Schon komisch, was an nutzlosem Kram entwickelt wird, den Menschen mit Behinderung nicht brauchen. Was wir brauchen, ist ein neuer Ansatz!
An den Rollstuhl gefesselt zu sein – das stelle ich mir furchtbar vor. Zum Glück ist es mir bisher nie passiert. In meinem Rollstuhl kann ich mich frei bewegen – und mit ihm auch. Daher stutze ich immer wieder aufs Neue, wenn ich lese: XY oder XZ sei „an den Rollstuhl gefesselt“; eine Redewendung, die bestenfalls nicht den Tatsachen entspricht und schlimmstenfalls negative Klischees transportiert.
Ich liebe Rollstühle. Sie schaffen für mich nicht nur Freiheit im Sinne von Mobilität, sondern sie sind auch Symbole für Freiheit. Recht schnell kann man damit übrigens auch unterwegs sein. Daher interessieren mich neue Rollstuhlentwicklungen mehr als neue Schleifbandmaschinen oder neue Küchenherde. Es ist, wie die Bloggerin Jessica Thom formulierte: eine Frage von Lebensqualität.
So enttäuscht es mich immer wieder aufs Neue, wenn mir Produkte unter die Nase gehalten werden, die Menschen mit Behinderung angeblich dienen sollen. Fast immer frage ich mich, wie diese Gerätschaften helfen sollen. Eine gescheite Antwort fällt mir nie ein. Allzu oft drängt sich der Verdacht auf, dass Produktentwickler sich mehr Gedanken ÜBER Lebenswelten von Menschen mit Behinderung gemacht haben als MIT ihnen. Heraus kommt dann zuweilen Murks.
Jessica Thom fasst in ihrem Blogbeitrag den neusten Kram zusammen: Rollstühle im „Segway-Style“, in denen man steht (warum die Mühe?), Exoskelette (unpraktisch, verletzungsanfällig, beansprucht die ansonsten freien Hände) oder ein laufendes Taxi von Hyundai in „Transformer Class“ (viel Aufwand, wenig Nutzen).
Gemeinsam haben all diese Produkte, dass sie den Körper als Problem ansehen, was er nicht ist. Er ist, was wir haben, und das ist gut so. Nicht nur das. Die Produkte bzw. das Mindset dahinter suggerieren eine Norm (bspw. der Mensch steht fest auf zwei Beinen), die es nicht gibt. Gemeinsam ist ihnen auch, dass sie mit Superlativen um sich schmeißen und unheimlich hip daherkommen – oder was gewisse Leute dafür halten.
Sorgfältigkeit ist keine Sünde
Diese Leute scheinen sich bestenfalls unpraktische Gedanken darüber zu machen, was sie entwickeln. Wenn eine Zeitung etwa entwickelt wird, gibt es sorgfältigste Marktstudien, breit angelegt. Wird ein Kühlschrank mit neuen Gimmicks ausgetüftelt, wird präzise abgewogen zwischen Kosten, Nutzen und Attraktivität für welche Zielgruppe.
Bei Produkten für Menschen mit Behinderung habe ich zuweilen den Eindruck: Da wird einfach mal gemacht. Da ist man schneller begeistert, rascher überzeugt – als würden Kriterien eine Latte tiefer gelegt. Um es böse zu formulieren, manche Firmen stelle ich mir so vor: Ein Manager bei Hyundai schaut mit seiner Tochter Transformers und denkt sich: Sowas Cooles will ich auch machen. Und wem versucht er seinen Daddytraum anzudrehen? Oder der „laufende“ Rollstuhl: Jessica Thom zitiert in ihrem oben genannten Beitrag die Entwicklerin, dass man mit ihm aufrecht stehend in einer Bar besser seinen Drink bestellen kann. Nun, soll ich mir etwa einen Zweitstuhl nur für den Latte nebenan zulegen? Wie wäre es mit Gastronomietresen, die an einer Stelle rollstuhltaugliche Bestellhöhen berücksichtigen? Ist doch kein Hexenwerk, dafür braucht es keine Transformers oder Segwayrallyes.
- Die entscheidende Frage lautet: Wem nützt es?
- Die daraus folgende Frage lautet: Schadet es etwa auch?
Wenn ich ein Produkt entwickle, welches sich unter riesigem Aufwand mit einem Detail des an Barrieren nicht armen Alltags zu arrangieren versucht – dann sollte ich mir besser gleich die Barriere vornehmen. Diese Produkte wirken auch, politisch gesprochen, systemstabilisierend.
It’s revolution, Baby!
Darüber hinaus winken nicht wenige dieser Produkte mit Preisschildern, die eine Unverschämtheit zu nennen noch höflich ausgedrückt wäre. Kann es sein, dass Preisstrategen in der Analyse denken, den Menschen mit Behinderung könne man mehr aus der Tasche leiern, nach dem Motto: Irgendjemand wird ihnen das schon bezahlen?
Es gibt Kriterien für die Entwicklung von guten Produkten für behinderte Menschen. Sie sollten zum Beispiel nicht am Ende alibihaft das fertige Ding „ausprobieren“, sozusagen eine Probefahrt um die Ecke, womöglich gar unbezahlt – vielleicht in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung, wo die Kollegen eh ausgebeutet werden. Die Lebenswelten von Menschen mit Behinderung kennen letztere am besten. Sie sollten aktiv eingebunden werden in eine Entwicklung, und mehr noch: Sie sollten entwickeln. Sie wissen, welches Design passt, welches abschreckt. Sie wissen, was notwendig ist und wann wie hilft. Darauf einen Latte, wo auch immer.
