Was die Behindertenrechtsbewegung von der Frauenrechtsbewegung lernen kann.

Sebstbestimmtes Leben
Im Januar 2017 wurde ein Gesetz verabschiedet, das die Rechte behinderter Menschen stärken sollte: Das Bundesteilhabegesetz. Während der Entwicklung des Gesetzestextes wurde schnell offensichtlich, dass Behindertenrechtsaktivisten*innen und Politiker*innen jeweils sehr unterschiedliche Vorstellungen diesbezüglich hatten.
Und so gingen 2016 viele behinderte Menschen gemeinsam mit Alliierten auf die Straße und kämpften um ihre Rechte. Die Auswirkungen der Proteste waren allerdings ernüchternd – und so wurde schließlich ein Bundesteilhabegesetz verabschiedet, das Betroffene sehr enttäuschte: Die Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention wurden in dem Gesetz nicht ausreichend umgesetzt.

Für die Behindertenrechtsbewegung heisst es jetzt: Sich sammeln und die nächsten Schritte planen. Der Blick auf die Frauenrechtsbewegung kann dabei helfen, allerdings auch desillusionieren…
Mehr als 200 Jahre sind vergangen, seitdem die Frauenrechtsbewegung sich während der französischen Revolution in Europa formierte. In der Zwischenzeit konnte die Bewegung große Erfolge erringen, es gab und gibt aber auch immer wieder herbe Rückschläge.
Die Behindertenrechtsbewegung ist in Deutschland weitaus jünger – sie hat ihre Ursprünge in den 1960/70er Jahren zeitgleich mit dem “Disability Rights Movement” in den USA und der zweiten Welle der Frauenrechtsbewegung.
Zentrale Themen der Frauenrechtsbewegung und der Blick auf die Rechte von Menschen mit Behinderung:

  • Wahlrecht

    In Deutschland feiern wir in diesem Jahr das 100-jährige Jubiläum des Frauenwahlrechts. Einige Frauen dürfen allerdings bis heute nicht wählen: Insgesamt ca. 85.000 Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung haben nicht das Recht an der Wahl des Parlamentes teilzunehmen – ein Verstoß gegen die UN-Behindertenkonvention. Behindertenrechtsaktivisten*innen demonstrieren schon lange gegen diesen Wahlausschluss und das Deutsche Institut für Menschenrechte bewertet „die Wahlrechtsausschlüsse (als) einen diskriminierenden und unverhältnismäßigen Eingriff in das menschenrechtlich garantierte Recht zu wählen und gewählt zu werden (…)“.

  • Recht auf Bildung

    In Deutschland fand 1908 die sogenannte Mädchenschulreform statt: Mädchen wurde endlich die gleiche Schulbildung wie Jungen ermöglicht. Weltweit sind Mädchen bis heute in vielen Ländern im Bereich der Bildung benachteiligt.
    Für Schüler*nnen mit Behinderung soll inklusives Lernen gleiche Chancen schaffen wie für nichtbehinderte Lernende – das fordert die UN-Behindertenrechtskonvention. Obwohl schon vor 10 Jahren das Ende der Förderschulen prophezeit wurde, ist davon heute nach wie vor wenig zu bemerken. Der Begriff Inklusion ist zum Schreckgespenst des Schulwesens geworden. Man hält Inklusion für nicht machbar, zu teuer, fordert Schutz der nichtbehinderten ebenso wie der behinderten Schüler*innen.
    Und so bleibt der Bildungsweg vieler Menschen mit Behinderung auf Sondereinrichtungen beschränkt: Von der Förderschule ins Berufsbildungswerk und schließlich in die Behindertenwerkstatt. Zwei Drittel aller Schüler*innen an Förderschulen beenden die Schullaufbahn ohne berufsqualifizierenden Schulabschluss. Internationale Studien beweisen, dass inklusive Bildung behinderte Lernende besser und nachhaltiger auf den Arbeitsmarkt vorbereitet.

  • Recht auf Arbeit

    Erst die Industrialisierung ermöglichte Frauen berufliche Perspektiven. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts standen Frauen einige wenige Berufe offen, unter anderem konnten sie Lehrerin werden. Allerdings nur, wenn sie ledig waren. Sobald sie heirateten, hatte das die sofortige Kündigung zur Folge. Noch bis 1977 durfte eine verheiratete Frau nur dann erwerbstätig sein, wenn “dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar” war.
    Selbst mit qualifizierter Berufsausbildung bleibt der erste Arbeitsmarkt Menschen mit Behinderung oft verschlossen, weil sie, laut Diskriminierungsbericht der Bundesregierung, bei der Besetzung von Stellen benachteiligt werden.
    Vielen behinderten Menschen bleibt nur die Arbeit in Behindertenwerkstätten. Die UN kritisiert das deutsche Werkstättensystem, weil Menschen mit Behinderung aussortiert werden und ein Jobwechsel an den ersten Arbeitsmarkt durch das System verhindert wird.

