Immer wieder höre ich den Satz: „Ich sehe dich nicht (mehr) als Behinderten.“ – Was wohl gut gemeint ist, kommt bei mir leider nicht immer so an.
Immer wieder versuchen Menschen, oft Menschen ohne Behinderungen, mich von meiner Behinderung zu trennen. Nicht nur ich, auch andere Menschen mit Behinderungen kennen die Sätze, die anfangen mit: „Manchmal vergesse ich, dass du im Rollstuhl sitzt.”
Wenn man solche Dinge zu mir sagt, dann ist es wahrscheinlich gut gemeint. Oder vielleicht denkt man, es wäre nett und motivierend. Aber ich empfinde es nicht so. Im Gegenteil.
Meine Behinderung beeinflusst mich immer und überall. Ich kann (und will) sie nicht einfach ablegen, wie ein unbequemes Hemd oder einfach ignorieren, wenn ich vor einer Stufe stehe. Alle Erfahrungen, mein Alltag und auch meine Gedanken befassen sich jeden Tag damit. Meine Behinderung ist Teil meiner Identität. Und das ist gut so.
Wenn ich vor Barrieren stehe, heißt es oft: „Das Leben geht weiter. Lass dich davon nicht unterkriegen. Denk nicht so viel darüber nach.“
Aber genau das kann und will ich nicht! Ich denke die ganze Zeit darüber nach.
Ich denke darüber nach, ob ich genug Zeit und Energie habe, die Dinge zu tun, die ich tun möchte, ohne ständig jede Eventualität einplanen zu müssen. Wie lange brauche ich mit dem Rollstuhl von A nach B? Was mache ich, wenn ein Aufzug auf dem Weg defekt ist? Ich denke darüber nach, welche Aktivitäten für mich sicher sind und wie ich für diese Priorität einräumen kann. Welchen Rollstuhl nehme ich am besten? Den Elektrischen, mit dem ich keine Treppen hoch kann aber unabhängig bin? Was wenn meine Freunde lieber spontan woanders hin wollen, und ich am Ende mit dem Elektrorollstuhl nicht mitkommen kann? Ich denke darüber nach, wie ich mich fühle, bevor ich das Haus verlasse. Habe ich Lust, mich von meinem Assistenten im Schieberollstuhl zur Veranstaltung bringen und abholen zu lassen? Wie damals, als ich Kind war? Wie weit muss ich das im Voraus planen? Was mache ich, wenn ich früher/später gehen will, mein Assistent aber noch/schon frei hat?
Ich denke über meine Behinderung nach und ich will mich gar nicht darüber beschweren, denn ich fühle mich gut als behinderter Mensch – auch wenn ich mir wünschen würde, in einer barrierefreieren Welt zu leben, die es etwas unnötiger machen würde, ständig über Behinderungen nachdenken zu müssen.
Meine Behinderung gehört zu mir und ist von überwältigender Wichtigkeit für mich. Wenn Menschen mich von meiner Behinderung zu trennen versuchen, dann leugnet man die Kraft meiner Behinderung und den enormen Einfluss, den sie auf mein Leben hat.
Für Menschen ohne Behinderungen ist das vielleicht schwer oder gar nicht nachvollziehbar, weil auch jedes Selbstexperiment mit Rollstuhl, dunkler Sonnenbrille oder Kopfhöhrern irgendwann endet. Meistens dann, wenn es nervt oder weh tut. Oft bleibt dann der Gedanke übrig, dass man die Behinderung „ablegen” kann, weil das ja auch das Selbstexperiement gezeigt hat. Für Menschen mit Behinderung ist es jedoch langfristig gar nicht möglich die eigene Behinderung zu vergessen. Ich habe es eine Zeit lang versucht. Ich wollte meine Behinderung in den Hintergrund schieben. Das Ergebnis?
Es hat nicht funktioniert.
Ich habe mich selbst belogen. Ich habe mehr Dinge zugesagt, als ich in der Zeit schaffen konnte. Egal wie sehr ich es versuchte, meine Behinderung zu verleugnen, es gelang mir nicht und ich wurde frustriert, traurig und unternahm immer weniger.
