Wissenschaft und Politik fordern die Aufnahme ukrainischer Kinder ins Regelschulsystem. Ein paralleles Schulsystem könne man sich nicht leisten, heißt es. Klingt einigermaßen überzeugend. Warum aber haben wir sowas schon?
Ich reibe mir seit Wochen die Augen, wenn ich die Berichte über „Integration“ lese, bei denen es in dieser Zeit nicht um Menschen mit Behinderung geht, sondern um aus der Ukraine Fliehende. Ich freue mich, mit welcher Intensität und Hingabe an einem echten Willkommen gearbeitet wird. Immer mehr ins Augenmerk rücken dabei die Kinder – in eine Schule müssen sie ja gehen. Und da fällt schon auf, wie wertvoll plötzlich das Miteinander beim Lernen erscheint. Das war ja nicht immer so.
Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) sagte zum Beispiel der „Welt am Sonntag“, die nach Deutschland geflüchteten Kinder und Jugendlichen aus der Ukraine bräuchten nicht nur Sicherheit, sondern auch eine Perspektive. Und Udo Beckmann, der Bundesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung: „Je länger der Krieg andauert, desto wichtiger wird es, dass die geflüchteten Kinder und Jugendlichen darin unterstützt werden, die deutsche Sprache zu erlernen. Nur dann gelingt die Integration in Regelklassen und in die Gesellschaft.“ Schließlich Karin Prien, die amtierende Präsidentin der Kultusministerkonferenz: „Auf der anderen Seite können wir natürlich kein paralleles Schulsystem etablieren.“
Sapperlot, dachte ich, das klingt wie Musik in meinen Ohren. Denn übersetzt auf die 568.000 Schüler*innen in Deutschland mit sonderpädagogischem Förderbedarf hieße das, dass auch sie eine „Perspektive“ brauchen. Auch bei ihnen würde eine Integration am besten in Regelklassen gelingen. Und für sie sollte man ebenfalls kein paralleles Schulsystem etablieren. Oder?
Doch die Realität sieht anders aus. Zumindest für jene 325.000 Kinder und Jugendliche, die Förderschulen besuchen, denn diese entwickeln sich für sie als bildungspolitische Sackgassen. 72,3 Prozent von ihnen verlassen jene Stätten ohne einen Hauptschulabschluss, während die Quote für Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf, die auf Regelschulen gehen, bei 46,6 Prozent liegt. Diese beiden Zahlen dokumentieren eine chronische Unterforderung. Sie fußt auf der Annahme, behinderte Menschen seien eine einheitliche Gruppe – und ist das Bild erstmal entworfen, sorgt man dafür, frei nach Bert Brecht, dass er ihm ähnlich wird: der Mensch dem Entwurf. Und der Mensch mit Behinderung glaubt irgendwann selbst der Annahme, er sei zu behindert für echte Bildung. Danach winken dann in der Regel nur noch die Werkstätten mit Arbeit weit unter jedem Mindestlohn.
Man verstehe mich nicht falsch: Ich behaupte nicht, dass nach dem aus den Schüler*innen mit Förderbedarf, die Regelschulen besuchen, lauter Nobelpreisträger hervorgehen werden; aber die jetzige Performance in den Förderschulen ist erbärmlich. Das will doch eigentlich keiner. Der Arbeitsmarkt jedenfalls kaum.
Warum leisten wir uns also ein paralleles Schulsystem bei Kindern mit Behinderung? Die Argumente dafür sind ein Pingpong aus Beschützerreflex und falsch verstandenem Darwinismus. Behinderte Schüler*innen an Regelschulen würden das Lerntempo drosseln, während leistungsstarke Schüler*innen weniger gefördert würden. Auch wird angeführt, die gleiche Unterstützung wie an einer Förderschule sei an Regelschulen nicht finanzierbar und abgesehen davon bräuchten sie einen geschützten Raum. Sie könnten dort gezielter gefördert – und auch vor Ausgrenzung und Versagen bewahrt werden.
Doch Ausgrenzung auf dem Schulhof zuvorzukommen, indem man Kinder mit Behinderung durch ganze parallele Schulsysteme aussondert und dort fast zwangsläufig zum Versagen bringt (72,3%!!), ist paradox und kann nicht die Lösung sein.
Sonderbeschulung ist nicht die Lösung für unsere ukrainischen Freundinnen und Freunde, da sind wir uns einig. Aber es ist auch nicht die Lösung für uns und unsere Kinder mit Behinderung.
Ich sehe die Antwort in einem inklusiven Schulsystem. Dieses trifft zwar noch immer auf Vorbehalte, doch die sind vielfach durch die Praxis widerlegt worden. Gute Inklusionsschulen geben allen die Chance auf Bildung und die so wichtige Perspektive auf eine Karriere nach der Schulzeit. Ich wünsche mir, dass die gut geförderte Regelschule zur Norm wird und wir von dem Irrglauben wegkommen, wir tun Kids mit Behinderung einen Gefallen, wenn wir sie auf Förderschulen für ein Leben in der Werkstatt vorbereiten.
6 Antworten zu “Der feine Unterschied zwischen Pass und Behinderung”
Lieber Raúl,
Du sprichst mir aus der Seele. Nur eine konstruktive Inklusion und Bereitschaft die Schullandschaft zu verändern, bringt uns in der Zukunft den erfolgreichen Durchbruch für das Miteinander verstehen.
Herzliche Grüße
Werner
Lieber Raul,
nach mehr als zwanzig Jahren Einsatz für eine inklusive Bildung (als Lehrerin und einige Jahre auch als Schulleiterin) bin ich der festen Überzeugung:
„Wir“ (im Sinne von Deutschland) WOLLEN gar kein inklusives Schulsystem – allen Lippenbekenntnissen der Verantwortlichen zum Trotz! Und die Strukturen des System lassen all diejenigen mehr und mehr verzweifeln, die sich die Veränderung der Schullandschaft im Sinne des Auftrags der UNBRK auf die Fahne geschrieben haben.
