10 Missverständnisse über Sex und Behinderung

Zwei rollstuhlfahrende Menschen lieben sich.
Behinderung und Sexualität ist ein Tabu. Am 25. September 2012 gab ich dazu mal ein längeres Interview beim Küchenstudio-Podcast. Wenn man behindert ist/wird, ist es nicht unbedingt einfacher einen Partner oder Partnerin zu finden. Aber es ist möglich. Auch Menschen mit Behinderung heiraten, haben Sex und können Kinder bekommen.

Eigentlich kann man kaum einen Tag verbringen ohne irgendwo mit dem Thema konfrontiert zu werden: Sex!
Egal, ob in den Medien, auf Plakaten oder beim Gespräch am Nachbartisch (und am eigenen) in einem Café, allgemein ist der Koitus kein Tabu mehr. Trotzdem können sich viele Menschen überhaupt nicht vorstellen was wirklich in den Schlafzimmern von/mit Menschen mit Behinderungen geschieht. Daher habe ich hier eine von “The Mobilitiy Ressource” inspirierte Liste übersetzt und mit meinen Erfahrungen ergänzt. Vorurteile, die auch ich so oder ähnlich schon einmal von Menschen gehört bzw gesagt bekommen habe.
Vorurteil 1: Behinderte Menschen sind asexuell.
Der Wunsch, die eigene Sexualität zu leben, wird nicht von einer Behinderung gemindert. Die meisten Menschen mit Behinderung sind natürlich auch an Sex interessiert. Egal ob heterosexuell, homosexuell, bisexuell oder sexuell verwirrt, Behinderte Menschen sind genau wie der Rest der Menschheit – und ja, vielleicht sind auch manche asexuell. Nur die meisten sind es nicht.
Vorurteil 2: Behinderte Menschen können nicht “sexy” sein.
Grundsätzlich ist schwer zu sagen, was „sexy“ ist und was nicht. Jeder empfindet das anders.
Eine Behinderung macht nicht standardmäßig “unsexy”. Wieso denken aber scheinbar viele Menschen, dass das so ist?
Wahrscheinlich weil sie zu selten auf Menschen mit Behinderungen treffen und man sich natürlich auch nicht automatisch in jeden Menschen verliebt, der einem begegnet. Meine Behinderung nimmt mir nicht automatisch meine Schönheit. Bestimmt habe auch ich eine “sexy” Seite, genauso wie jede/r andere auch. Projekte wie AnderStark sind der beste Beweis dafür.
Vorurteil 3: Behinderte Menschen mögen es nicht an Stellen angefasst zu werden, an denen sie nichts fühlen oder etwas “kaputtgehen” kann.
Wenn man es mit einem Menschen mit Lähmung oder Glasknochen zu tun hat, kommt es oft zu dem Missverständnis, dass diese es nicht mögen an ihren gelähmten / zerbrechlicheren Körperstellen berührt zu werden. Oft wird angenommen, derjenige findet es merkwürdig, gefährlich oder wird daran erinnert, was er/sie nicht (mehr) hat. Aber das ist meist nicht wahr! Viele von Menschen mit Behinderung können auch an gelähmten Körperteilen etwas spüren und wollen genauso Action im Bett wie Nichtbehinderte auch. In dem Film „Ziemlich beste Freunde“ wurde es in einer Szene gut gezeigt, als der Rollstuhlfahrer einfach sagte, dass es ihm gefällt an den Ohren gestreichelt zu werden. Also los! Traut euch nachzufragen und liebt jeden Zentimeter, der geliebt werden will!
Vorurteil 4: Behinderte Menschen genießen es nicht.

Wenn du gelähmt / nicht so beweglich im Bett bist, dann hast du doch eh nichts vom Sex. Also warum die Mühe?

Das ist ein weit verbreitetes Missverständnis. Aber die Wahrheit ist, dass der menschliche Körper auch auf tiefgründige Weise sexuelle Lust empfinden kann. Sexualität hängt nicht nur mit dem zusammen, was auf Nerven oder Knochen-Ebene empfunden wird. Vielleicht empfinde ich nicht genau das gleiche, aber trotzdem genieße ich jede Minute der Intimität. Interessanterweise ist das Gehirn das wichtigste Geschlechtsorgan.
Vorurteil 5: Sex macht Menschen mit Behinderung traurig.
Nicht der Sex, sondern diese Annahmen machen mich traurig. Mir begegneten Menschen, die sich darum sorgten, dass Sex mich an meine Behinderung erinnert und dass der fehlende Spaß am Sex zu viel für mich ist. Aber Überraschung: Der menschliche Körper will sich fortpflanzen und eine Behinderung macht Sex nicht zur traurigen sondern zu einer der schönsten Sachen der Welt!
Vorurteil 6: Behinderte Menschen sind langweilig im Bett.
Vielleicht bin ich kein Turner im Bett, aber trotzdem gibt es Tricks und Gadgets. Menschen mit Behinderung sind definitiv nicht alle auf Blümchensex aus. Von Hilfen wie dem Intimate Rider (http://www.intimaterider.com – der dabei hilft in die richtige Position zu kommen) bis zum Deckenlift – gibt es viele Ideen, um tolle Positionen einzunehmen. Das ist alles andere als langweilig!
Vorurteil 7: Männer in Rollstühlen können keine Erektion bekommen (oder Vater werden).
Einige Männer im Rollstuhl mögen Erfahrungen mit Erektionsproblemen haben. Doch das heißt nicht, dass sie gar keine Erektion haben können. Viagra und einige andere Potenz steigernde Medikamente haben die Tore zur Erektion für Männer mit Behinderungen geöffnet.
Und wenn genug Geld vorhanden ist, dann kann das Vater werden auch mit einer chirurgischen Samenentnahme erreicht werden. Viele Rollstuhlfahrer können aber sehr wohl ejakulieren und ganz auf solche Hilfsmittel verzichten.
Vorurteil 8: Frauen im Rollstuhl können keine Kinder bekommen.

