Inklusion – ein Lehrstück

Es war sechs Wochen lang wieder ungewöhnlich ruhig in der Stadt, der Bahn und irgendwie auch im Netz. Jede zweite meiner Mails bekam eine Antwort, dass gerade irgendjemand im Urlaub ist und man sich doch an seinen Kollegen wenden kann. Einige der Absender sind junge Mütter oder Väter, und ihre Mails klingen so wie früher am letzten Schultag: FEEERIEN! Da muss ich dann auch immer an meine Schulzeit denken, wie ich auch versucht habe, der Erste zu sein, der nach der Zeugnisübergabe nach draußen stürmt.
Liest man aktuell in der Zeitung, kommt man um das Thema Inklusion und Schule nicht herum. Zum neuen Schuljahr starten immer mehr inklusive Klassen, da die Länder dazu aufgefordert sind, die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen. Besonders Lehrer fühlen sich davon überfordert und suchen sich ein Ventil über die Medien. Denn das Thema Schule wird schnell emotional und ist diskussionsfreudig. Zum einen sind dort die Lehrer, die mit der neuen Situation überfordert sind, dass auch Kinder mit Lernschwierigkeiten, Rollstuhlfahrer oder Schwerhörige in einer Klasse mit 25 anderen Kindern sind. Die meisten Lehrer sind dafür noch nicht mal ausgebildet und sollen jetzt allen etwas beibringen. Lehrer von Sonderschulen werden in manchen Fällen nicht übernommen, und es riecht danach, dass der Staat durch Inklusion sparen möchte. Dabei ist das Gegenteil notwendig.

Auf der anderen Seite gibt es die Eltern, die nur die beste Bildung für ihre Kinder wollen und auf einmal Angst davor haben, dass ihr eigenes Kind in einer Inklusions-Klasse langsamer lernt als in einer "normalen" Klasse (so kann man es leider in vielen Online-Kommentaren lesen). Dann gibt es vielleicht noch den einen oder anderen Bildungspolitiker, der meint, dass man ja die EU-Richtlinien umsetzen muss, aber natürlich die Mittel dafür fehlen.
Diese drei Gruppen dürfen dann ganze Seiten in Zeitungen füllen.
Hab ich wen vergessen? Ach so ja: die Schüler mit Behinderungen bzw. ihre Eltern. Selten kommen diese in den Debatten zu Wort oder werden schnell von lauteren "Mehrheiten" übertönt.
Erst durch diese Artikel wird mir richtig klar, was es für meine Mutter für ein Kampf gewesen sein muss, dass ich auf eine integrative Schule gehen konnte. Und dafür bin ich ihr so dankbar, weil ich nicht glaube, dass ich den Weg, den ich heute genommen habe, ohne die integrative Schule hätte nehmen können. Ich war kein besonders guter Schüler, eher faul, aber konnte mich in den richtigen Momenten konzentrieren und habe somit ein halbwegs gutes Abi erreicht (Notendurchschnitt 2,9). Damit standen mir dann die Türen zum Studium und auch zu Jobs beim Radio und alles weitere offen.

Verschlossene Türen

Vielen Menschen mit Behinderungen an Sonderschulen bleiben diese Türen verschlossen. Denn die Abschlüsse werden nicht richtig anerkannt, und der Weg in eine Behindertenwerkstatt bleibt unvermeidlich. Nur etwa 1 % der Schüler schafft den Sprung in ein Berufsleben außerhalb von Nummernschildern stanzen und Kartons falten. Auch in meinem Umfeld sehe ich das: Fast jeder meiner Freunde und Kollegen, die eine Behinderung haben, ging auf eine "normale" Schule, besitzt ein Abitur und arbeitet jetzt als Journalist, Personalberater, Grafiker, Politiker und so weiter.
Wenn ich in einem Interview zu meiner Einschätzung von Sonderschulen und Behindertenwerkstätten gefragt werde, dann lautet meine Antwort ganz klar: "Sofort abschaffen!" Denn wenn ich auf so einer Schule gewesen wäre, würde ich vielleicht in dem Moment nicht das Interview führen. Auch andere "Vorzeige-Behinderte" gingen nicht nur auf Sonderschulen. Und wenn sie heute mit klassischer Musik die Menschen unterhalten (Thomas Quasthoff), Gold gewinnen (Heinrich Popow) oder Fußballern von den Lippen lesen (Julia Probst), denkt niemand daran, dass das vielleicht alles nicht geschehen wäre, wenn sie nicht mit Nicht-Behinderten auf eine Schule gegangen wären.
In einer zweiten Frage kommt dann meistens das praktische Problem der Umsetzbarkeit und ob jedes Kind auf eine inklusive Schule gehen kann? Ich bin der Meinung, dass es geht und es einfach die Mittel und Lehrer dafür geben muss. Den Gegenbeweis muss man mir erst mal darlegen! Auch Studien sagen aus: "Es gibt kein Kind, das nicht integriert werden könnte."
Eine Freundin von mir, Friederike Buhle, hat dazu einen sehr guten Text verfasst, in dem sie über das Problem plus Lösungen schreibt:

