taz: „Keiner traut sich zu fragen, was ich habe“

Der Rollstuhlaktivist Raul Krauthausen wollte schlicht und einfach etwas Gutes tun – aber bitte auf ungewöhnliche Art. Aktuell arbeitet er mit der Gruppe Sozialhelden an der Verbesserung ihrer Wheelmap, einem Stadtplan im Internet nicht nur für Rollstuhlfahrer.
taz: Herr Krauthausen, warum sind Sie ein Held?
Raul Krauthausen:
Für mich sind alle Helden, die sich sozial engagieren.
Das schließt ja viele Leute ein…
Eigentlich ist das Wort in Deutschland negativ besetzt, durch den Krieg und so. Und als mein Cousin und ich 2004 die Sozialhelden gegründet haben, haben wir uns gefragt: Wer sind unsere Helden? Dann kamen wir nur auf Spiderman und Batman, und von da sind wir zu den Sozialhelden gekommen: Helden, die soziale Sachen machen. Aber den Namen nehmen wir nicht ganz so ernst.
Warum wollten Sie soziale Sachen machen?
Wir haben beide viel Kontakt nach Südamerika. Ich bin in Peru geboren, unsere Eltern sind dort aufgewachsen. Wir hatten das Gefühl, dadurch gelernt zu haben, was Not bedeutet, Armut, Hunger, was wirkliche Probleme sind. Aber Brunnen in Südamerika zu bauen ist nicht unsere Kernkompetenz. Wir wollten etwas in Deutschland machen.
Also ergriffen Sie die Initiative.
Zu der Zeit suchte ich gerade einen neuen Zivi. Ich wollte Plakate kleben, aber ein Freund kam auf die Idee: „Lass uns das wie ein Casting machen, Deutschland sucht den Superzivi.“ Das lief dann über Radio Fritz. Und am Ende hatte ich eine Auswahl von 150 Bewerbern, wovon der Gewinner tatsächlich mein Zivi geworden ist. Das war eigentlich der Anfang der Sozialhelden.
Inwiefern?
Wir fanden es gut, auf diese Art Spaßiges mit Sozialem zu verbinden, und das Casting war ja ein echter Erfolg. Solche Aktionen wollten wir öfter machen: Dinge kombinieren, die auf den ersten Blick nicht zusammenpassen. Und dann haben wir mit unserer ersten Projektidee, „Pfandtastisch helfen“, bei der man sein Flaschenpfand spenden kann, gleich einen Preis gewonnen. Da hatten wir Geld zum Weitermachen.
Wie hoch war das Preisgeld?
Das war gar kein Geld, sondern ein Auto: ein Smart Roadster, dieser kleine Sportwagen. Das Dumme war, dass weder mein Cousin noch ich einen Führerschein hatten. Außerdem passte mein Rollstuhl da nicht rein.
Das hätte sich die Jury aber denken können, oder?
Die wussten gar nicht, dass ich im Rollstuhl sitze. Wir haben das Auto verkauft und überlegt: Entweder können wir mit dem Geld eine Weltreise machen oder unsere Idee mit den Pfandflaschen umsetzten. Die Berliner Tafel ist auf uns zugekommen und hat das in Berlin etabliert. Inzwischen sind wir mit unseren Pfandbon-Spendenboxen in 100 Berliner Kaisers-Filialen und auch anderswo in Deutschland vertreten. Und haben bei der Umsetzung eine Menge gelernt.
Was denn?