Manchmal sind Frauen im Rollstuhl nicht ganz so fruchtbar wie andere. Aber auch sie können und wollen zuweilen schwanger werden. Natürlich gibt es Unterschiede: Beispielsweise brauchen einige Frauen mit Rückenmarksverletzungen einen Kaiserschnitt. Da der Körper aber auch ohne zusätzlichen Druck durch die Mutter entbinden kann, brauchen auch den nicht alle.
Wenn keine Kinder geplant sind: Immer schön auf die Verhütung achten 😉
Vorurteil 9: Frauen im Rollstuhl können keinen Orgasmus bekommen.
Orgasmen können definitiv auch Frauen mit Behinderung bekommen. Wenn überhaupt, dann kann es sein, dass einige Frauen andere Wege als körperliche Lust nutzen, um ihren Höhepunkt zu erreichen. Jeder Mensch ist dabei anders und hat seine eigenen erogenen Zonen. Außerdem gibt es auch den mentalen Orgasmus, den man sich zu Nutze machen kann.
Vorurteil 10: Behinderte Menschen haben Sex-Entzug.
Ja, das stimmt leider viel zu oft. Viele Menschen mit Behinderung müssen lange warten/suchen um einen Partner zu finden. Nichtbehinderte Menschen denken oft, dass Behinderte Menschen asexuell sind und ziehen Menschen mit Behinderung viel zu selten als (Sexual)partner/in in Betracht.
Aber auch wenn der Anteil an potentiellen Partnern vielleicht nicht ganz so hoch ist, als wenn ich laufen könnte, so gibt es auch Menschen, die keine Bedenken haben und es einfach machen. Es sollten einfach mehr sein.
Wie ist es bei euch? Was sind die Missverständnisse und Vorurteile, mit denen Ihr so zu tun habt? Was ist eure Meinung zu Sex und Behinderung?



19 Antworten zu “10 Missverständnisse über Sex und Behinderung”

  1. Ich bin seit meiner Geburt Schwerbehindert, habe eine Tetraspastik und eine damit einhergehende schwere Gehbehinderung…. Mein Mann ist auch Behindert, er ist auch Spastiker, hat aber „nur“ eine Lähmungserscheinung des linken Armes.Wir sind seit 32 Jahren verheiratet und haben keine Probleme beim Sex gehabt, wir sind Eltern von 4 GESUNDEN Kindern und inzwischen stolze Großeltern von 3 ebenso gesunden Enkelkindern!
    Es regt micht echt auf, dass Thema……

  2. Ich habe grade mal 50%, muss mich schon fast schämen, wenn ich sehe, womit Ihr Euch so alle rumquält…
    https://fbcdn-sphotos-a-a.akamaihd.net/hphotos-ak-ash3/935953_10200740536149968_21040443_n.jpg
    Hier, nimm das als Beweis zur Wiederlegung aller Vorurteile. Ich würd‘ ja vorbei kommen und das beweisen, aber dann wäre mein Mann sehr unglücklich und das will ich ihm nicht antun.
    Ich wüste ja auch gar nicht, ob das passt. Wie riechst Du denn? Wie schmeckst Du denn? Und gibt es zwischen uns eine seelische Verbindung? Die drei Sachen sind für mich viel wichtiger, die wichtigsten überhaupt.
    Mit dem Orgasmus hast Du Recht. Ich krieg schon mal einen Orgasmus, nur weil ich an Sex denke. Ist mir mal im Bus passiert. Ich hing so meinen Tagträumen nach und hab auch gar nicht aufgepasst, da rutscht mir doch ein erregtes Stöhnen raus. Der Mann neben mir, älterer Herr, schätzungsweise 70 Jahre alt, guckt mich ganz streng von oben herab an und rutscht gleich ein Stück weg von mir. Man war mir das peinlich. auf der anderen Seite aber auch wieder witzig anzusehen. Ihr hättet mal sein entsetztes Gesicht sehen sollen.

