Warum Inklusion nicht ausreicht

Foto: Andi Weiland
Sprache ist eigentlich etwas Wunderbares: Sprache ist lebendig, immer im Wandel begriffen und kann sich unseren Bedürfnissen anpassen. Veränderte gesellschaftliche Wirklichkeiten werden in modifizierter Sprache widergespiegelt. Sprache kann im besten Falle sogar Veränderung bewirken – in unserem Projekt Leidmedien mache ich immer wieder diese Erfahrung. Sie kann Menschen glücklich machen – wem schon einmal gesagt wurde, dass er oder sie geliebt wird, weiß das.
Allerdings ist Sprache auch ein mächtiges Instrument, um andere zu verletzen, zu diskriminieren oder auszuschließen. Sie kann die Identität ganzer Menschengruppen verzerren und zum Negativen wandeln. Im Faschismus kann Sprache über Leben und Tod entscheiden.
Deshalb ist es wichtig, dass wir unsere Sprache regelmäßig mit Bedacht betrachten und verstehen. Und wir müssen uns dessen bewusst werden, ob unser Sprachgebrauch tatsächlich das ausdrückt, was wir sagen wollen.
Was bedeutet „Inklusion“?
Der Begriff „Inklusion“ ist seit einiger Zeit vor allem im Zusammenhang mit Bildungspolitik in aller Munde und hat mittlerweile – je nach Kontext – eine negative Konnotation: „Inklusion gefährdet das Bildungssystem“, „Inklusionsfalle“, „das Scheitern der Inklusion“.
Dabei ist immer klar: Inklusion betrifft behinderte Menschen.
Aber stimmt das?
Tatsächlich ist der Begriff „Inklusion“ in seiner eigentlichen Bedeutung vielfältiger. Er meint mitnichten nur Menschen mit Behinderung. Bei Wikipedia findet man folgende sehr treffende Definition zum Begriff „soziale Inklusion“:

Die Forderung nach sozialer Inklusion ist verwirklicht, wenn jeder Mensch in seiner Individualität von der Gesellschaft akzeptiert wird und die Möglichkeit hat, in vollem Umfang an ihr teilzuhaben oder teilzunehmen.

Jede*r Einzelne soll also gleichberechtigt und selbstbestimmt Teil der Gesellschaft sein – unabhängig von seiner oder ihrer sozialen oder kulturellen Herkunft, von Geschlecht, Hautfarbe, Religion oder einer Behinderung.
Im realen Diskurs ist die Bezeichnung „Inklusion“ jedoch aufs Engste mit dem Begriff Behinderung verknüpft. Was dadurch passiert ist, dass das Merkmal „Behinderung“ problematisiert wird. Es wird suggeriert, behinderte Menschen seien per se nicht Teil der Gesellschaft: Sie müssen erst inkludiert werden.
Wieso dies problematisch ist, führt der Erziehungswissenschaftler Karsten Exner in seinem Artikel „Warum die Anwendung des Inklusionsbegriffes kontraproduktiv ist – zwei Thesen und eine Frage zum Inklusionsdiskurs im Behindertenbereich“ aus: Der Begriff Inklusion

führt zu Sonderdiskursen und letztendlich in Theorie und Praxis zur Manifestierung des Fokus auf das eine Merkmal Behindertsein betroffener Personen oder Personengruppen. […] Beeinträchtigte Menschen bleiben in einer Behindertenrolle, der zufolge behinderte Menschen wesensmäßig andere Menschen sind als nichtbehinderte Menschen.’