Dass viele Dinge daran scheitern, dass man sie sich selber nicht zutraut. Als wir mit „Pfandtastisch helfen“ begonnen haben, wurden wir für verrückt erklärt – und wir haben uns auch nicht wirklich zugetraut, das umzusetzen, bis ein befreundeter Produktdesigner aus Holland eine Pfandbox für uns designt hat. Das hätten wir selber nie hingekriegt. Du musst einfach irgendwann den Mut haben, zu einer Herstellerfirma zu gehen und zu sagen, dass du ein Problem hast und Hilfe brauchst. Das traut man sich oft nicht, weil man sich zu klein fühlt. Aber das kann man lernen. Es ist wichtig, Dinge auch zu machen und nicht nur zu konzipieren. Powerpoints erstellen kann jeder. Und das Spezielle an den Sozialhelden ist ja gerade das Unerwartete: auf ungewöhnliche Art Gutes zu tun. Das ist unser Rock-n-Roll-Faktor.
Jetzt machen Sie die „Wheelmap“, eine Art virtuellen Stadtplan für Rollstuhlfahrer.
Nicht nur ein Stadtplan: eine weltweite Karte, mit der man erkennen kann, welche Locations rollstuhlgerecht sind und welche nicht. Wir sind zuerst grandios an der Umsetzung dieser Idee gescheitert, weil wir nicht das technische Know-how dafür hatten. Dann haben wir wieder ein Preisgeld, das wir gewonnen hatten – den Deutschen Engagement-Preis 2009 – für die Umsetzung genutzt und einfach richtige Programmierer bezahlt. Seitdem ist Wheelmap online und es funktioniert gut. Wir wollen jetzt auch Mobiltelefone einbinden und haben schon eine IPhone-App.
Wie geht das technisch?
Es geht darum, nicht nur von überall erfahren zu können, ob eine Location rollstuhlgerecht ist oder nicht, sondern das auch von überall eintragen zu können – so wie bei Wikipedia. Wir nutzen dafür die sogenannte Open-Street-Map, die funktioniert so ähnlich wie Google-Maps. Da gehören die Daten aber allen, man spricht von Open Data. Das Angebot macht ja nur Sinn, wenn die Daten für alle frei bleiben.
Sind es vor allem Rollstuhlfahrer, die in der Wheelmap Markierungen setzen?
Nicht nur. Wir haben mehrere hundert Einträge pro Tag. Es ist ja kein Hexenwerk, zu erkennen, ob ein Café am Eingang Stufen hat. Wir haben auch dabei wieder viel gelernt, etwa, dass es feine Unterscheidungen gibt: Barrierefrei ist etwas anderes als rollstuhlgerecht. Wir konzentrieren uns aber erst mal nur auf die Rollstuhlgerechtigkeit – und wollen jetzt mit den Besitzern der Locations darüber reden, was diese tun können, um ihren Ort rollstuhlgerecht zu gestalten.
Wie viele Einrichtungen in Berlin sind nicht rollstuhlgerecht?
Aus meiner Erfahrung etwa 70 Prozent – einfach, weil sie Stufen am Eingang haben. Das ist eigentlich machbar, wenn man ein bisschen Gehirnschmalz reinsteckt, aber das tun die wenigsten, weil sie es nicht auf dem Schirm haben. Ein Café-Betreiber hat ganz andere Sorgen, als eine Rampe zu bauen. Vielen fällt das auch gar nicht auf. Aber zum Beispiel Menschen, die gerade Eltern geworden sind, sagen mir, seit sie mit einem Kinderwagen unterwegs seien, merken sie auch was. Das ist spannend, weil es damit auf einmal ein Thema ist, das alle betrifft. Deshalb ist Wheelmap nicht bloß ein Behindertenprojekt. Auch Menschen mit Rollatoren sind eine Zielgruppe. Wir leben in einer Gesellschaft, die sich in den nächsten 20 Jahren radikal verändern wird, weil wir alle älter werden und relativ wenige junge Menschen dazukommen.
Aber die Idee kam von Ihnen als Rollstuhlfahrer?