  • Gleichberechtigung

    Viele Männer sind der Meinung, dass Frauen heutzutage gleichberechtigt sind und die Frauenrechtsbewegung damit obsolet wurde. Unter anderem #MeToo zeigt uns eindrücklich, dass dies nicht der Fall ist.
    Auch Menschen mit Behinderung sind weit davon entfernt, gleichberechtigt in dieser Gesellschaft leben zu können. Teilhabe behinderter Menschen und Barrierefreiheit sind nach wie vor “nice to have” – etwas, das man sich “leisten” kann, wenn es nicht “zu teuer” oder “zu aufwendig” wird.

Behindert werden und behindert sein
Die Philosophin und Feministin Simone de Beauvoir schrieb: „On ne naît pas femme, on le devient.” – „Man ist nicht als Frau geboren, man wird es.“ Eine Erkenntnis, die sich ebenfalls auf Menschen mit Behinderung übertragen lässt.
Ich wurde mit einem Körper geboren, der nicht der Norm entspricht und der in einer Welt, die für genormte Körper gebaut wurde, nicht ohne Hilfsmittel existieren kann. Der entscheidende Punkt ist nicht die Andersartigkeit meines Körpers – sondern die fehlende Barrierefreiheit. Die Gesellschaft entschied bisher, dass eine barrierefreie Umgebung nicht wichtig ist. Würden die mich behindernden Umstände durch Barrierefreiheit wegfallen, hätte das Thema Behinderung keine Relevanz mehr.
Ich wurde nicht nur als behinderter Mensch geboren, ich werde dazu gemacht.
Die nigerianische Autorin und Feministin Chimamanda Ngozi Adichie betont, dass soziale Normen von Menschen geschaffen werden, deshalb sollten Frauen und Mädchen scheinbar biologische Gründe für soziale Normen nicht akzeptieren.

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Auch für die Behindertenrechtsbewegung ist dies ein wichtiger Aspekt: Wie oft schon wurde nicht existierende Gleichberechtigung behinderter Menschen auf ihre biologische Unterlegenheit geschoben. Es gibt keine biologische Unterlegenheit von behinderten Menschen gegenüber nichtbehinderten Menschen. Allerdings gibt es gesellschaftliche Werte, die den nichtbehinderten Menschen zur Norm erklären, die alles, was von diesem Maßstab abfällt, als degeneriert, unnormal oder minderwertig bewerten.
Wir Menschen mit Behinderung und unsere Alliierten dürfen dies nicht weiter hinnehmen und müssen klarstellen: Jede soziale Norm kann verändert werden!
So wie Chimamanda Ngozi Adichie zu Recht sagt, dass die menschengemachte Kultur verändert werden muss, wenn diese Frauen nach wie vor benachteiligt, muss ebenfalls unsere behindertenfeindliche, ableistischen und nicht barrierefreie Kultur und Umwelt verändert werden, um allen Menschen gleiche Teilhabe und Rechte zu ermöglichen.
Ich stimme Chimamanda Ngozi Adichie zu: Wir sollten alle Feministen*innen sein. Und möchte ergänzen: Teilhabe und Barrierefreiheit sollten nicht mehr als “nice to have” angesehen werden – sondern als unbedingte Notwendigkeit gleichberechtigten Zusammenlebens.
(sb)
Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit Suse Bauer zuerst in leicht abgewandelter Form in „neues deutschland“ erschienen.
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Photo: Jonas Deister | Gesellschaftsbilder.de



3 Antworten zu “Was die Behindertenrechtsbewegung von der Frauenrechtsbewegung lernen kann.”

  1. In diesem Zusammenhang: Die wunderbare Geschichte der Kathrine Switzer. Sie schaffte es, vor 50 Jahren allen Widerständen zum Trotz – Frauen waren in den 70ern aus unglaublichen Gründen nicht zum Lauf zugelassen – den Boston Marathon zu laufen. Hier mehr: https://www.laufen.de/kathrine-switzer-die-erste-frau-beim-marathon. Heute kämpfen wir dafür den Kiel.Lauf 2018 für SportlerInnen mit Rollstuhl zu öffnen (https://www.inklusio-kiel.de/kiel-inklusiv/kiel-lauf-inklusiv-2018/). Hut ab, Kathrine Switzer für den Mut und die Courage.

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