Am 21. November, haben Bezirksamt und Bezirksverordnetenversammlung zum dritten Mal den Silvio-Meier-Preis verliehen. Kulturstadträtin Clara Herrmann überreichte im Jugend[widerstands]museum in Friedrichshain den Preis für Engagement gegen Diskriminierung, Ausgrenzung, Rassismus und Rechtsextremismus. In diesem Jahr wurden Raul Aguayo-Krauthausen und die Initiative Togo Action Plus e.V. ausgezeichnet.
Matthias Vernaldi hielt eine sehr beeindruckende und bewegende Laudatio zur Verleihung mit eindringlichen politischen Forderungen für Inklusion & Teilhabe und Kritik am Bundesteilhabegesetz. Seien Rede im Wortlaut:
Liebe Anwesende, insbesondere lieber Raul, sehr verehrte Frau Stadträtin Hermann, liebe Superclara,
als du, Moldti, als du, Dr. Dirk Moldt, mich fragtest, ob ich die Laudatio zur Verleihung des Silvio-Meier-Preises an Raul Krauthausen übernehmen würde, habe ich erst einmal herumgedruckst und wollte kurz darüber nachdenken. Das hat mit meiner kritischen Haltung zur Ikonisierung zu tun. Die habe ich nicht abgelegt. Und trotzdem wollte ich nach ein paar Gesprächen und vor allem ernst genommenen Gefühlen auf einmal unbedingt der Laudator sein.
Vor deutlich mehr als zehn Jahren habe ich dich, Raul, kennengelernt. Da warst du schon eine Ikone. Du standest auf einmal exemplarisch für alle behinderten Menschen, weil du ein Medienstar wurdest. Das hat in der „Szene“ viele Diskussionen ausgelöst. Wir haben uns seither gelegentlich auf einen Kaffee und manchmal auch auf eine Auseinandersetzung getroffen.
Was die Ikonisierung für dich mitunter bedeutet, habe ich erlebt, als wir einmal mit einem Wein und ein paar Oliven auf der Admiralsbrücke in der Sonne saßen. Eigentlich wollten wir entspannt miteinander quatschen. Aber diese Entspannung wollte nicht aufkommen. Alle paar Minuten kamen Leute mit einem infantilen Grinsen im Gesicht auf dich zugestürzt, weil sie dich erkannten. Sobald du das bemerktest, sagtest du laut und streng: „Bitte nicht anfassen! Ja nicht anfassen!“ Manche ignorierten das und du musstest mit dem Rollstuhl rückwärts ausweichen, um ihnen zu entkommen.
Silvio kannte ich etwa vier oder fünf Jahre lang. Er tauchte 1987 oder 88 in unserer Landkommune in Hartroda auf. Ich weiß es nicht genau, weil kein Historiker daneben stand und es aufschrieb. Obwohl … wahrscheinlich steht es bei der Stasiakte. Aber da habe ich jetzt nicht nachgesehen. Du, Moldti warst mit dabei. Ihr wart sehr häufig im Doppelpack unterwegs. Kurz nach der Wende habt ihr die Schreinerstraße 47 mit besetzt und seither war ich auch öfter dort.
Eines Abends meldete die Tagesschau, dass bei einer Auseinandersetzung mit Rechtsradikalen ein junger Mann aus der Hausbesetzerszene erstochen worden war. Erst zwei Tage später (es gab noch kein WWW und auch keine Mobiltelefone) erfuhren wir in der Landkommune in Thüringen, dass der Tote Silvio war.
Ich kann mich noch sehr gut an meine Gefühle erinnern. Abgesehen von der Bestürzung und der Trauer um diesen jungen sympathischen Mann und seine Angehörigen, habe ich nicht gedacht: „Was für ein Held!“ oder „Was für ein Märtyrer!“ Das hätte der Ikone entsprochen. Ich habe gedacht: „Scheiße! Jetzt wird es ernst. Die wollen uns wirklich tot machen.“ Ich hatte Angst um mein Leben und um das meiner Freunde.
Ende des Sommers 1992 – also ein Vierteljahr zuvor – stand ich gegen Mitternacht mit meinem Rollstuhl allein auf dem Parkplatz vor dem Geraer Kino. Die anderen hatten mich da stehenlassen, um meine Schwester, die auch im Rollstuhl saß, die Treppen des Kinos herabzubugsieren. Auf einmal war ich von fünf oder sechs jungen Männern mit Glatze und Springerstiefeln umringt. Der mir gegenüber grinste und sagte: „Na?“ Dann brüllten alle: „Euthanasie!“ Ich schrie (sofern man das mit meinem schwachen Stimmchen schreien nennen kann): „Fresse, ihr Scheißnazis!“ Sie zogen grinsend ab. Für sie ein gelungener Spaß.
Für mich zieht sich von hier eine direkte Linie zur Verleihung des Silvio-Meier-Preises an dich, Raul. Erst in den letzten 20 Jahren hat sich allmählich die bErkenntnis in der Breite durchgesetzt, dass kranke und behinderte Menschen zu den Opfergruppen des Nationalsozialismus gehörten, ja dass sie sogar die waren, die die Matrix für die Massenvernichtung von Menschen geben mussten. Einen entsprechenden Gedenk- und Erinnerungsort gibt es erst seit 2014 an der Philharmonie. Man scheute sich, das als Verbrechen zu werten. Die meisten fanden es ja irgendwie richtig – eine Art Gnade. Und auch heute wird das Ganze noch, nun demokratisch und selbstbestimmt, durchdekliniert. Sagte der Führer noch: „Du bist Scheiße, dich mache ich tot!“, machen wir heute einen Vertrag, in welchem steht: „Sollte ich jemals so Scheiße sein, dann macht mich bitte tot!“
In dieser Haltung kommt die ganze Angst und die ganze Abwehr unsere Kultur bezüglich Krankheit und Behinderung zum Ausdruck. Sie kommt zu wesentlichen Teilen daher, dass Kranke und Behinderte seit etwa 150 Jahren in Heimen, Anstalten und Einrichtungen isoliert und ihrer Rechte beraubt wurden und werden. Hilfsbedürftigkeit bedeutete Rechtlosigkeit. Das hat sich dann im Nationalsozialismus in aller Konsequenz umgesetzt. Hier wurde endgültig klar, dass die Wohltäter sehr wohl Täter sind.
