Dieses Jahr begann mit einem herben Verlust: Dem Tod der Behindertenrechtsaktivistin Carrie Ann Lucas.
Die US-amerikanische Anwältin und Mutter starb mit 47 Jahren. Und sie starb einen unnötigen Tod. Sie starb, weil es ihr so erging, wie weltweit den meisten Menschen mit Behinderung: Sie war ein lästiger Kostenfaktor.
Carrie Ann Lucas starb, weil die für sie lebenswichtigen Medikamente aus Kostengründen von ihrer Krankenversicherung verweigert wurden.
As disabled people, we are always addressing the issue of how society devalues our lives and experiences.
Carrie Ann Lucas
Ich muss zugeben, dass ich erst nach Carrie Ann Lucas’ Tod so richtig auf sie aufmerksam wurde. Ja, ich hatte zuvor von ihr gehört, hatte im Hinterkopf, dass sie Anwältin und Behindertenrechtsaktivistin war.
Ich wusste, dass sie als Juristin gegen die Diskriminierung behinderter Menschen immer wieder vor Gericht ging – unter anderem gegen Kmart – einen der größten Gerichtsprozesse, der sich gegen mangelnde Barrierefreiheit in der US-amerikanische Privatwirtschaft richtete.
Was sie in ihrem Leben alles bewegt und geschafft hatte, wurde mir allerdings erst bewusst, als ich mehrere Nachrufe über sie las.
Ich habe im deutschsprachigen Raum nichts über Carrie Ann Lucas gefunden, deshalb möchte ich hier an sie erinnern.
Carrie Ann Lucas’ Eltern waren einfache Leute, der Vater Soldat, die Mutter Verkäuferin – und das Geld war während ihrer Kindheit und Jugend immer knapp. Um ihr Studium finanzieren zu können, hatte sie oft drei Jobs gleichzeitig.
Carrie Ann Lucas arbeitete schon einige Zeit als Lehrerin, als sie erfuhr, dass ihre 9-jährige Nichte in Pflege gegeben wurde. Ihr Halbbruder und seine Familie waren nicht in der Lage, sich um das behinderte Mädchen zu kümmern. Kurzerhand bewarb sie sich als Pflegemutter für ihre Nichte – um nach einigem Hin und Her erfahren zu müssen, dass ihre Bewerbung aufgrund ihrer eigenen Behinderung abgelehnt worden war. Aber Carrie Ann Lucas ließ nicht locker, holte sich juristische Hilfe und kämpfte. Es dauerte eine Weile und es wurden ihr noch manche Steine in den Weg gelegt – aber schließlich konnte sie sich durchsetzen: Ihre Nichte wurde schließlich ihre Adoptivtochter.
Diese Erfahrung sollte ihr Leben verändern. Wild entschlossen begann sie erneut zu studieren – diesmal Jura. Sie wurde Anwältin und spezialisierte sich auf die Rechte von Eltern mit Behinderung. Sie gründete die Organisation “Disabled Parents Rights”, die behinderte Eltern und Kindern juristisch berät und unterstützt – und sich vor allem auf den Kampf gegen staatlichen Kindesentzug spezialisiert hat.
Ein großer juristischer Sieg war für die Anwältin, dass sie in Colorado eine Gesetzesänderung durchsetzen konnte, die nun festlegt, dass die Behinderung von Eltern juristisch nicht als Nachteil ausgelegt werden kann. Und dass staatlicher Kindesentzug oder die Ablehnung eines Adoptionsantrages nicht alleine durch die Behinderung eines Elternteils begründet sein darf: ”Family Preservation For Parents With Disability”.
Damit stärkte sie die Rechte von Eltern mit Behinderung in Colorado in nie dagewesener Weise und bewirkte, dass das Recht auf Familienleben nicht vom Faktor Behinderung abhängig sein darf.
Privat war für Carrie Ann Lucas der Wunsch nach einer eigenen Familie das Wichtigste – und so adoptierte sie drei weitere Kinder, alle mit Behinderungen: Asiza, Adrianne und Anthony.
Als Anwältin war ein weiterer Schwerpunkt ihrer Arbeit die Bekämpfung der Sterbehilfe-Legalisierung. Zu oft hatte sie erlebt, dass Menschen mit Behinderungen gedrängt wurden, ihr Leben zu beenden – in einer Gesellschaft, die öffentlich und scheinbar bedenkenlos den Wert behinderten Lebens anzweifelt.
Und schließlich kämpfte sie vor Gericht und als Aktivistin gegen Kürzungen im US-Gesundheitssystem, von denen insbesondere Menschen mit Behinderungen betroffen waren. Als Mitglied der Behindertenrechtsgruppe ADAPT, die in 30 US-amerikanischen Staaten aktiv ist, wurde sie einmal bei einer Sitzblockade gegen die von Republikanern geplanten Einsparungen im Gesundheitssektor festgenommen. Diese Festnahme wurde für die Polizist*innen komplizierter als üblich: Sie wollten von der Anwältin Anweisungen, wie man ihren elektrischen Rollstuhl bedient. “Googeln Sie doch die Gebrauchsanweisung”, schlug Carrie Ann Lucas vor. Es muss einen ziemlichen Aufruhr gegeben haben, weil zahlreiche Polizist*innen rätselten, wie man den Elektro-Rollstuhl in Bewegung setzen könnte, man hantierte an ihrem Beatmungsschlauch herum, zog Stecker und Kabel und drohte Carrie Ann Lucas, sie gegen ihren Willen aus ihrem Rollstuhl zu tragen. Der Joystick lag die ganze Zeit auf ihrem Schoß – unentdeckt von der aufgeregten Polizist*innenmenge.