    • Man müsste halt gewillt sein sexy so zu Interpretieren wie es ist.
      Wenn ich mir vorstellen das mich diese Frau mit ihren Fangeisen
      in der Mangel hat. Ja doch sehr sexy und sehr erotisch

  3. Ich bin Epileptiker seit mehr als 50 Jahren. Ich habe Probleme, sicher auch zum teil „hausgemacht“, Kontakte zu knüpfen. Speziell mit Frauen. Dies ist auch auf meine Einstellung der Behinderung gegenüber zurückzuführen. Jedenfalls bezeichne ich mich nicht als asexuell, auch wenn ich zur Zeit, mangels Partnerin die Sexualität nicht ausleben kann. Ich habe einen Sohn, die Fruchtbarkeit ist also geklärt. Allerdings habe ich, vermutlich durch die konstante Einnahme dämpfender Medikamente über diesen langen Zeitraum, Erektionsprobleme. Auch hier will ich nicht ausschließen, daß diese psychischen Ursprung sind, also nicht direkt durch die Behinderung verursacht.

  4. Vorurteil 11: Aus meiner Sicht denken Frauen, dass behinderte Menschen noch nie Sex hatten und deswegen nur das eine wollen, aber so ist es nicht.
    Vorurteil 12: Aus meiner Sicht denken Frauen, dass behinderte Menschen Frauen nur nackt sehen wollen nur, weil man ihnen mal hinterher guckt und auch , je mehr und öffters man von Frauen Haut sieht, man auch öffters und mehr guckt. Dabe gibt es auch behinderte Menschen, die einer Frau aus schönheit hinterher gucken und nicht aus sexuellen Gründen, so wie es bei mir ist.
    Ps: Ich finde es schon sehr beleidigend, feige und krank, dass Frauen meinen privat nichts mit
    behinderten Menschen zu tun haben zu wollen und dadurch auch nicht merken, was sie
    behinderten Menschen für ein scheiß Leben schenken, was das Thema betrifft, indem sie privat
    nichts mit behinderten Menschen zu tun haben wollen. So sollten wir behinderten Menschen
    vielleicht mal hoffen, dass Frauen, die privat nichts mit behinderten Menschen zu tun haben
    wollen, so schnell wie möglich ein schweren Unfall haben oder eine schwere Krankheit
    bekommen, sodass sie hinterher selber behindert sind und selbst merken wie beleidigend es
    ist, wenn man dann auch nichts mit ihnen zu tun haben will!!!

  5. Ps: Frauen, die Privat nichts mit behinderten Menschen zu tun haben wollen, haben in mein Augen
    auch kein Gehirn, kein Verstand und kein Herz für behinderte Menschen!!!

  6. Ich hab keine Behinderung und hab mich in dem oben genannten Artikel für ziemlich dumm verkauft gefühlt. Ich hab keines der oben genannten Vorurteile. Ich wollte eigentlich nur wissen wie die empfindlichkeit der Geschlechtsorgane z.B. bei einer Lähmung der Beine beeinträchtigt ist. Oder wie sexuell aktiv man nach einer Querschnittslähmung noch sein kann. Oder ist es dann so viel schwieriger Lust zu empfinden, dass man es dann vielleicht meist einfach lässt? Die Sätze: „Jeder Mensch ist dabei anders und hat seine eigenen erogenen Zonen. Außerdem gibt es auch den mentalen Orgasmus, den man sich zu Nutze machen kann.“ Sind für mich super wenig informativ. Das ist bei Menschen ohne Behinderung ja das gleiche, aber einen mentalen Orgasmus zu bekommen ist halt viel schwieriger. Ich hab noch nie von jemandem gehört der so einen Höhepunkt hatte. Oder fällt das Menschen mit Behinderung perse leichter als „normalos“?

  7. Hallo Raul,
    der Blogbeitrag hier spricht mir aus der Seele. Vorurteil 10. Ich sehne mich oft nach Liebe, körperlicher Nähe und Sex, aber ich bin schon lange Single. Bisher leider kein Glück bei der Suche nach einem Jahr.
    Lorenzo

  8. Ich bin durch einen Unfall schwerbehindert. Bin mit einer lieben Frau verheiratet, es die überhaupt keinen Bock auf Sex hat. Wie gehe ich damit um?

  9. Hallo, ich bin 43 komme aus einer Stadt in Mitteldeutschland und seit meiner Geburt behindert. Ich muss zugeben einige der Vorurteile sind mir in meinem Leben durchaus begegnet aber ich denke persönlich man muss die Sache anders angehen. Es scheint narzisstisch zu klingen aber ich sage mir – ich bin der Normale und die anderen haben das Problem. Und das strahle ich auch für meine Umwelt aus. Lustigerweise habe ich seit vielen Jahren deshalb ein aktives Sexualleben – und ich stehe dazu – nicht nur in Partnerschaften auch ONS oder Besuche bei Damen des Gewerbes habe ich erlebt – manche waren mit mir überfordert andere überrascht und auch wenn ich Spastiken habe – es gibt mehr als nur Penis und Vagina – z. B. Finger, Zunge und diverse Spielzeuge von diversen Anbietern. Überraschenderweise waren alle Partnerinnen die ich hatte nicht behindert und das zeigt doch – es geht wunderbar – und von Potenzproblemen bin ich zum Glück auch nicht betroffen.

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