Nein, sondern von einem Freund, der seit zwei Jahren bei den Sozialhelden aktiv ist. Er hatte keine Lust mehr, sich mit mir immer im gleichen Café zu treffen, von dem wir wussten, dass es rollstuhlgerecht ist. Er fand, ich sei ja nicht der einzige Rollstuhlfahrer in diesem Land und es würde doch Sinn machen, Rollstuhlfahrer zu diesem Thema zu vernetzten. Das Projekt ist natürlich stark mit dem Thema Behinderung verknüpft, und meine Person als Rollstuhlfahrer steht dabei sehr im Fokus. Aber wir als Sozialhelden wollen kein Verein für Menschen mit Behinderungen sein. Ich will nicht, dass es immer um mich als Rollstuhlfahrer geht. Klar funktioniert die Wheelmap mit mir als Medienperson super, aber wir sind ja ein Team. Trotzdem wollen die meisten Journalisten natürlich vor allem den Rollstuhlfahrer sehen.
Stresst Sie das?
Was soll ich sagen: Es gibt so eine gewisse Abstumpfung bei mir, und irgendwie verstehe ich das ja auch. Ich komme aus der Medienwelt, ich weiß, wie es läuft, und ich würde es auch so machen. Der Rollstuhlfahrer ist ein Aufmacher. Da versuche ich eben, wenn ich schon diese Aufmerksamkeit habe, Denkanstöße zu geben zu diesem Thema. Aber es ärgert mich, wenn ich das Gefühl habe, ein Journalist versteht nicht, was ich meine. Menschen mit Behinderung, das war auch Thema meiner Diplomarbeit, werden leider völlig einseitig dargestellt.
Wie denn?
Entweder als Sorgenkinder, Opfer – oder in der Heldenrolle. Es gibt den paralympischen Helden, der Sportler des Jahres wird, oder das Opfer, das von der Krankenkasse im Stich gelassen wurde. Aber es gibt nichts dazwischen. Und mich stören so gewisse sprachliche Floskeln wie „an den Rollstuhl gefesselt sein“. Der Rollstuhl bedeutet für den Rollstuhlfahrer Freiheit und nicht Einschränkung, ohne Rollstuhl wäre man ziemlich gearscht. Da wird immer impliziert, dass mein Leben scheiße ist. Dabei ist mein Leben geil. Aber vielleicht bin ich ja scheiße, vielleicht bin ich ja ein Arsch.
Gibt es da so eine Art mitleidige Beißhemmung wie bei anderen Minderheiten?
Ja genau! Eine deutsch-türkische Beziehung ist fast genauso tabuisiert wie die Nichtbehinderter zu Behinderten. Das Phänomen tritt überall auf: In Filmen, die Behinderungen thematisieren, machen sich die meisten Regisseure nicht die Mühe, Behinderte als Schauspieler zu engagieren. Es wird ein gesunder Mensch in den Rollstuhl gesetzt. Das wird mit dem Kostenfaktor begründet. Aber wenn man einen authentischen Film machen will, dann kann man auch nicht einen Weißen zum Schwarzen machen. Es ist so ein bisschen meine persönliche Mission, auf solche Missstände hinzuweisen. Obwohl ich eine gewisse Frustrationstoleranz habe und weiß, dass ich mich selber vieler Klischees bediene. Ich spreche mich davon gar nicht frei.
Was hat man als Behinderter für Klischees?
Wenn ich einen Menschen mit Behinderung sehe, bin ich auch neugierig und frage mich die ganze Zeit Sachen, die sich keiner zu fragen traut. Und ich trau mich auch nicht zu fragen.
Sie haben auch Berührungsängste?
Ja, total, ich kann diese Tabus nachvollziehen. Ich bin mir zum Beispiel nicht sicher, ob ich mir eine Beziehung mit einer Rollstuhlfahrerin vorstellen kann.
Warum?
Ich schließe das nicht aus, aber ich hätte das Gefühl, damit ein Klischee zu erfüllen. Ich möchte in einer Beziehung nicht ständig über Behinderung reden müssen, weil beide behindert sind. Ich hatte beide Arten von Beziehungen: zu behinderten wie auch zu nicht behinderten Frauen. Beides war sehr kompliziert. Am stärksten verletzend war die Beziehung mit der Nichtbehinderten, weil wir einen starken gesellschaftlichen Druck gespürt haben. Dieses Gefühl, sich permanent rechtfertigen zu müssen bis hin zur Frage, ob wir auf der Straße Händchen halten können.
