Auf den Monat genau vor zehn Jahren bekam ich meinen ersten Rollstuhl. Ich war Single, die erste lange Beziehung war wohl auch deswegen zerbrochen. Und die nicht gerade verheißungsvolle Diagnose MS machte einen Mittdreißiger auch nicht besonders attraktiv in der Szene. Ich glaube, ich habe mich sehr allein gefühlt, ohne das wahrzuhaben. Was gut war, denn sonst wäre ich wahrscheinlich daran zerbrochen. Also habe ich mich auf die Suche gemacht nach anderen schwulen Rollstuhlfahrern. Vergeblich. Dabei wollte ich nichts von ihnen, außer nicht mehr alleine zu sein, mit meinem Alleinsein. In einer Welt, die den gesunden, starken, athletischen, erfolgreichen Körper feiert und hofiert. Doch nichts fruchtete, es war wie verhext. Niemand interessierte sich für mich, und ich mich für niemanden.
Am Ende dieser erfolglosen Suche hatte ich in Berlin ein Date mit einem Pretender. Das sind Typen, die sich sehnlichst eine Behinderung wünschen, aber keine habe. Wir saßen nebeneinander, er erzählte wie im Beichtstuhl, dass er nur in der Wohnung herumrollt in einem im Internet bestellten Modell. Da er im ersten Stock lebt, traut er sich wegen der Nachbarn nicht, den Rollstuhl herunterzutragen. Dieses Date war wohl eines der schrägsten meines Lebens. Denn der Mann war definitiv nicht an mir interessiert, sondern nur an meinem Rollstuhl. Danach habe ich die Suche aufgegeben. Ich war nun kein Schwuler mit Rollstuhl mehr, sondern ein ehemals schwuler Rollstuhlfahrer.
Ich habe dann Bücher geschrieben, über Scham und Peinlichkeit, über Trost und Einsamkeit und über Behinderung, habe inszeniert, stand auf der Bühne. Kurz, ich bin meinen Weg gerollt.
Doch allmählich veränderte sich etwas. Durch die Begegnungen mit vielen anderen Menschen mit Einschränkungen fand ich zu mir selbst. Denn ich bemerkte, dass es um viel mehr geht als darum, wie die Nichtbehinderten mich sehen, sondern wie wertschätzend wir uns selbst. Der Zusammenhalt unter uns Schwachen ist das Wichtigste. Da habe ich mich am richtigen Platz gefühlt. Wir stützen, wir schieben uns, wir helfen uns gegenseitig, nur das zählt. Gemeinsam aus Schwäche Stärke machen. Es geht um gelebte Solidarität. Für uns werde ich mich einsetzen, und ich hoffe, dass die sich für mich einsetzen.
Ach ja, seit vier Jahren bin ich in einer beglückenden Beziehung mit jemandem, den meine Behinderung keinen Deut interessiert.
Eine Antwort zu “Eigentlich bin ich gar nicht allein”
Guten Abend Raul Krauthausen, vielen Dank für den Hinweis auf den provozierenden Beitrag von Max Dorner, diesem vielen Dank dafür.
Bei mir wurde vor 5 Jahren eine chronische Persönlichkeitsstörung diagnostiziert, ich habe eine Bezugspersperson verloren seitdem, aber nicht deswegen, wir hatten uns gestritten wegen anderer Dinge. Ansonsten ist alles so wie immer, ich kenne sehr wenige Menschen, traue keinen „Neuzugängen“ im Bereich sozialer Kontakte, ich weiß aber auch nicht, ob dies daher kommt, weil ich fürchterlich enttäuscht wurde oder ob es daher kommt, dass mein Kopf, mein Herz irgendwann gesagt haben: „Es ist mir zu anstrengend, dieses ganze soziale Ding – bemühe Dich um Mutter, Schwester, Cousine – das ist ok, mehr muss auch nicht, lass doch gut sein“ – Gesagt hat mein Herz mir das sicher, warum weiß ich aber nicht und es spielt auch eher keine Rolle, denn ich habe aufgehört, mich zurecht denken zu wollen, zurecht trainieren zu wollen, damit ich so wäre wie der gesellige Gruppenmensch. Versuche, mich anzunähern, aus Sympathie, weil ich denke, jetzt probiere ich es doch mal, enden so, dass ich meinen Gegenüber, so unlängst Raul Krauthausen selbst, dem ich zugesagt hatte, dann aber absagte für einen Gruppentermin, der mich unruhig stimmte,
ablehne, einfach weil ich es bin, die mit solchen Terminen große Probleme hat.
Ich würde gerne die Barriere abbauen wollen, dass jeder immer „gemeinsam“ sein muss – ich möchte gerne im Alle für Alles -Verteiler sein, kleinere Verteiler liegen mir nicht, sie stimmen mich misstrauisch. Mein Leben empfinde ich als sehr erfüllend und reich, wenn der Abgleich mit Menschen jenseits der drei Genannten ohne Stress und Diskussion unterbleiben darf. Über sachorientierte Debatten freue ich mich jederzeit, ich finde viele davon dank Social Media.
Die Frage „allein“ „nicht allein“ möchte ich nicht, freue mich aber, hier Gegenpol sein zu dürfen zu Max Dorners Kommentar.