Viele meinen: Wenn Kinder mit Behinderung in Regelklassen lernen, sei das Inklusion. Doch das ist zu kurz gedacht.
In manchen deutschen Städten haben die Schildbürger*innen das Rathaus übernommen. Und die sind ziemlich kreativ in ihrer Kreativlosigkeit. Ein Beispiel gefällig?
Nachdem Deutschland im Jahr 2009 eine Konvention unterschrieben hatte, es ging um Rechte für Menschen mit Behinderung, da musste man, hier und da, an ihre Umsetzung ran. Für die Schulen etwa bedeutet es, dass jedes Kind mit Behinderung ein Anrecht auf einen Platz in einer Regelschule hat. Das klingt super. Sind doch Förderschulen exklusive Orte. Doch welche Antwort fiel den Schildbürger*innen in den Rathäusern ein? Sie lassen nun Kinder mit Behinderung in die Regelklassen, ja. Aber dabei bleibt es. Sowas nennt man jetzt Inklusion, sozusagen per order mufti, ist aber weit davon entfernt.
Inklusion bedeutet eben nicht, dass Kinder mit Behinderung zu 100 Prozent in einem Regelklassenraum unterrichtet werden. Inklusion fordert ganz anderes, richtet sich nämlich an alle Schüler*innen. Es ist ein Konzept, ein Rahmen zur Erziehung von Kindern mit und ohne Behinderung. Da soll niemand hinein, „integriert“ oder „inkludiert“ werden, sondern es sind schon alle da. Inklusion hat eine Bedingung: Dass alle sich zugehörig fühlen, in der Gemeinschaft, dem Klassenraum. Dass sie ein „Commitment“ verspüren. Dann ist der Klassenraum eine Art Basis des Lernens, aber keine ausschließliche: Wenn es individuell Sinn macht, gewisse Stunden woanders zu verbringen, und das gilt für Kinder mit und ohne Behinderung, verlagert sich der Unterricht. Wir müssen kreativer denken, die Schule den Kindern anpassen – bisher läuft es andersrum.
Wir brauchen also ein System, in dem Lehrkräfte und Förderpädagoginnen gemeinsam schauen, wie die Kinder bestmöglich begleitet werden. Doch wo sind die Förderpädagoginnen, deren Förderschulen gerade geschlossen werden – gehen die nun in die Regelklassen? Oft nicht. Denn der Staat spart. Eine Unterschrift unter die Konvention konnte er im Jahr 2009 setzen, aber allzu viel kosten darf diese nicht.
Dabei sind die Beispiele, wie es besser laufen kann, unübersehbar. Finnland und Kanada schneiden in den Schulleistungstests von PISA regelmäßig stark ab, Deutschland weniger. Beide Länder haben keine Förderschulen – und dokumentieren, wie gemeinsames Lernen in Schulen, die tatsächlich für alle sind, messbare Erfolge bringt, das besser dasteht als die Ergebnisse unseres 200 Jahre alten Schulsystems.
Wie es anders gehen kann, zeigt auch ein Beispiel in Deutschland. Es gab eine Förderschule, im brandenburgischen Templin, die öffnete sich 2003, also weit vor der Unterschrift von 2009, für Inklusion: Sie gestattete auch Kindern ohne Behinderung den Besuch. Seitdem lernen dort Kinder mit und ohne Behinderung, und zwar in gleicher Gruppenstärke, gemeinsam und erfolgreich. Die Schule ist gefragt, ein echter Leistungsbringer und Grundstein für berufliche
Karriere. Warum gibt es in Deutschland nicht viele solcher Schulen?
Wir müssen weg vom Denken in geschlossenen Systemen. Hier knallharte Regelschule wie ehedem, dort Förderschule wie zu Elternzeiten – diese Systeme gehören aufgebrochen. Dazu braucht es viel mehr Geld, das sei den Schildbürgern im Rathaus gesagt. Es braucht aber auch ein neues Denken.
Dieses ist nicht besonders revolutionär, und vom Himmel fällt es auch nicht. Wir alle müssen erfahren, was wir können und was nicht. Auch mit Niederlagen in den Klassenräumen als Basen neuen Lernens ist umzugehen, da wird es Mobbing geben, weil es das immer gab, aber damit ist sowieso umzugehen – sei es beim Hänseln von Kindern mit Behinderung, von Rothaarigen, Dicken oder Strebern.
Wenn wir anfangen, Inklusion uns umfassender vorzustellen, dann klappt das schon: Je mehr Berührung, desto weniger Vorbehalte, Vorurteile und Ängste. Reibung tut gut! Denn letztlich soll mir mal einer erklären, warum es die Erwachsenen sind, die Probleme mit der Inklusion haben – und Kinder nicht.