"Mit dem Prinzip der Inklusiven Schule, einer 'Schule für alle', nähert sich das Bild des Lehrers dem eines Universalgenies. In einer durchgehend heterogenen Klasse mit Kindern aus unterschiedlichen Herkunftsländern, mit verschiedenen kulturellen, religiösen und auch familiären Hintergründen, aber auch mit den unterschiedlichsten Fähigkeiten und kognitivem Potential, mit Lernschwächen, sozialen Auffälligkeiten und den verschiedensten Arten von Behinderung, soll jedes Kind dort abgeholt werden, wo es gerade steht und individuell nach seinen Möglichkeiten gefördert werden. Das klingt gut, nur kann sich niemand vorstellen, wie es in der Praxis funktionieren soll. Dies setzt bei den Lehrkräften nicht nur entsprechende pädagogische Kompetenzen voraus, sondern auch Expertenwissen auf all diesen Gebieten. […] Inklusive Schule benötigt jedoch neben den entsprechenden materiellen, finanziellen und personellen Ressourcen auch eine Veränderung bezüglich der Didaktik und Methodik, vor allem in Hinblick auf die Einstellung und Haltung des gesamten pädagogischen Personals. Ich habe den Eindruck, insbesondere für alteingestandene Lehrer/innen scheint das Prinzip der Inklusion nur eine weitere Neuerung im Schulsystem zu sein, die bereits jetzt zum Scheitern verurteilt ist. Regelschullehrer/innen haben die Befürchtung, mit der Vielfalt und dem besonderen Förderbedarf behinderter Kinder überfordert zu sein, Sonderpädagogen/innen haben die Unsicherheit, welche Aufgabe und Funktion sie in einer Inklusiven Schule übernehmen werden."

Schlimme Logik

Vor ein paar Monaten kam in der ARD der Film "Inklusion", der sich an das Thema annähern wollte, aber ein komisches Ende fand: Der Junge mit Lernschwierigkeiten hatte bei einer Aufführung eine Panikattacke und wurde deswegen zurück auf die Sonderschule geschickt. Die Rollstuhlfahrerin, die die ganze Zeit über eine unangenehme Zicke war, ist beim Ende der Theatervorstellung unter großem Applaus sogar kurz aus ihrem Rollstuhl aufgestanden und durfte wohl somit auch an dem Gymnasium bleiben.
Eine schlimme Logik, weil sie suggeriert, dass nur der sich anpassen kann und die Leistung bringt, sogar mal "nicht-behindert" zu wirken, darf in der Gesellschaft einen guten Abschluss machen, und für alle anderen bleibt die Sonderschule?
Dieses Bild darf es doch 2012 nicht mehr in den Köpfen gehen, wo wir mit allen technischen und bildungspädagogischen Fortschritt sogar Bilder vom Mars schicken können oder wissen, dass man für manchen Sachen in seinem Kopf einfach nicht verantwortlich sein kann. Deswegen stellt mehr Lehrer ein und bietet Fortbildungen an! Gebt allen Schülern die gleichen Chancen, und wenn sie dann faul sind, dann sollen sie ihre Noten vor den Eltern genauso erklären wie jeder andere, und wenn sie gut sind, dann sollen sie am letzten Schultag auch aus der Schule stürmen, "Feeeeerieeeeen" schreien und wunderbare Urlaube mit ihren Eltern verbringen. Ich freue mich auf die Abwesenheitsnotizen!
Dieser Text entstand für das Inklusions-Blog der Aktion Mensch.



