Je anspruchsloser, desto besser


Behinderte oder alte Menschen, die in Einrichtungen leben oder betreut werden, sind den Vorgaben des Personals oftmals hilflos ausgeliefert. Denn nur, wer im Alltag funktioniert, hält den Betrieb nicht auf. Aufgrund mangelnder Selbstreflexion sind sich die Pfleger*innen ihrer Machtposition jedoch nur selten bewusst – ein strukturelles Problem.
Abendessen in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung oder in einem Altersheim. Das Pflegepersonal bereitet acht Schälchen mit jeweils einem Klacks Margarine vor – für jede/n Bewohner*in eine. Sind diese leer, gibt es keinen Nachschub, aber es fragt auch kaum jemand danach. Soweit nichts Ungewöhnliches. Doch schaut man genauer hin, verdeutlicht dieses Beispiel bei Menschen mit Behinderung, das Volker Schulze-Weigmann in seinem Artikel „Unsere anspruchslosen Assistenznehmer“ beschreibt, ein strukturelles Problem im Umgang mit behinderten Menschen: Das Pflegepersonal hat Macht über die Bewohner*innen. Begonnen bei der Margarine zieht sich dieses Ungleichgewicht zwischen Pflegenden und „Gepflegten“ durch den Einrichtungsalltag. Egal, ob es um festgelegte Essens- oder Schlafenszeiten geht, um Gruppenaktivitäten, an denen alle teilnehmen müssen, oder um den vorgeschriebenen Ablauf in Sachen Duschplan. Raum für „Sonderwünsche“ gibt es nicht. Ich weiß, wovon ich hier schreibe.
Verweigern Bewohner*innen sich den Vorgaben, etwa, weil sie gerne später ins Bett gehen oder zu einem anderen Zeitpunkt duschen würden, werden sie – bewusst oder unbewusst – abgestraft. Entweder, indem die Pfleger*innen ihre Wünsche ignorieren, den Duschgang wegen Zeitmangels streichen oder – im schlimmsten Fall – indem sie die Menschen mit Behinderung körperlich oder seelisch misshandeln. Erwachsene sind somit der Willkür jener ausgesetzt, die ihnen eigentlich im Alltag assistierend zur Hand gehen und ihnen das Leben erleichtern sollen.
Dass sich Bewohner*innen in der Regel selten den Heimvorschriften widersetzen und scheinbar stilles Einverständnis signalisieren, verdeutlicht nur, dass sie an die institutionellen Strukturen gewöhnt sind – manche von ihnen bereits seit Kindertagen. Durch Vorgaben und eingefahrene Abläufe geben sie ihre Entscheidungsfreiheit auf. Nach und nach mutieren kompetente, selbstbestimmte Menschen so zu Hilfeempfängern ohne eigenen Willen.

Strukturelle Probleme und fehlende Selbstreflexion

Natürlich sind nicht alle Pflegeheime gleich und in vielen ist das Personal um bestmögliche Unterstützung bemüht. Jedoch habe ich etwa im Rahmen des Heimexperiments Einrichtungen kennengelernt, in denen diese strukturellen Probleme existieren. Bösartigkeit möchte ich nicht unterstellen, denn in den meisten Fällen ist den Pfleger*innen ihre Machtposition nicht einmal bewusst. Auch sie kennen nichts anderes als die eingeschliffenen Abläufe und sind deshalb kaum in der Lage, ihre eigene Rolle zu reflektieren. Wenn sie jedoch automatisch davon ausgehen, die Heimbewohner seien mit der vorgegebenen Situation glücklich, laufen sie Gefahr, die Machtstrukturen zu ignorieren.
Es ist ein enormer Kraftakt, Selbstreflektion und -kritik zuzulassen. Und natürlich verkompliziert es den Alltag, jedem einzelnen individuell gerecht zu werden. Denn anspruchslose Bewohner, die keine Sonderwünsche haben, ihre Margarineportion verspeisen und um 20 Uhr das Licht löschen, ermöglichen einen planbaren Tagesablauf. In einem chronisch unterbesetzten Personalstab sind selbstbestimmte Menschen, die Forderungen und Wünsche formulieren, Sand im Getriebe der Pflegenden. Und das, obwohl die Bewohner*innen jedes Recht dazu hätten – schließlich sind sie zahlende Klient*innen.
In diesem Zusammenhang gehört auch das Argument, das häufig bei Menschen mit geistiger Behinderung hervorgebracht wird, dass diese nicht in der Lage seien, ihre Situation adäquat einzuschätzen, auf den Prüfstand. Im Sinne des Empowerments ist jede noch so kleine Entscheidung ernst zu nehmen. Menschen in Pflegesituationen, die darin bestärkt werden, ihre eigenen Wünsche zu artikulieren, können auch durch ein Kopfnicken, durch Zwinkern oder Abwehr zeigen, was sie möchten oder ablehnen. Hierbei ist es irrelevant, wie vermeintlich anspruchsvoll oder -los diese Entscheidung ist. Eine auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnittene Assistenz, die dem Menschen Handlungsspielraum zugesteht, gibt ihm so nach und nach sein Selbstbewusstsein zurück – ein erster Schritt weg von der Fremdbestimmung, hin zur Assistenz, die unterstützend den Alltag erleichtern soll.

Individuelle Leistungsanbieter statt Pflegeimperien

Die Alten- und Behindertenhilfe muss zum Leistungsanbieter werden, der seine Assistenznehmer*innen wie mündige Klient*innen behandelt. Diese sollten beurteilen, welcher Anbieter ihren individuellen Wünschen am ehesten gerecht wird. Pflegeimperien, auch totale Institutionen genannt, in denen Förderschulen, Wohnheime sowie Berufsbildungswerke unter einem Dach versammelt sind, zeichnen sich zumeist durch miserable Betreuungsschlüssel aus. Die Folge sind die bereits beschriebenen Machtstrukturen im Pflegealltag. Um diese aufzubrechen, können ein inklusives Schulsystem, persönliche Assistenz für Menschen mit Behinderung sowie kleine Wohngruppen einen ersten Ansatz darstellen.
Darüber hinaus müssten Pfleger*innen bereits im Rahmen ihrer Heilpädagogik-Ausbildung auf die Schwierigkeiten der strukturellen Machtsituationen in Einrichtungen vorbereitet werden. Selbstreflexion und kritisches Hinterfragen bestehender Abläufe sollten selbstverständlich sein. Auch regelmäßige Supervisionen sowie ein reales Mitspracherecht der Menschen mit Behinderung sind wichtige Schritte, die eines zum Ziel haben: bevormundende Pflege durch Assistenz für mündige Erwachsene zu ersetzen.


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3 Antworten zu “Je anspruchsloser, desto besser”

  1. danke raul für den beitrag – doch gerade ältere menschen kennen aus ihrer historie das prinzip „mund halten und schlucken“ noch zu gut – sie haben angst vor dem „ausgegrenzt sein“ und nehmen deshalb vieles hin – und auch pfleger nehmen vieles hin und wehren sich nicht gegen personalunterbesetzung, die viele dieser zustände erst möglich macht ;-(
    und esist dann traurig, wenn du von der tochter einer alten dame hörst .“bitte verärgern sie den pfleger nicht, er ist der einzigste, mit dem man wirklich reden kann ….

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