3 Antworten zu “Inklusion ist keine Frage des Ortes”
Sehr gut geschrieben mit vielen richtigen Statements und Gedanken!!
Genau Kinder sind immer weiter und unmittelbarer, einfacher in ihren Lösungen.
Und wir dürfen nicht an ihnen sparen. Sie sind unsere Zukunft und unsere Versicherung für die Gegenwart genauso.
Je mehr wir alle Menschen ins Boot nehmen, umso menschlicher kann unsere Gesellschaft wieder werden.
Gerade aber die Verschiedenheit macht die Individualität erst möglich, trotzdem muss eine Gemeinschaft gebildet werden. Mit Respekt vor jedem, sonst bilden sich Gruppierungen gegeneinander aus.
Das erleben wir zur Zeit immer mehr.
Wir Behinderte bringen Erneuerung, Flexibilität in die Gesellschaft.
Die sogenannten Normalen könnten sich ohne uns gar nicht so definieren. Aber wo ist eine Trennung, und warum überhaupt?
Daher gehören nicht nur die Kinder in EINE Schule, sondern die ganze Gesellschaft ist eins, alle gehören zusammen.
Es ist auch so, dass früher diese Förderschulen alles andere als fördernd war, weil die Kinder die dort hingingen abgestempelt wurden und später dann in den“ Werkstätten für Behinderte“ landeten und dort eben auch nicht viel verdienten. Das muss alles aufgebrochen werden: 1. die Kinder müssen alle in eine Schule des Lebens und Lernen kommen und die Arbeitgeber später dazu gebracht werden für jeden einen Arbeitsplatz zu bieten , ohne sich dafür mit Geld rauskaufen zu können.
Hallo Herr Krauthausen,
treffende Analyse des Ist-Standes.
Ein Satz stört mich aber dennoch: „Es braucht aber auch ein neues Denken.“
Dass das Denken bezogen auf den wünschenswerten Soll-Zustand fehlt, ist eine Mär, die insbesondere durch die Schulverwaltungen – und auch Teile der etablierten Sonderpädagogik – aufrecht erhalten wird.
Bereits 1989 hat Georg Feuser das Konzept: „Allgemeine integrative Pädagogik und entwicklungslogische Didaktik“ publiziert, welches ihren Vorstellungen zu nahezu 100% entspricht.
Warum wurde nun dieses Konzept einer Schule für Alle nicht begeistert aufgenommen? Schlichtweg weil es die Vorstellungen von Schule komplett auf den Kopf stellt:
– Wegfall jedweder Begründung eines 5-gliedrigen Schulsystems (Haupt- und Realschule, Gymnasium, allg. Sonderschulen und als 5. Sonderschule für sog. geistige Behinderte)
– Wegfall des Frontalunterrichts (der allen Beteuerungen zum Trotz immer noch 90% des Schulunterrichts ausmacht) zugunsten eines projektbezogenen Unterrichts. Allein die Erstellung der dazu notwendigen Curriclar – etwas was der Deutsche so liebt – hätte massive Auswirkungen gehabt…
– weitgehender Wegfall des jahrgangsbezogenen Unterrichts
– Wegfall eines Benotungssystems, welches – seien wir ehrlich – Äpfel mit Birnen vergleicht, hinzu einer Unterrichtsplanung, die sich an den Interessen und Stärken des einzelnen Schülers orientiert.
– ect.pp.
Nebenbei: Ein solchen Denken steht in einem gewissen Konflikt mit der Pisa-Denke, bei der es nur um Output geht. Pisa mag verführerisch klingen, allerdings belegen die tollen Ergebnisse, die die genannten Länder vorzuweisen haben, erstmal garnichts in Bezug auf die Lernfortschritte von behinderten Kindern – denn diese werden nicht erfasst. Erfasst werden Schülerkohorten und Mittelwerte. Wenn also in Finnland die Testergebnisse in den MINT-Fächern 5-7% bezogen auf die Kohorte der 15jährigen besser sind als bei uns, belegt dies bezogen auf die Schüler mit Beeinträchtigungen eben nicht, dass diese dort besser lernen, sondern einfach nur dass dort besser gelernt wird – auch wenn dort nahezu 100% der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf „inkludiert“ sind.
Natürlich steht zu vermuten, dass auch diese Schüler dort besser lernen, erhoben wird dies durch Pisa aber nicht.
Und warum lernen die Schüler im Durchschnitt dort besser? Sehen sie sich nochmal die Konsequenzen an, die eine entwicklogische Didaktik, so wie ich sie oben aufgezeigt habe, hat – der ein oder andere Weg, der bei uns voller Denk-„Barrieren“ ist, wurde dort schon beschritten…