9 Antworten zu “Denn sie wissen nicht, was sie tun”
Hallo Raul, vielen Dank für diesen so wahren Beitrag! Als MS’lerin und sogenannter „Kurzstreckenläuferin“ bewege ich mich sozsagen zwischen den Welten. Ich liebe meinen Rollstuhl dafür, dass er mir wieder Möglichkeiten eröffnet, die ich sonst nicht mehr hatte. Und sei es nur die Distanz vom Parkplatz zur Arztpraxis. Aber dann scheitert es an ganz Alltäglichem: Treppenstufen, Türen die aus dem Rollstuhl heraus nicht zu öffnen sind etc. Und gelangt man dann tatsächlich in die gewünschte Praxis, sind Räume und Gänge zu schmal usw. Von quasi nicht vorhandenen behindertengerechten Toiletten gar nicht zu reden. Es gäbe soviel Sinnvolleres zu tun, aber das spült kein Geld in die Kasse. Jedenfalls nicht in Marketingetats. Es könnte allerdings dazu führen das Menschen mit Handicap selbstverständlicher im Alltag auftauchen. Aber wem sag ich das …
Hi Raul, danke für diesen Beitrag. Das verlinkte Video ist wegen fehlender Sprecher-Spur für blinde Menschen uninteressant. Schade, dass auch daran nicht gedacht wurde. Viele der im Artikel genannten Punkte stimme ich ohne Kommentar zu.
Ja, das denke ich mir auch so oft, wenn ich wieder mal unter einem Video oder Beitrag markiert ist, der Menschen mit Behinderung Heilunger, Erleichterung oder sonstige Superlativen verspricht. Hat mich einer vorher gefragt? Nein! In 80-90% finde ich das dort gezeigte nicht interessant für mich, oft sogar absolut schrecklich, unsinnig, Zeit verschwendend, diskriminierend…
Hallo Raul,
ich habe den Verdacht, das das Gerät eher für militärische Zwecke entwickelt wird. Die „humane“ Verwendung soll vielleicht nur darüber hinweg täuschen – der „soziale Anstrich“ sozusagen.
Und zu Deinem Artikel: Es ist das ewige Lied. Wir dürfen nicht aufhören, es zu singen: „Setzt endlich die ratifizierten Konventionen und das Grundgesetz um! Menschen mit Behinderungen dürfen nicht benachteiligt werden …. “
Danke, dass Du so unermüdlich Stellung beziehst.
Herzliche Grüße,
Marianne
Hallo Raul, ich bekomme deinen Newsletter erst seit kurzem. Es ist bewusstseinserweiternd und erfrischend Deine Perspektive auf Dinge zu lesen und zu hören. Ohne Zweifel ist das allein ein wesentlicher Beitrag zur besseren Verständigung. Und Kommunikation (egal ob Newsletter, Gespräch oder Gedanken zu „anderen“ Perspektiven) ist etwas das man nicht oft genug praktizieren kann. Danke für deinen wöchentlichen Anstoss dazu. Ich werde unermüdlich deinen Newsletter bewerben. Weiter so & Danke!
Ich arbeite für eine Organisation der Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe. Gerade gestern musste ich erst wieder ein paar Studierenden sagen, dass der Blindenlangstock so wie er ist gut und sicher ist. Elektronischen Schnickschnack braucht es da nicht. Hochmotivierte Entwickler präsentieren uns auf der SightCity was sie heimlich, still und leise entwickelt haben. Einer brachte mal ein Gerät mit, das blinden Menschen helfen sollte, an einer Wahl teilzunehmen. Ich habe dem Entwickler gesagt, dass ihm jeder Wahlleiter auf die Finger hauen würde, weil eine geheime Wahl mit so einem Gerät nicht möglich sei, außerdem gäbe es doch Wahlschablonen. Der hat ziemlich konsterniert geschaut, aber was will man machen.
Ja systemstabilisierend – das ist es wohl. Aber oft gut gemeint und wir wissen ja was das bewirkt : -). Allerdings zum beispiel mit dem Aufrechtsteh-Hilfen: das kann große Bedeutung und Hilfe bedeuten: medizinisch und psychologisch (=und nicht nur für die umgebung).
Hallo Raul, ja, danke für diesen Artikel, sehr vieles sehe ich ganz genauso, wir sind nicht dazu da, als Alibi für Transformers-Spielereien zu dienen. Nur die Sache mit den Exoskeletten sehe ich positiver, es gibt ja inzwischen auch Teil-Exoskelette, die zum Beispiel von Lagerarbeitern für die Überkopf-Arbeit genutzt werden oder von Chirurgen, wenn sie über Stunden in derselben Position auf sehr kleinem Raum operieren müssen und die sich da gut bewähren. Ich könnte mir auch vorstellen, dass ein zusammenhängendes Exoskelett bei einigen Krankheiten auf Dauer physiologisch sinnvoller ist hinsichtlich der Lastenverteilung als ein Sammelsurium verschiedener Einzelorthesen am ganzen Körper.
Da spricht du mir aus der Seele! Der Rollstuhl ist für mich eine Befreiung.
Ich finde die Leute so anstrengenden, die einen wieder auf die Beine bringen wollen. Sie denken stehen und laufen zu können ist das höchste Ziel der Menschheit! Ich kann es nicht und bin froh über jeden der mir mein Glück gönnt. Und ich bin glücklich mobil zu sein. Wenn ich längere Zeit nur liegen kann ist es anstrengenden, kommt leider ziemlich häufig vor, aber auch dann bin ich noch ein ganzer Mensch. Und will als solcher behandelt werden. Ich muss nicht geheilt werden, ich habe eine schwere Behinderung und fertig.