Gleichberechtigung statt Inklusion
Was im ersten Moment sehr theoretisch klingt, wird deutlicher, wenn man den Begriff „Inklusion“ durch „Teilhabe“, „Empowerment“ oder „Gleichberechtigung“ ersetzt. Diese Begriffe werden in zahlreichen Zusammenhängen verwendet – etwa, wenn es um Geschlechtergerechtigkeit, Stärkung der Rechte homosexueller Menschen, Teilhabe von sozial schwachen Menschen oder das Empowerment von Menschen mit Migrationshintergrund geht. Der jeweils verwendete Begriff bezieht sich bei nicht behinderten Menschen auf die spezifische Situation, die beschrieben werden soll. Lediglich wenn es um Menschen mit Behinderung geht, wird fast immer der Begriff Inklusion verwendet. Hier ist also das Merkmal Behinderung entscheidend – und nicht die Situation, die beschrieben werden soll.
Warum also sprechen wir nicht auch an dieser Stelle von Gleichberechtigung, Empowerment oder Teilhabe?
Warum ich Kritik an der Verwendung des Begriffes Inklusion übe
Es geht mir nicht darum, den Begriff „Inklusion“ madig zu machen. Ich weiss, dass insbesondere viele Menschen mit Behinderung sich stark und positiv mit dieser Bezeichnung identifizieren.
Früher wurde von der Integration behinderter Menschen gesprochen: Menschen mit Behinderung sollten sich der Mehrheitsgesellschaft maximal anpassen, um teilhaben zu dürfen. Heute hat man eingesehen, dass nicht der behinderte Mensch als das Problem angesehen werden sollte – und statt Anpassung des Individuums weiß man nun, dass die Rahmenbedingungen so flexibel gestaltet werden müssen, dass sie für eine heterogene Gesellschaft passen. Und bezeichnet das als Inklusion.
Den Begriff an sich kritisiere ich nicht – lediglich seine Verwendung, die grundsätzlich im Behinderungs-Kontext stattfindet. Auch ich finde Inklusion eine positive Beschreibung – aber ich möchte dazu aufrufen, Sprache bezüglich der Lebenswirklichkeiten behinderter Menschen vielfältiger zu verwenden und auf die jeweilige Situation zu beziehen.
Wenn über Inklusion in der Schule berichtet wird – geht es konkret um Bildungsgerechtigkeit für behinderte Schüler*innen. Wenn über inklusives Wohnen diskutiert wird, dann sollte eigentlich über Selbstbestimmung und Teilhabe geredet werden. Und wenn über inklusive Sportgruppen geschrieben wird, an denen behinderte und nicht behinderte Sportler*innen teilnehmen – dann geht es tatsächlich um Empowerment für alle durch gemeinsame sportliche Erlebnisse.
Und ebenso sollte man den Begriff Inklusion für weitere Menschengruppen öffnen. Gerade bei Menschen mit Migrations- oder Fluchterfahrung wird oft von Integration gesprochen – obwohl es doch wünschenswert wäre, wenn niemand sich verbiegen müsste, um Teil unserer Gesellschaft werden zu dürfen. Kulturellen Hintergründe könnten bereichernd ins Zusammenleben eingebracht werden. Dafür sollte Mehrheitsgesellschaft die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen.
Ganz inklusiv.
(sb)
Dieser Artikel entstand in Zusammenarbeit mit Suse Bauer.
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Foto: Gesellschaftsbilder.de



6 Antworten zu “Warum Inklusion nicht ausreicht”

  1. Lieber Raul, genauso ist es. es ist sogar noch schärfer mit diesen Zuschreibungen: Inklusion für Behinderte, Integration für Ausländer etc… Seit einiger Zeit wollten wir ein umgekehrt inclusives Theater, wo die „normalen“ Schauspieler zu den „behinderten“ dazu kommen, um eine Arbeit zu ermöglichen, die den Notwendigkeiten der letzteren mehr entsprechen. Nicht wenige vereinzelte Darsteller kommen an die großen Häuser, wo sie auf Rollen warten und vereinsamen, sondern umgekehrt. Aber es bleibt damit bei dieser Zweiteilung, der Verweis auf die Behinderten….Die einen kommen ZU den anderen. Mein Nachfolger Jacob will all diese Bezeichnungen gar nicht mehr, sondern nur die Bezeichnung „Theater“, in dem es dann selbstverständlich ist, daß alle miteinander arbeiten. Das hört sich sehr gut an, ist nicht so einfach, denn ich beobachte, daß das Ganze droht, sich zu sehr zu den „Normalen“ zu neigen, denn die können ihre Bedürfnisses viel schneller und deutlicher formulieren und durchsetzen. Und ihre Termine sind eben immer wichtiger etc.. Man (wer ist das, wenn nicht alle) muß also sehr sorgfältig darauf achten, daß die „besonderen“ Bedürfnisse und Hilfen, die für so ein normales Funktionieren Voraussetzung sind, als selbstverständliche wahrgenommen und umgesetzt werden. Und trotzdem sich keine neue Stigmatisierung einschleicht. Eine Aufgabe, die für die ganze Gesellschaft gilt.