Das Ignorieren von Behinderungen kann auch nach hinten losgehen, wenn man der Person mit Behinderung die Schuld für ihre Einschränkungen gibt, weil man diese nicht wahr haben will. Dass ich beispielsweise einen Rollstuhl nutze, bedeutet auch, dass ich mehr Zeit für einige Strecken brauche und es ist dann keine Faulheit, wenn ich später komme oder vielleicht auch gar nicht. Wenn man solche Tatsachen ignoriert, weil die „Behinderung doch kein Teil” von mir ist, dann wird das früher oder später zu Missstimmungen in Teams oder Beziehungen führen. Denn es ist nicht meine Schuld, dass ich eine Behinderung habe und, dass mein Körper anders funktioniert als die meisten anderen Körper, die ich so kenne. Kein Wille und kein Glaube, keine Medizin, keine Technik können das ändern.
Ich definiere mich deswegen als behindert, weil ich es einfach bin. Ich beleidige mich nicht damit, weil dieses „behindert“ keine Beleidigung für mich ist. Ich lasse mich nicht dadurch definieren, denn es definiert mich eh. Ich stelle mir nur eine Frage: bin ich behindert oder werde ich behindert?
Wenn ich sage „Ich bin behindert“, dann ist das kein Selbstmitleid, keine Selbstaufgabe und kein Eingeständnis für Schwäche. Ich bin stark, wertvoll und behindert. Ich bin liebevoll, mitfühlend, selbstbestimmt und habe Glasknochen.
Das sind keine Widersprüche: Ich sage und bestimme, wer und wie ich bin.
Ich habe mit vielen Menschen mit Behinderungen gesprochen, die es genau so empfinden. Wenn wir sagen „Wir sind und werden behindert“, dann machen wir uns, unsere Körper und unsere Bedürfnisse geltend.
Deshalb ist meine Bitte:
Ignoriert unsere Behinderungen nicht. Wir brauchen keinen Trost. Wir brauchen Empathie und eine barrierefreie Welt.
Update:
„Queer Cripple“ sieht es ganz genauso:
http://queercrip.tumblr.com/post/104876484937/please-stop-saying-dont-let-your-disabilities
(Danke an Rebecca Maskos für den Hinweis)
8 Antworten zu “„Manchmal vergesse ich, dass du im Rollstuhl sitzt.” – Meine Behinderung & ich”
[…] glaube dass meine Freunde mich als Freund wahrgenommen haben. Ich war gar nicht so der Exot, wie man vielleicht glauben mag. Als Kind haben mich die Blicke der Menschen auf der Straße aber schon genervt, erst mit […]
[…] – statt als Mensch mit Behinderung.” Was ich aber leider oft heraushöre ist, dass man die Diskriminierung, der ich als Mensch mit Behinderung ausgesetzt bin, nicht sieht. Und das trifft […]
DAS IST WICHTIG;;ICH GEHE AM ROLLARTOR;;UND SEHE OFFT WENN bUSS VOLL IST IST ES FURCHTBAR KEIN PLATZ: DIE ROLLSTULLFAHRER MÜSSEN EIN PLATZ HABEN FÜR EIN ROLLSTUHLFAHRER;;:
Ich kann mir gut vorstellen, wie eingeschränkt man sich als Rollstuhlfahrer fühlen muss. Zum Glück leben wir aber in einer Zeit, in der auf Gehbehinderungen Rücksicht genommen wird und unser Umfeld immer rollstuhlgerechter wird.
Vor ein paar hundert Jahren muss das Leben mit einer Gehbehinderung deutlich unangenehmer gewesen sein. Heutzutage gibt es allerlei Hilfsmittel für Rollstuhlfahrer (z.B. Rollstuhlrampen), die einen Rollstuhlfahrer in seiner Bewegungsfreiheit stärken.
Meiner Meinung nach sollte man Rollstuhlfahrer genau so wie andere Menschen auch behandeln, aber auf keinen Fall so tun, als würden sie nicht im Rollstuhl sitzen. 🙂
Ich habe keine Behindertenwohnung recht und schlecht komme ich zurecht!
bin 100% behindert, kann leider meinen Hausmüll nicht selbst entsorgen, der weg ist viel zu weit-
ein Aufzug der viel zu eng und klein ist ich muß mich rein pressen somit kann ich leider den Müll nicht
entsorgen. es gibt zwar einen hausmeister ich weiß überhaupt nicht warum ich den bezahhle.
