Ich besuche eine Freundin in Hamburg. Gemeinsam machen wir uns auf den Weg zum Zoo. Wir verbringen einen schönen Tag dort und haben eine gute bayrische Butterbreze zum Abschluss. Dass ich danach noch zwanzig Minuten in der toilettenfreien U-Bahn verbringen muss, vergesse ich dabei. Unsere Gespräche und die Tatsache, dass ich nach vielen Wochen endlich einmal wieder aus dem Haus kann, lassen mich verdrängen, dass ich mit einer chronischen Darmerkrankung lebe, die kontrolliert, wann, wie viel und was ich esse. Viele Lebensmittel vertrage ich nicht. Und an schlechten Tagen ist es egal, was ich zu mir nehme, alles findet sofort einen Weg hinaus. Dieser Tag ist ein besonders mieser, was ich wenig später auf recht unschöne Art herausfinden soll.
Wir machen uns auf den Heimweg. Zwischen mir und meiner Unterkunft liegen 40 Minuten, wovon die Hälfte mit der U-Bahn zurückgelegt wird. U-Bahn zu fahren ist für mich besonders schwierig, denn dort gibt es keine Toiletten und oft auch nicht die Möglichkeit schnell auszusteigen. Nach nur fünf Minuten merke ich, wie sich mein Magen zusammenzieht und zu krampfen beginnt. Ich schwitze stark und mir wird übel. Diese Beschwerden kenne ich bereits. Sie sind ein Zeichen mich schnellstmöglich auf die Suche nach einer Toilette zu machen. Doch ich sitze in einer fahrenden U-Bahn. ”Bitte nicht jetzt!”, denke ich, ”dämliche Butterbrezel!” Ich werfe meiner Freundin einen schmerzverzerrten Blick zu und sie versteht schnell. ”Die Breze?”, fragt sie. Sie lebt mit ähnlichen Beschwerden wie ich und kann besser als die meisten anderen Menschen deuten, wie ich mich gerade fühle. Ich erkläre ihr, dass ich sofort aussteigen muss und frage, ob sie sich in der Gegend auskennt und mir sagen kann, wo ich am einfachsten eine Toilette finden kann. Sie schüttelt nur den Kopf. Die Nervosität nicht zu wissen, wo man Erleichterung finden kann, macht alles nur noch dringlicher.
Ich springe bei der nächsten Haltestelle aus der U-Bahn, platziere meine Freundin auf einer Bank und rufe ihr im Weglaufen zu, sie soll dort auf mich warten, ich würde sie schon wieder finden. Ohne Zeit zu verlieren, sprinte ich so schnell ich kann (was in den Augen der meisten gesunden Menschen vermutlich einer Schnecke gleicht) aus dem U-Bahn-Tunnel und in Richtung Straße. Nervös sehe ich mich um. Meine Krämpfe nehmen zu und nach jedem zweiten Schritt krümme ich mich kurz. Auf der anderen Straßenseite bemerke ich ein offiziell aussehendes Gebäude aus dem Menschen kommen. Zielstrebig bewege ich mich auf die offene Türe zu, als ich den Sicherheitsdienst und einen Metalldetektor sehe. Schon fast glücklich, frage ich, ob ich deren Toiletten nutzen darf. Die Antwort fällt kurz aus: ”Einlass nur mit Termin.” Ich habe keine Zeit zu betteln oder zu diskutieren und laufe planlos weiter.
Kein Restaurant, kein Coffee Shop, kein Supermarkt. Ich versuche meinen Darm mit der Kraft meines Geistes zu kontrollieren. Funktioniert nicht. Nach weiteren fünf Minuten finde ich ein Restaurant, dessen Eingangstür einen Spalt geöffnet ist. Auf dem großen Schild das quer davor steht ist in auffälliger weißer Kreide geschrieben: Geschlossen. ”Was soll’s”, denke ich mir, ”einen Versuch ist es wert.” Ich krame mein letztes Bargeld – ca. 3 Euro in 10- und 20-Cent-Münzen – aus meiner Tasche, klopfe ordentlich gegen die Tür und betrete dann das Restaurant. Ein jüngerer Herr mit dunklen schwarzen Haaren steht hinter einer Theke und setzt gerade an zu sprechen. Ich unterbreche ihn – schließlich bin ich mir völlig bewusst, dass sein Laden geschlossen ist – lege ihm mein Kleingeld auf den Tisch und sage mit zitternder Stimme: ”Ich bezahle, was auch immer Sie wollen. Aber ich muss so dringend zur Toilette. Darf ich bitte Ihre nutzen?” Er schaut etwas irritiert, aber scheint zu verstehen, dass ich keine große Wahl habe. Das mag albern klingen, doch in diesen Momenten könnte man mir vermutlich alles verkaufen. Denn was ist denn die Alternative?
