Wir müssen reden!

Was bedeutet Selbstbestimmt Leben für mich? Bezogen auf Artikel 9 und 19 der UN-Konvention: Das Recht auf Barrierefreiheit, ein selbstbestimmtes Leben und unabhängige Lebensführung.
Kinder, wie die Zeit vergeht. Es liegt jetzt also schon sechs Jahre zurück, als die Tinte von Deutschland auf der Ratifizierung der UN-Konvention für Menschen mit Behinderungen (UNBRK) trocknete. Wie in jeder Beziehung gibt es dabei wohl Phasen der kompletten Euphorie (bei der Ratifizierung) und Zeiten der Ernüchterung (vier Jahre danach). Es ist wohl der Punkt gekommen, wo man die berüchtigte SMS an den Partner schreibt: „Wir müssen reden.“
Liebe Konvention,
ich war voller Glück, als du in mein Leben getreten bist, und besonders deine Sätze zu Artikel 9 („Barrierefreiheit“) und 19 („Recht auf selbstbestimmtes Leben und unabhängige Lebensführung“) haben es mir angetan. Als uns die damalige Regierung verkuppelt hat, dachte ich die ganze Zeit, sie sei dabei, aber irgendwie hat sie sich danach klammheimlich aus unserer Dreiecksbeziehung Mensch mit Behinderung, Konvention und Legislative bzw. Exekutive zurückgezogen. So sind laut dem Deutschen Institut für Menschenrechte weiterhin: „6 Bundesländer noch ohne Aktions- und Maßnahmenpläne zur Umsetzung der UNBRK.“

Es bewegt sich was …

Ich weiß, dass sie immer noch da ist, weil sie die Zugänglichkeit (Artikel 9) zu Gebäuden verbessert hat. Auch der ÖPNV in Berlin ist zum größten Teil für Rollstuhlfahrer nutzbar, und so können Busse beispielsweise über Rampen bestiegen werden. Es sollten nur nicht zu viele (also zwei) Rollstuhlfahrer zur gleichen Zeit auf dieselbe Idee kommen. In einige Fördertöpfe wird auch immer mal wieder Geld gesteckt und damit werden Schulen und andere öffentliche Gebäude ausgebaut. Nur scheint die Exekutive noch nicht recht zu unserer Beziehung zu stehen und verleugnet uns auch gerne mal gegenüber dem Denkmal- und Brandschutz. Dabei scheinen die mir in dieser Beziehung besonders wichtig zu sein, weil es durch die auch schwer wird. Wie kann sich zum Beispiel der Brandschutz begründen, dass zwar Familien mit Kinderwägen auf den Berliner Fernsehturm kommen, aber Rollstuhlfahrer nicht? Oder auch, dass eine Veranstaltung im Bundestag mit 70 Rollstuhlfahrern von 100 Mitarbeitern des Technischen Hilfswerk geschützt wird. Was hat der Brandschutz gegen Menschen im Rollstuhl?

… aber nicht genug

Der Punkt mit dem Brandschutz führt mich auch zu der Selbstbestimmung. Als ich Letztens in der Bahn ein Pärchen belauscht habe, fragte sie ihn: „Warum soll denn alles barrierefrei umgebaut werden. Ist das nicht übertrieben? Wenn ein Rollstuhlfahrer kommt, dann helfen doch bestimmt auch Menschen beim Tragen.“ Diese Meinung habe ich schon öfters gehört, und gerne frage ich dann: „Würdest du gerne jedes Mal wildfremde Menschen fragen, ob sie dich auf das WC im Keller tragen?“. Bei dem Gespräch in der Bahn sollte mein Lauschangriff nicht auffallen, deswegen habe ich dort die Frage nicht gestellt, und für mich gibt es da eigentlich nur eine Antwort: „Nein!“ In dem Gedanken der Frau über unsere Beziehung fand ich es auch bemerkenswert, dass ein barrierefreier Umbau weiterhin als eine exklusive Maßnahme für eine bestimmte Gruppe von Menschen gesehen wird. Dabei habe ich auch schon Fußgänger in Aufzügen gesehen, Getränkelieferanten, die Bierkisten über eine Rampe schoben und Business-Leute, die an einer Ampel den Signalknopf drücken, damit sie danach wieder ins Smartphone versinken können, bis das grüne Männchen aufleuchtet.

Selbstbestimmung sieht anders aus

Barrierefreie Umbauten bringen allen was, aber kosten natürlich auch Geld. Und genau den Punkt – dachte ich – haben wir schon lange vor unserer Beziehung geklärt: Ich gebe dir, liebe Konvention, über unseren gemeinsamen Freund, den Staat, Geld in Form von Steuern, weil er am besten weiß, wie er in dich investieren kann. Mit den Subventionen für wunderbare Solarplatten auf privaten Dächern hat die Exekutive ja bewiesen, dass sie es kann. Also warum jetzt nicht einfach den barrierefreien Ausbau von Betrieben unterstützen? In vielen Fällen gibt es ja auch Programme dazu, aber die werden auch mal gut versteckt.
Das mit dem Geld ist für mich privat auch ein Problem, weil ich selbst nicht so viel Geld verdienen darf, da es sonst auf meine Assistenz angerechnet wird und ich so zu einem gewissen Teil arm gehalten werde. Selbstbestimmung sieht für mich anders aus.

Mit der Geduld am Ende

Jetzt sitzen wir hier, liebe Konvention, und ich kann nicht sagen, wie zufrieden oder unzufrieden ich mit deiner Umsetzung in Deutschland bin. Ich glaube aber, dass es ein bisschen schneller vorangehen könnte. An Schulen, Universitäten und im ersten Arbeitsmarkt sehe ich noch viel zu wenige Menschen mit Behinderungen, und wenn es nicht über die Subventionen geht, dann doch vielleicht über den rechtlichen Weg. Denn dafür wurdest du doch gemacht, du bist ein Menschenrecht, und ich mag dich so sehr, dass ich für dich nicht nur über sieben Brücken, sondern auch den Klageweg gehen würde. Aber soweit soll es doch eigentlich nicht kommen, und ich bitte einfach darum, dass das Thema Behinderung nicht mehr als ein Nischenthema betrachtet wird, sondern es geht uns alle an, und deswegen müssen wir alle an der Umsetzung der UNBRK arbeiten. Papier ist zwar geduldig, nur ich bin es nicht.
Dieser Text entstand für das Inklusions-Blog der Aktion Mensch.



Eine Antwort zu “Wir müssen reden!”

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Einmal die Woche gibt es von mir handgepflückte Links aus aller Welt zu den Themen Inklusion und Innovation in meinem Newsletter. Kein Spam. Versprochen.

Die vergangenen Ausgaben gibt es hier.




If you’re interested in our english newsletter
„Disability News Digest“, please subscribe here!