Warum sollte das nicht gehen?
Es zehrt unheimlich am Selbstbewusstsein, wenn alle gucken und du das Gefühl hast, du musst jetzt stark sein. Das ist schwierig, auch wenn dann sogar Freunde fragen, ob es nicht besser wäre, wenn der Partner ,anders‘ wäre. Daran ist die Beziehung kaputtgegangen. Das hat mir klargemacht, dass ich das, was ich von anderen erwarte – dass ihnen Behinderungen gefälligst egal sein sollen – selber gar nicht versprechen kann.
War das eine schwere Selbsterkenntnis?
Das ist eine verzwickte Situation. Ich habe diesen Konflikt in mir, leide aber nicht daran. Ich finde es spannend, was in mir gerade passiert, was da draußen passiert. Ich erlebe das sehr intensiv an meiner eigenen Haut und versuche, die Menschen dafür zu sensibilisieren, ohne zu verlangen, dass sie sich ändern müssen.
Wie läuft das in Ihrem Freundeskreis?
Da gibt es fast nur Nichtbehinderte. Demzufolge orientiere ich mich an Leuten, die meinem Lifestyle entsprechen, und versuche, meine Behinderung zwar nicht zu ignorieren, aber nicht zum Hauptthema zu machen.
Und wie ist es, wenn Sie neue Leute kennen lernen?
Keiner traut sich, die Frage zu stellen, was ich habe. Aber ich spüre, dass derjenige diese Frage die ganze Zeit im Kopf hat. Doch dieses Spannungsverhältnis ist relativ schnell abgebaut. Meistens dauert es nur einen Tag und man geht ganz locker damit um. Aber es ist ganz oft so, dass ich den ersten Schritt machen muss. Viele haben Berührungsängste, die gehen mir zwei Meter aus dem Weg – nicht weil sie sich ekeln, sondern weil sie Platz machen, damit ich vorbeikomme. In der Bahn lächelt man mir zu, aber keiner spricht mich an. Auf der Straße bekomme ich keine Flyer und in der Disco komme ich nicht als Flirtsubjekt in Frage. Als Rollstuhlfahrer bist du noch stärker als Männer sowieso in unserer Gesellschaft in der Verantwortung, das Eis zu brechen.
Fällt Ihnen das schwer?
Da schlummern in mir zwei Charaktere. Es gibt den Raul, der seine Behinderung managt. Ich manage, dass ich eine Assistenz habe oder dass die Orte, wo ich hinwill, barrierefrei sind. Das ist ein Management, das nach außen wie Selbstbewusstsein aussieht. Die andere Persönlichkeit in mir ist mein eigentlicher Charakter: Ich bin eher schüchtern. Wenn es darum geht, jemanden kennen zu lernen, zu flirten, bin ich so klein mit Hut. Ich habe meine Macken und dann noch den Rollstuhl! Da glaubt man, man müsse doppelt sympathisch sein.
Können Sie sich manchmal wie ein Arsch aufführen?
Auch das. Aber die Toleranzgrenze der Menschen ist da extrem hoch. Ich kann mir manche Dinge erlauben, wo die Leute nichts sagen, weil sie sich denken, der hat es doch eh so schwer. Aber ich pöbele ja auch nicht rum. Ich bin eher ein friedliebender Mensch.



Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Einmal die Woche gibt es von mir handgepflückte Links aus aller Welt zu den Themen Inklusion und Innovation in meinem Newsletter. Kein Spam. Versprochen.

Die vergangenen Ausgaben gibt es hier.




If you’re interested in our english newsletter
„Disability News Digest“, please subscribe here!