Herzliche Grüße
Ivonne
Ich bin so froh, dass mein Neffe in Spanien mit allen anderen Kindern auf die Schule gehen kann und sogar mit in die Skifreizeit etc. fahren kann. Ich wünsche mir, dass wir das in Deutschland auch mal ein System des Förderns bekommen statt dem Aussortieren und der Elitenförderung.
Ich bin wirklich für die inklusive Beschulung aller Schüler*innen. Aber: die Gesellschaft ist noch lange nicht so weit, dies im Sinne aller umzusetzen. Ich arbeite an einer Förderschule, und wir „dürfen“ die gescheiterten Existenzen seelisch wieder aufpeppeln, die sich in dem inklusiven System so dermaßen als Looser und Mobbingopfer wahrgenommen haben, dass sie sich nur noch durch unangebrachtes Verhalten und Lernverweigerung diesem entziehen konnten. Eine unserer Hauptaufgaben ist es geworden, ihnen den Rücken zu stärken, ihnen das nötige Selbstbewusstsein zurück zu geben um überhaupt erst wieder ins Lernen wollen zu kommen. Und dann gibt es noch die Schüler*innen, die zusätzlich aufgrund der Sprache im Regelschulsystem untergehen. Wir betreiben durchaus auch Inklusion „anders herum“, indem wir versuchen, die Schüler*innen stark für das Regelschulsystem zu machen. Ein Teil unserer Schulklassen ist an einer Regelschule untergebracht, so das Begegnungen und auch gemeinsamer Unterricht statt finden können. Aber selbst wir haben Schüler*innen, die Gruppengrößen von 8 – 10 Personen nicht aushalten und den Rahmen sprengen. Was machen wir mit denen, die damit nicht klar kommen in der inklusiven Beschulung? Die Durchdrehen auf dem riesigen Schulhof mit viel zu viel Reizen und Menschen, die sie überfordern?
Solange es die Sonderschule Gymnasium gibt muss es auch das Gegenmodell Förderschule geben. Solange das noch nicht in den Köpfen der Gesellschaft angekommen ist werden Schüler*innen mit Förderbedarf die Looser sein.
„72,3 Prozent von ihnen verlassen jene Stätten ohne einen Hauptschulabschluss, während die Quote für Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf, die auf Regelschulen gehen, bei 46,6 Prozent liegt. “
Das liegt allerdings nicht nur daran, dass man Förderschulkindern weniger zutraut. Ein weiterer Grund: In allgemeine Schulen (nicht mit der Regelschule in Thrüringen verwechseln) werden fast immer nur die „leichteren“ Fälle aufgenommen, und manche Kinder, die früher einfach so mitgelaufen wären, haben heute das Ettikett Förderbedarf – weil es dann Extraressourcen gibt. Und die sind nötig.
Ich setze mich als Elternvertreterin seit 2003 für Inklusion ein. Also schon zu einer Zeit, als es das Wortz hier noch gar nicht gab. Sogar im extrem konservativen Bayern ist es uns gelungen, die Lernzielgleichheit für Integrationskinder, wie sie damals noch hießen, abzuschaffen. Auf eine Elternfrage habe ich allerdings bis heute keine Antwort: Wenn sogar Kinder mit Downsyndrom aufs Gymnasium gehen dürfen – warum darf ein Kind das dann nicht, nur weil es nach der vierten Klasse einen Notenschnitt von 2,66 hat (ilt für Bayern)?
Inklusion ist keine Bringschuld des oder der Einzelnen, nicht der Kinder, nicht der Eltern, nicht der Lehrkräfte. Inklusion ist eine Bringschuld des Systems. Wir brauchen echte Gemeinschaftsschulen. Diejenigen, die vom jetzigen System profitieren, sitzen halt leider meistens an den Entscheider*innenstellen.
Hier nochmal mein Kommentar, diesmal ohne Tippfehler:
„72,3 Prozent von ihnen verlassen jene Stätten ohne einen Hauptschulabschluss, während die Quote für Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf, die auf Regelschulen gehen, bei 46,6 Prozent liegt.“ Das liegt allerdings nicht nur daran, dass man Förderschulkindern weniger zutraut. Ein weiterer Grund: In allgemeine Schulen (bitte nicht mit der Regelschule in Thüringen verwechseln) werden fast immer nur die „leichteren“ Fälle aufgenommen, und manche Kinder, die früher einfach so mitgelaufen wären, haben heute das Ettikett Förderbedarf – weil es dann Extraressourcen gibt. Und die sind nötig.
Ich setze mich als Elternvertreterin seit 2003 für Inklusion ein. Also schon zu einer Zeit, als es das Wort hier noch gar nicht gab. Sogar im extrem konservativen Bayern ist es uns gelungen, die Lernzielgleichheit für Integrationskinder, wie sie damals noch hießen, abzuschaffen. Auf eine Elternfrage habe ich allerdings bis heute keine Antwort: Wenn sogar Kinder mit Downsyndrom aufs Gymnasium gehen dürfen – warum darf ein Kind das dann nicht, nur weil es nach der vierten Klasse einen Notenschnitt von 2,66 hat (gilt für Bayern)?
Inklusion ist keine Bringschuld des oder der Einzelnen. Nicht der Kinder, nicht der Eltern, nicht der Lehrkräfte. Inklusion ist eine Bringschuld des Systems. Wir brauchen echte Gemeinschaftsschulen. Diejenigen, die vom jetzigen System profitieren, sitzen halt leider meistens an den Entscheider*innenstellen.