Mit einer Darmerkrankung aus dem Haus zu gehen, erfordert präzise Planung. Meistens suche ich über Google Maps Restaurants oder andere mögliche Toilettenstops entlang meiner Route – nur für den Notfall. Doch diesmal bin ich in einer fremden Stadt und habe keine Zeit alles genau zu planen. Nur ein einziges Mal lasse ich meine Routine schleifen und sofort bekomme ich die Quittung. Ich ärgere mich über meinen Mangel an Disziplin und schwöre mir, dass mir das kein zweites Mal passiert. Doch im Leben mit solchen Krankheiten lässt sich oft einfach nicht alles planen. Umso netter ist es, wenn ungeplante Begegnungen so positiv verlaufen und meine Mitmenschen – in diesem Fall der Restaurantbesitzer – mir mein Leben erleichtern.
Zurück von der Toilette bedanke ich mich überschwänglich bei ihm und überlege kurz, ob ich zumindest einen Teil meiner Geschichte erklären soll, entscheide mich dann aber dagegen. Nach einer halben Stunde erreiche ich völlig erschöpft meine Freundin, die immer noch auf der Bank sitzt und mir mittlerweile drei besorgte Textnachrichten geschickt hat. Ihr muss ich nichts erklären. Sie versteht. Doch das ist nicht immer der Fall. Wenn ich solche Erlebnisse mit Menschen teile, die nicht selbst mit einer chronischen Krankheit oder Behinderung leben, lachen sie oft. Sie finden es lustig, dass ich in jeder erdenklichen Alltagssituation plötzlich losrenne ohne mich zu verabschieden. Sie können nicht nachvollziehen, dass ich die Situationskomik durchaus sehe, aber mir dabei so gar nicht zu Lachen zumute ist, weil ich nicht nur starke Schmerzen habe, sondern gleichzeitig unter immensem Stress stehe, mich nicht wahnsinnig zu blamieren.
Keine Kontrolle über den eigenen Körper zu haben und zu wissen, im schlimmsten Fall bahnt sich der Darminhalt seinen eigenen Weg, ist unangenehm genug. Wenn dann aber noch darüber gelacht wird, fühlt es sich für mich so an, als würde diese Situation, die so unglaublich stressig, schmerzhaft und entwürdigend ist, von meinen Mitmenschen abgewertet und nicht ernst genommen werden. Und genau dieses ”sich nicht für voll genommen” fühlen, führt dazu, dass sich viele Menschen mit chronischen Darmerkrankungen und der damit verbundenen unsichtbaren Behinderung dann lieber zuhause aufhalten und von einem Leben ausgeschlossen werden, dass sie genauso verdient haben, wie jeder andere Mensch.
Mit chronischen Darmbeschwerden zu leben, ist im wahrsten Sinne des Wortes ziemlich beschissen. Alleine dieses Thema anzusprechen, lässt mich peinlich berührt zurück. Dennoch ist es so wichtig, dass wir darüber sprechen. Ich teile diese Geschichte, weil ich will, dass unsere nicht-behinderten Mitmenschen besser verstehen, mit welchen alltäglichen Schwierigkeiten wir zu kämpfen haben. Sie müssen wissen, dass Situationen, die auf den ersten Blick lustig erscheinen mögen, für uns kein Grund zum Lachen sind. Sie sollen vor allem realisieren, dass es unzählige unsichtbare Erkrankungen und Behinderungen gibt, die alle ganz unterschiedlich sind, aber eines gemeinsam haben: Sie interessieren sich nicht für Alter oder Geschlecht. Sie können jeden treffen – auch bis dato gesunde, nicht behinderte Menschen.
(Nachtrag: Eine hilfreiche Innovation für alle Betroffenen von chronischen Darm- oder Blasenerkrankungen ist der EU-Toilettenschlüssel mit dem man Zugang zu vielen behindertenfreundlichen Toiletten in ganz Deutschland (und teilweise im Ausland) hat.