  2. Das spricht mir aus dem Herzen! – Alle sollen akzeptiert werden. Nicht die „Eigenschaften“ sollen im Vordergrund stehen, sondern die Frage, was braucht der einzelne Mensch, um Teilhabe zu erfahren. Auch „schrullige“ Typen, dicke, dünne, rothaarige, schwarze, weiße, rote …alle gehören dazu!

  3. Mir gefällt „Neues Wir“ sehr gut. https://www.nieuwwij.nl/ Manuela Kalsky hat einen Vortrag beim Forum für Heil- und Religionspädagogik gehalten. Seitdem denke ich, dass das „alte Wir“ mehr nach innen guckt und das „neue Wir“ Interesse am Anderen / Fremden / noch Unbekannten hat. Es müsste Räume geben, an denen Menschen guten Willens sowas qausprobieren.

  4. Antwort auf den Kommentar von Dr. Gisela Höhne,
    Zitat „Man (wer ist das, wenn nicht alle) muß also sehr sorgfältig darauf achten, daß die „besonderen“ Bedürfnisse und Hilfen, die für so ein normales Funktionieren Voraussetzung sind, als selbstverständliche wahrgenommen und umgesetzt werden. Und trotzdem sich keine neue Stigmatisierung einschleicht. Eine Aufgabe, die für die ganze Gesellschaft gilt.“
    Liebe Dr. Höhne, ich liebe das Theater RambaZamba und nehme es nicht als „Behindertentheater“ wahr, sondern als wunderbares Theater, welches mir das Herz und die Seele zu öffnen vermag, ein Theater, welches den Prenzlauer Berg mir in mildem Licht überließ, als ich ging.
    Ich bin fest davon überzeugt, die Lösung liegt in gemeinsamen Entscheidungsprozessen, es wird eben mit allen gemeinsam entschieden, nicht mit wenigen für die anderen.
    Mich plagt als Behinderte (40%), Persönlichkeitsstörung (nicht ganz genau diagnostisch eingegrenzt) oft ein schlechtes Gewissen in der „Behindertengemeinde“, denn ich bin sprachlich schnell und verführerisch, darüber hinaus ehrgeizig, mein Leben lang wollte ich mich mit den „Anderen“ messen, ich vor allem mit den Reichen im Dorf, ich wollte so schlau sein wie die, ich wollte später die Sachen kaufen, die „die“ kaufen.
    Ich wollte einfach so stark und so schwach sein wie „die“ – 47 Jahre war ich das mit sehr viel Krafteinsatz, mit Klugheit, dann konnte ich nicht mehr. Behinderung hat für mich ganz einfach etwas mit „mehr Kraft brauchen für die gleichen Sachen“ zu tun und mit früherem Verschleiß.
    Es gibt aber keinen Grund, Menschen, die für etwas brennen, sich verschleißen wollen, sich messen wollen, dies nicht tun zu lassen.
    Und ich denke, in dieser merkwürdigen „Wellness-Welt“ ist genau das die Barriere. Man lässt die Menschen nicht machen, wie sie wünschen. Bei RambaZamba ist das anders, ich war im Meer von Tränen und Wut, weil man mich nicht mehr ließ, bei den Dingen, die ich tun wollte – mit 200 Sachen ins Meer trocknete ich meine Tränen und sagte mir: Wisst ihr was, ihr Schlingel?
    Jetzt erst recht!
    Besten Dank für Ihre phantastische Arbeit, die phantastisch ist für jeden Menschen, der die Freiheit und die Schönheit jedes Einzelnen von uns Menschen lieben möchte. Das Wissen, dass es auch noch solche Menschen gibt, die dafür arbeiten, macht es mir auch möglich, zu tun, was mir am schwersten fällt: PAUSE!
    PAUSE!