Die Wohlfahrt – sprich: in dieser Zeit in der Hauptsache die Diakonie, aber überhaupt die sogenannten Einrichtungsträger – machte sich auf breiter Linie zum Kollaborateur der Mörder. Das alles lief so reibungslos, weil die Opfer sowieso schon interniert waren. Es waren keine Angehörige, Freunde, Nachbarn, Kollegen oder Vereinsmitglieder. Sie lebten in einer Sonderwelt. Ihr Verschwinden wurde er verwaltungstechnisch gesehen, aber keiner vermisste sie konkret.
Letzte Woche habe ich dich, Raul, in der ARD im Kulturmagazin „Titel, Thesen, Temperamente“ gesehen. Da wurde ein Comic vorgestellt, der die Perspektive eines jungen Mannes mit Lernschwierigkeiten einnimmt, der in ein „Behindertendorf“ in Norddeutschland kommt. Eine ungewöhnliche Grafic Novelle. Alle waren hingerissen davon.
Dann kamst du und hast ihnen die Idylle zerschlagen. Ich hätte dich knutschen können! Du hast gesagt, dass Einrichtungen nicht dazu geeignet sind, Inklusion zu schaffen. Schließlich excludieren sie ja, schaffen Sonderwelten. Vor allen hast du gesagt, dass es auch anders geht. Vor noch nicht allzu langer Zeit bist du sogar undercover ins Heim gegangen, um zu zeigen, welche Herabwürdigung und Zumutung in einem solchen Leben besteht.
Seitdem es dich als Medienphänomen gibt, höre ich immer mal wieder Leute sagen: „Mensch, der Krauthausen, der hat mehrere Start-up-Sachen am Start, der macht Talkshows und hat sogar eine eigene, der ist Ashoka Fellow und redet sogar über Sexualität und Behinderung.“ Und ich entgegne dann manchmal: „Es gibt doch viele Leute, die so drauf sind.“ Und dann höre ich: „Aber der ist doch behindert!“ Und dann begreife ich, dass die meisten denken, dass Behinderte so etwas nicht können. Die brauchen ja Hilfe. Ich habe das bisher kritisch gesehen, denn seit mindestens 30 Jahren gibt es behinderte Anwälte, Ärzte, Schauspieler, Autoren, Journalisten usw., manchmal auch extrem erfolgreiche.
Jetzt habe ich aber begriffen, wie wichtig du auch als Ikone bist. Denn nur so gibt es Ansätze dafür, dass die Masse Behinderung nicht immer nur negativ konnotiert. Es ist so simpel: Wir (damit meine ich nicht dich und mich, sondern uns als Gruppe, denen Behinderung zugeschrieben wird) sind Leute, mit denen man Projekte machen, Bier trinken und ins Bett gehen kann. Leider müssen wir das betonen, weil es für die meisten einfach undenkbar ist.
Du, Raul, spielst bei der Verbreitung dieser simplen Wahrheit schon seit Jahren eine enorme Rolle. Damit trägst du zu einer vielfältigen Gesellschaft bei, die andere Normen setzt.
Diese Gesellschaft hat aber nur bestand, wenn sie nicht auf Ikonen angewiesen ist. Vielmehr müssen Gesetze und ihre Anwendungen die Vielfalt garantieren. Den Kampf gegen das Bundesteilhabegesetz haben wir verloren. Nun müssen wir es umsetzen bzw. die Umsetzung an uns und anderen erdulden. Unsere Solidarität ist gefragt und auch unser Mut und natürlich auch unser Pragmatismus – also unsere Bereitschaft, mit dem Gesetzgeber und den Behörden zusammenzuarbeiten und das schlechte soweit zu verbessern, dass es nicht ganz so weh tut.
Ich kann gar nicht anders, als damit zu enden, dich, liebe Superclara mit dem grünen Zaubersaft; oder dann lieber doch Sie, verehrte Clara Hermann, Ihres Zeichens Stadträtin für Finanzen, und natürlich uns alle auf den hier auf der Hand liegenden Zusammenhang zwischen Preisträger und Kostenträger hinzuweisen, denn Raul Krauthausen erhält ja vom Bezirksamt nicht nur einen Preis, sondern monatlich Leistungen der persönlichen Assistenz für behinderte Menschen. Diese Form der Hilfeerbringung ist nicht nur für ein paar Elitekrüppel wie Raul und mich die Form, die auch schwerbehinderten Menschen die Grundlage dafür bietet, ein Leben ähnlich dem eines nichtbehinderten Menschen zu führen, so dass sie ein Teil der Vielfältigkeit werden, die uns gegen die drohende Macht derer, die Silvio Meier töteten, wappnen kann.
Ganz prosaisch und realpolitisch: Das ist auch eine Kostenfrage.
Raul, ich freue mich sehr, dass du diesen Preis bekommst, und danke euch allen für eure Geduld beim Zuhören.
(Matthias Vernaldi)