Danke, Mike Oliver

Mike Oliver

Er war Aktivist und Wissenschaftler, vor allem aber revolutionierte der Pionier Mike Oliver unseren Blick auf Behinderung durch Gesellschaft. Nun ist er im Alter von 74 Jahren gestorben. Er hinterlässt uns einen Hammer.

Im Jahr 1983 schrieb der Brite Mike Oliver ein Buch mit dem Titel „Social Work with Disabled People“ – eine unscheinbare Schlagzeile wie viele andere, aber in Wirklichkeit schuf Oliver damit ein Mantra für Menschenrechtsbewegungen, es war ein Hammer im Wortsinn, aber dazu später. Oliver sorgte mit diesem Werk für einen Perspektivwechsel: weg von einem beschränkten rein medizinischen Blick auf eine Behinderung und hin auf die Rechte aller in einer Gesellschaft, in der Nichtbehinderung die Norm ist und die daher Menschen mit Behinderung behindert. Wer war dieser Mann?

Viele Aktivisten weltweit beschreiben ihn als intellektuellen Giganten, als einen guten Kerl, halt als einen, bei dem man sich fragte: Was würde Mike Oliver nun tun? Nun, er ist nicht mehr unter uns. Aber in Sachen Selbstermächtigung hinterlässt er ein reichhaltiges Erbe.

Aus der Arbeiterklasse kommend, mit nicht gerade tollen Noten in der Schule, schlug sich Oliver zunächst als Büroangestellter durch, um festzustellen, dass dieser Job noch langweiliger als die Schule war. Dann brach er sich den Hals und kam nach einem einjährigen Krankenhausaufenthalt zu seinen Eltern zurück, als „unanstellbar“.

Doch er erhielt damals, Ende der Sechziger des vorigen Jahrhunderts, ein Jobangebot: Er sollte mit Leuten arbeiten, die Probleme beim Lesen und Schreiben hatten. Rückblickend sagte Oliver einmal:

Die ersten 15 Jahre meiner Behinderung nahm ich die persönliche Verantwortung für die Konsequenzen meiner Behinderung.

Irgendwann merkte er dann, dass es nicht gut genug war. Er stieß an Grenzen; es war die Zeit, in der zum Beispiel Barrierefreiheit noch ein komplettes Fremdwort war.

In seiner Arbeit entwickelte er sich, wurde bald eine Art Lehrer ohne Zertifikat. Als die britische Regierung ein solches einforderte, geriet ihm dies zum Glück: Er entschied sich fortzubilden, hörte erstmals von einem Fach namens „Soziologie“ und fing Feuer. Er entdeckte etwas, das relevant für ihn und sein Leben war, zum ersten Mal sprach Bildung wirklich zu ihm.

Sein Universitätsstudium damals könnte man beschönigend abenteuerlich nennen. Für Menschen mit Behinderung gab es damals keine Arrangements, niemand war darauf vorbereitet, auch Oliver nicht, aber er legte einfach los. Die Gebäude waren voller Treppen, bei denen der mit einem Rollstuhl fahrende Oliver immer wartete, bis zwei, drei Studierende mit anpackten. Er wartete meist nicht lange, es funktionierte immer irgendwie; aber er lernte Geduld und vor allem Durchsetzungsfähigkeit, es ging ja um seinen Körper, der da durch die Luft manövriert wurde. Oliver fand sich vor Hörsälen sitzend, weil die Türen sich nicht von ihm öffnen ließen, und etwas wie einen Behindertenparkplatz gab es auch noch nicht, weswegen der Bibliothekar ihm anbot, vorzufahren und ihm die Autoschlüssel auszuhändigen, damit dieser bei Bedarf das Auto wegfährt; so ließ sich auch das Problem lösen, dass er zum Aussteigen jemanden brauchte, der ihm den Rollstuhl aus dem Kofferraum holte. Er widmete diesem Bibliothekar seine Dissertationsschrift.

In den ersten Studentenjahren fragte sich Oliver noch nicht, was alles verändert werden könnte. Als er sich allerdings an seine Promotion setzte, konnte er nicht glauben, wie beschränkt individuell der Blick der Forschung auf Behinderungen war; selbst in der Soziologie begann man mit medizinischen Definitionen und nicht mit den sozialen Strukturen, welche das Leben bestimmen. Für ihn war das ein Wendepunkt, ohne diesen wäre er vielleicht Kriminologe geworden. Was er aber dann schrieb, war revolutionär, weil er aus der „Wüste“ kam.

Denn Oliver erhielt an der Universität von Kent den Auftrag, Sozialarbeiter zu trainieren, welche mit Menschen mit Behinderung arbeiteten. Damit legte er den Grundstein für die „Disability Studies“, die es damals noch nicht gab und deren erster Professor Großbritanniens er später werden sollte. Auch hatte er anfangs nicht die Absicht ein Buch zu schreiben. Aber er wollte seine Kursteilnehmer „sozial fokussieren“, so viele Erfahrungen wie möglich von Menschen mit Behinderung einfließen lassen, auch seine eigenen Sozialdiensterfahrungen, kurz: die behindernden Sozialstrukturen beschreiben.

Heraus kam ein optimistisches Buch, welches darlegte, was Menschen alles erreichen könnten, wenn … ja, wenn. Sein Werk ist ein Klassiker geworden und wird immer noch gedruckt. Die Aktualisierungen muss nun jemand anderes vornehmen. Den Grundgedanken vom sozialen Modell von Behinderung hatte er nicht erfunden, es aber auf den Punkt gebracht. Den Anfang hatte 1975 die britische Organisation Union of the Physically Impaired Against Segregation UPIAS (Vereinigung der körperlich Beeinträchtigten gegen Segregation) gemacht und formuliert:

Aus unserer Sicht ist es die Gesellschaft, die körperlich beeinträchtigte Menschen behindert. Behinderung ist etwas Aufgezwungenes, zusätzlich zu unseren Beeinträchtigungen durch die Art, wie wir von der vollen Teilhabe an der Gesellschaft unnötigerweise isoliert und ausgeschlossen sind.

Oliver erweiterte diesen Ansatz. Eine allumfassende Lehre wollte er damit nicht schaffen, das Modell wollte nicht alle Erfahrungen von Beeinträchtigungen aufnehmen – dafür war es nicht gemacht. Das Modell sollte ein Werkzeug sein, ein Hammer, mit dessen Hilfe man den Nagel in die Wand kriegt, oder in Olivers Worten: „Take it or lose it.“

Oliver bin ich sehr dankbar, für seine Pionierarbeit und seinen Optimismus. Seinen frischen Blick behielt Oliver. Rückblickend attestierte er uns allen einen Rückschritt seit den Neunzigern, weil es den großen Institutionen der Sozial- und Pflegedienste gelungen sei, sich selbst als Fürsprecher für Menschen mit Behinderung auszugeben.

Dabei wissen wir aus der Geschichte der vergangenen hundert Jahre: Wenn nichtbehinderte Menschen es für uns tun, tun sie es falsch.

Richtig. Also weiter.



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