Schließlich setzte die Anwältin dem absurden (und für sie auch nicht ungefährlichen) Treiben ein Ende, widersetzte sich nicht weiter der Festnahme, bestand aber darauf, dass ein Transportbus für behinderte Menschen geholt würde, mit dem sie sicher mitfahren könnte. Die Polizist*innen gaben nach, Carrie Ann Lucas steckte den Joystick zurück an den Rollstuhl und fuhr selbständig in den Bus. Allerdings kam die Anwältin dann doch nicht in den Arrest – wie die anderen Protestierenden. Denn irgendwie war den Zuständigen die streitwillige behinderte Frau mit kompliziertem Rollstuhl und künstlicher Beatmung dann doch nicht geheuer.
Carrie Ann Lucas wurde in Folge der Aktion unter anderem verklagt, weil sie sich geweigert hatte, den Politist*innen zu erklären, wie ihr Rollstuhl funktionierte.
Die Geschichte amüsiert mich, zeigt aber auch, was ich oft erlebt habe: Die Übergriffigkeiten auf behinderte Menschen. Wie oft schon wollten mich fremde Menschen schon aus Zügen oder Treppen hinauf tragen – mit und ohne E-Rollstuhl – obwohl ich vehement darauf hinwies, dass das lebensgefährlich für mich sei.
2018 bekam Carrie Ann Lucas eine Erkältung. Weil sie durch ihre fortschreitende Muskelerkrankung grundsätzlich auf ein künstliches Beatmungssystem angewiesen war, gab es bei Atemwegserkrankungen bei ihr immer die Gefahr von Komplikationen. Aus der Erkältung wurde eine Lungenentzündung – die notwendigen Medikamente verweigerte ihre Krankenversicherung aus Kostengründen. Die von der Krankenkasse bewilligten günstigeren Medikamente brachten kaum gesundheitliche Verbesserung – und so verbrachte Carrie Ann Lucas ihr letztes Lebensjahr immer wieder im Krankenhaus. Der letzte Eintrag in ihrem Blog berichtet davon.
Schließlich starb sie laut Angaben ihrer Partnerin Dr. Kimberley Jackson an einem Kreislaufstillstand infolge von weiteren Komplikationen der nicht ausgeheilten Lungenentzündung. Und wurde zum Opfer des Systems, das sie so unnachgiebig bekämpft hatte.
Wenn ich über Carrie Ann Lucas’ Leben schreibe, bin ich voller Bewunderung für ihre Hartnäckigkeit und ihren unbändigen Tatendrang.
Und ich möchte mich nicht an sie erinnern als den Menschen, der den Kampf gegen das US-Gesundheitssystem verlor – sondern die Macherin, Aktivistin, Kämpferin und liebevolle Mutter, die sie war.
Ich fühle mich an eine andere Juristin erinnert, die bis heute gegen Diskriminierungen kämpft und deren Leben in unzähligen Büchern und jüngst durch zwei Kinofilme geehrt wurde: Ruth Bader Ginsburg.
Ich hätte Carrie Ann Lucas und Ruth Bader Ginsburg gerne nebeneinander gesehen, diese beiden juristischen Pionierinnen und Kämpferinnen gegen Diskriminierungen.
Und ich wünsche mir eine Welt, in der auch eine starke Juristin mit Behinderung Kinosäle füllt.
Carrie Ann Lucas, dein Tod war so sinnlos – aber dein Leben machte über alle Maßen Sinn.
Du bist unvergessen – rest in power.
Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit Suse Bauer erschienen.
2 Antworten zu “Role Models: Carrie Ann Lucas”
Das ist wirklich eine tolle Geschichte und eine echte Vorbildfrau. Es ist an dieser Geschichte bemerkenswert, dass Menschen, die im Vergleich zu „normalen Eingeschränkten“ zusätzlich große Einschränkungen auf körperlicher Ebene haben, ein so großes Maß an Glauben an die eigene Selbstwirksamkeit, Handlungsfähigkeit und Gestaltungswillen entwickeln können, so dass es wirklich toll ist, diese als echte Vorbilder vorzustellen. Vielen Dank dafür. Es zeigt wieder einmal, dass die Fragen der Einschränkungen anders gestellt werden sollte. Und das wir das Diskriminierungsproblem in unserer modernen Welt nicht endlich einmal überwinden können ist sehr traurig. Es wird sich aber hoffentlich ändern durch eine vermehrte Kommunikation und Öffnung auf allen Seiten.
Beeindruckend! Danke für den tiefen Einblick in die komplexen Zusammenhänge von Recht und Freiheit im Zeichen der Inklusion!