  5. Genau aus diesen Gründen bezeichne ich mich als Bürgerrechtler!
    Einer, dem die Bürgerrechte vorenthalten werden, wenn das Wahllokal nicht barrierefrei ist!
    Einer, dessen Behindertem Kind die Bürgerrechte vorenthalten werden, wenn es nicht die Schule besuchen darf, die es besuchen möchte!
    Wir fordern unsere Bürgerrechte ein!!

  6. Guten Morgen Raul Krauthausen, besten Dank für den Beitrag dank Suse Bauer.
    Ich finde gut an dem Beitrag, dass er den Kontext des Themas hinterfragt, denn ich bin auch der Meinung, es gehe bei „Inklusion“ nicht nur um medizinisch festgestellte Behinderungsgründe und -grade, sondern auch um andere Formen der Behinderung, z. B. die fehlende Akzeptanz für bestimmte Kommunikationsweisen.
    Der eine verzichtet auf Social Media-Aktivitäten, so wie ich auf ein Smartphone verzichte, weil ich es nicht brauche. Ein anderer, manchmal „Nerd“ genannt, ist dauernd im Internet unterwegs und nicht so oft analog. Ich würde mich nicht als „Nerd“ bezeichnen, bin aber viel via Internet aktiv, für mich ist das die gleich wichtige Welt neben der analogen Welt- sie steht für mich nicht hinter der analogen Welt, sondern daneben.
    Dies führt immer mal zu Irritationen, vor allem dann, wenn die geteilten Nachrichten nicht wo willkommen zu sein scheinen. Würde ich dauernd alles loben, toll finden, und auch nicht präzise erforschen wollen, wäre alles prima, egal wo, egal für wen.
    Wird es aber akribisch, kritisch und nicht so „funny“ – dann geht das Geschimpfe bald los „unglaublich“ ist das beliebteste Wort hier – das ist aber „Rumpelstilzchenstil“, das alte „Rumpelstilzchen“ – es ist klar, es würde nicht in der Geschichte bleiben, es ist klar, es würde weiter machen, wie ich auch weiter mache.
    Die Freiheit, sich offen und mit allen austauschen zu können, ist aber auch eine menschliche, was nutzt mir ihr technischer Wert, wenn es außen in der Gesellschaft attackiert wird? Woran liegt aber diese hohe Bereitschaft zum „Rumpelstilzchen“?
    Wie kommt das, das Menschen wie ich es verachten, weil das Rumpelstilzchen verletzend ist, aber die Verletzung nicht verantworten will – andere gerade dies aber für den legitimen Weg zu halten scheinen, sich gegen vermeintliche „Feinde“ zu wehren?
    Ich glaube, da liegt fast schon der „Riss“ in der Gesellschaft – eine größere Gruppe, die sich legitimiert sieht, maskiert Druck zu machen und eine noch größere Gruppe, zu der ich mich zähle, die dagegen hält.
    Trotzdem: Der Riss scheint eher größer als kleiner zu werden – das „Bürgerliche“ wird vom Hof gejagt, das ist meine Befürchtung. Ich schreibe dagegen an und lebe dagegen an, seit gut 10 Jahren, wenn nicht länger, habe ich „Rumpelstilzchen“ mir zur Seite, ungebeten, aber das stört es nicht, leider.
    Besten Dank Suse Bauer, Raul Krauthausen fürs Teilen.

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