Eine Antwort zu “Inklusion – ein Lehrstück”

  1. Lieber Raúl,
    ich finde deinen Beitrag zum Thema „Inklusion“ wirklich klasse. Und ich muss zugeben, dass es der erste ist, auf den ich antworten kann. Bisherige Artikel/Sendungen zum Thema, auf die ich gestoßen bin, haben mich einfach derart überfordert, dass ich mich jedes Mal mit Kopfschmerzen und völliger Verwirrtheit abgewendet habe- Ich wusste einfach nicht, was ich von der ganzen Angelegenheit halten soll, vor allem, da ich selbst eine Behinderung habe.
    Speziell bei diesem Text hat mich der Satz innehalten lassen, in dem du sagst, dass du Sonderschulen sofort abschaffen würdest. Beim ersten Lesen wollte ich dir von ganzem Herzen zustimmen, da ich als Kind auch auf eine solche abgeschoben werden sollte, obwohl jeder sofort gemerkt hat, dass ich mehr auf dem Kasten habe. Es wäre einfach bequemer so gewesen. Aber auch meine Mutter hat sich auf die Hinterbeine gestellt, ordentlich auf den Tisch gehauen, und zwar so lange, bis ich auf einer normalen Schule war.
    In meiner Klasse war auch ein Mädchen mit Trisomie 21. An die musste ich beim Lesen sofort denken. Sie war immer völlig überfordert in einer Regelschulklasse mit 30 anderen Schülern, die alle nicht behindert waren. Ja, sie hatte weitgehend eine Extra-Betreuungskraft, aber darum ging es nicht. Es war einfach die Atmosphäre an sich, das Einzeln-Sein und diese vielen Dinge, die einfach anders gelaufen sind, als sie sich das im Kopf vorgestellt hat. Der Geräuschpegel, der normale Unterrichtsablauf, usw. Es war wirklich die totale Quälerei für sie. Man konnte fast die Uhr danach stellen, wann sie wieder einen hysterischen Anfall kriegt und wahlweise ihren Kopf irgendwo dagegenhaut oder sich die Haare rauft und schreiend aus dem Zimmer rennt.
    Was ist denn dann mit diesen Menschen, wenn es keine Sonderschulen mehr gibt? Wenn es nach dem Prinzip der Inklusion geht, müssen sie das einfach alles aushalten. Finde ich eine absolute Horrorvorstellung, ehrlich. Auch für die nichtbehinderten Schüler. Es gibt verschiedenste Arten von Behinderungen. Manche weniger schlimm, manche aber auch wirklich belastend für Außenstehende. Ich habe die letzten zweieinhalb Jahre meines Schullebens in einer Schule für Körperbehinderte verbracht, und selbst für mich als „Betroffene“ war es manchmal der Horror. Da lachst du mit deinem Mitschüler, der Muskeldystrophie hat, am letzten Schultag vor den Ferien, freust dich mit ihm auf die freie Zeit. Nach zwei Wochen kommst du wieder und findest einen leeren Tisch neben dir, weil dein Mitschüler gestorben ist. Oder du begegnest tagtäglich jemandem, der offene Wunden hat, schwerstmehrfachbehindert ist und ständig spuckt, usw. Wenn selbst ich als Behinderte Schwierigkeiten habe, 24/7 damit umzugehen, wie geht es dann erst einem Nichtbehinderten, der noch nie damit konfrontiert wurde? Erst Recht, wenn er es von seiner Familie nicht gelernt hat.
    Ich finde, das Problem sind nicht die Sonderschulen an sich, sondern die Art und Weise, wie sie gesehen werden, welchen Stellenwert sie in der Gesellschaft haben und wie schlecht die Schüler dort teilweise tatsächlich gefördert werden. Natürlich auch, dass zu mindestens 50 bis 70 % die falschen dorthin gesteckt werden. Meine ehemalige Mitschülerin wird nie einen Schulabschluss in dem Sinne machen, wie es ein Nichtbehinderter oder rein Körperbehinderter tut. Das ist einfach so, weil ihre Behinderung so schwer ist, aber deshalb ist es ja nicht gleich schlimm oder gar minderwertig. Oder?
    Es ist das DENKEN, das sich ändern muss. So lange mich andere Jugendliche in meinem Alter oder andere Erwachsene als „Scheißkrüppel“ beschimpfen, wenn sie mich auf der Straße sehen oder ich werdende Mütter beim Kaffeeklatsch im Stammcafé höre, die sagen: „Also ne, so’n behindertes Kind lass ich auf jeden Fall abtreiben, das geht ja gar nicht!“, so lange kann meiner Meinung nach inklusioniert werden, wie man lustig ist, und es wird nach hinten losgehen.
    Puh, das ist ja fast ein eigener Blogeintrag! Freue mich über deine Rückmeldung!

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