um ab und zu den müll zu entsorgen zahle zusätzlich zur miete im monat 50,Euro. ich hab nur eine kleine Rente – wie kann ich mir helfen. es ist unerträglich wer kann mir einen rat geben sitze im Rollstuhl bin 73 Jahre. Anwälte lassen prosseskostenhilfescheine sich unterschreiben und dann hörst nichts mehr ausser das sie dich vertrösten
Als nicht Rollstuhlfahrer, ist es nicht einfach sich vorzustellen, wie eingeschränkt man sich als Betroffener fühlen muss. In Sachen Barrierefreiheit gibt es auch in unserer heutigen Zeit noch einiges nachzuholen. Zum Glück wird auf Personen mit Gehbehinderung vermehrt Rücksicht genommen und sollte auch normal sein. Menschen mit Behinderung sollten so normal wie alle anderen auch behandelt werden und in die Gesellschaft integriert werden, wie alle anderen auch.
Und wieder tönt es „Einschränkung, Einschränkung“ und Mitleid, Mitleid.
Nein, liebe Leute, das ist nicht das, was ich in obigem Text lese – einen Aufruf zum Bemitleiden (oder Bewundern), und auch nicht, was ich – selbst Rollstuhlfahrerin – lebe.
Es geht nicht um Bewundern, Bemitleiden, Bedauern. Es geht „einfach nur“ um Miteinbeziehung („Rücksicht“ ist auch schon wieder so ein nach unten schielendes Mitleidswort in meinen Augen) objektiver Begebenheiten, fertig.
Guten Abend Raul,
ich habe deinen Artikel gerade bei Twitter entdeckt und finde ihn nicht nur gut geschrieben, sondern auch die Fragen – ich formuliere das jetzt einfach mal frei – „Behinderung und Identität“ und „Behinderung und Prioritäten setzen“ sehr spannend. Ich erlebe es so, dass viele Aspekte fließend ineinander übergehen.
Ich bin beispielsweise hochgradig sehbehindert (nach dem Gesetz blind) und bekomme auch immer wieder den Satz zu hören, dass Leute vergessen, dass ich sehbehindert bin, weil ich mich beispielsweise in meiner gewohnten Umgebung sicher bewege. Für mich meint das „vergessen“ aber auch, manche Dinge als selbstverständlich hinnehmen, wie z.B. wenn es in einem Film Untertitel gibt, dass mir diese vorgelesen werden und ich nicht jedes Mal daran erinnern muss. Somit werden die Dinge ausgeglichen, die ich aufgrund meiner Sehbehinderung nicht kann.
Dann ist da noch dieser andere Aspekt. Das „mehr Zeit für Dinge brauchen“. Dieser Punkt ist mir gerade während des letzten Jahres bewusst geworden, weil sich mein Sehrest hier verschlechtert hat. Und ich bin mir bei manchen Sachen immer noch nicht ganz sicher, ob es ein „sich auf seiner Behinderung ausruhen“ oder ein „Prioritäten setzen“ ist. An dieser Stelle auch wieder zwei Beispiele: Wenn ich mit Leuten unterwegs bin, lasse ich mich gerne führen. Das liegt zum einen daran, dass ich dann neben den Personen her laufen kann und mich zum anderen nicht auf die Umgebung, sondern auf unser Gespräch konzentrieren kann. Ich würde es durchaus hinbekommen, mit dem Langstock nebenher zu laufen. Es wäre für mich aber anstrengender.
Das zweite Beispiel, das mir auch vermehrt bei vollblinden Freunden aufgefallen ist: Freunden fällt etwas herunter. Anstatt, dass sie erst selbst schauen, ob sie es finden, fragen sie sofort denjenigen, der besser sieht. Früher war das dann immer mein Part und irgendwann begann es mich zu nerven. (Dazu muss man sagen, dass 1-2 meiner Freunde auch nicht gerade ordentlich waren 🙂 ). Nachdem sich mein Sehrest verschlechtert hat, weiß ich ungefähr, wie sie sich fühlen. Natürlich achte ich darauf, es erst einmal selbst zu probieren, aber es gibt dann die alt bekannten Momente in denen es „schnell“ gehen muss. Und ich vermute, dass viele Leute glauben, dass es sich Behinderte an dieser Stelle „einfach“ machen. Ich bin mir aber nicht sicher, wie hier die Grenzen klarer gezogen werden können.
Soweit also zu meinen Gedanken.
Deinen Beitrag verlinke ich Ende Februar in meinem Monatsrückblick.
viele Grüße
Emma