unter anderem als Programm-Manager beim Fernsehsender RBB gearbeitet. Heute ist er Vollzeit-Vorsitzender des Vereins Sozialhelden, dessen Projekt die Wheelmap ist. „Wir wollen Menschen mit Behinderung mehr im Alltag sehen“, sagt er. Die Zeit sei reif, um diese Menschen stärker zu integrieren: „Die Gesellschaft ist weiter als es die politischen Strukturen im Land sind.“
Unterstützung von Google – dank Eric Schmidt
Und dazu macht er nun eben auch Werbung. Der Fernsehspot soll das Wachstum der Seite noch einmal erheblich beschleunigen und damit auch die Zahl der Meldungen. Je mehr mitmachen, desto nützlicher wird die Wheelmap.
Bezahlt hat den Werbespot Google, obwohl die Karte nicht auf Google Maps basiert. Der Konzern bewirbt damit aber seinen Browser Chrome, in dem die Wheelmap natürlich auch funktioniert. Dass es überhaupt zu der Zusammenarbeit kam, liegt an Eric Schmidt. Der damalige Google-Chef hielt im Januar eine Rede auf der Konferenz Digital – Life – Design in München. Ein Vortrag von Krauthausen über sein Karten-Projekt war zur gleichen Uhrzeit angesetzt. „Der Raum war leer“, erzählt Krauthausen. „Nur ein paar Leute von Google haben mir zugehört.“
Die waren begeistert von der Wheelmap – und von der Persönlichkeit des Redners. Im TV-Werbespot sollte Krauthausen ursprünglich als „Rampensau“ vorgestellt werden. Ein nettes Wortspiel, aber es entspricht nicht seiner Persönlichkeit. Krauthausen ist froh, dass es letztlich ein anderer Begriff wurde: Wegbereiter.



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