So viele nicht erzählte Geschichten

Ein Füller schreibt auf einem BlattSchreiben über andere Menschen ist nicht leicht. Ich bin ja nicht du. Und wenn es leicht gerät, ist etwas faul: eine Anleitung.
Neulich stockte mir bei einem Satz der Atem. Die Schriftstellerin Nicola Griffith schrieb in der New York Times, Literatur über Behinderung sei auf dem Stand der Queer-Literatur vor 70 Jahren. Sie begründete es mit einem Test, den der Aktivist Kenny Fries entworfen hatte – und der geht so: Gibt es in einem Roman, in einer Kurzgeschichte oder einem Theaterstück mehr als einen Charakter mit Behinderung? Haben diese Charaktere einen eigenen Charakter außerhalb der Aufgabe, Nichtbehinderte zu erziehen oder sie gut dastehen zu lassen? Und wird die Behinderung dieser Charaktere nicht eliminiert, etwa durch Heilung oder Tod? Dieser Test basiert auf dem so genannten Bechdel-Test, der danach fragt, ob es in einem Werk zwei Frauen gibt, die miteinander über anderes reden als über Männer. Dieser Ursprung ist wichtig, denn er sagt viel darüber aus, was passiert, wenn Leute aus einer großen Gruppe über die einer kleinen Gruppe reden.
Nicola Griffith startete also in den Sozialen Medien eine Anfrage, man solle ihr bitte Bücher nennen, die solch einen Test bestehen. Sie kam auf eine Liste von 55 Werken, einige alt und vergriffen. Nach aus Auskunft des Stanford Literary Lab, so Griffith, existierten derzeit rund fünf Millionen Romane in der Englischen Sprache. Und rund ein Viertel der Amerikaner habe eine Behinderung. Also müssten es umgerechnet 1,25 Millionen Romane sein, welche dies thematisieren. Es sind aber 55.
Ich sehe darin eine Befangenheit. So viele Geschichten, die fehlen. Und weil sie nicht aufgeschrieben werden, erhält sich die Befangenheit, setzt sich fort.
Faszinierend finde ich die Erfahrungen, die Griffith auf dem Weg zu diesem Test gemacht hatte: Sie wuchs in einer katholischen Familie in Nordengland auf und bemerkte recht schnell, dass es zwei Narrative gab: Der eine fand den katholischen Glauben gut, der andere beschrieb ihn als schlecht. Griffith schreibt, sie habe mit fünf Jahren bemerkt, dass sie Mädchen mochte. Das fand sie normal. Erst mit neun erfuhr sie, dass es eine dominante Geschichte gab, die meinte: Das sei schlecht. Mit 15 ging sie erstmals in einen Schwulenclub, fand das Küssen der Männer ekelig und erschrak über ihre Reaktion. Also ging sie einen Monat lang in diesen Club, um die alte Geschichte zu überschreiben und zu lernen, dass küssende Männer nun keine Sensation irgendeiner Art sind. Dann erkrankte sie vor 25 Jahren an Multipler Sklerose und brauchte wiederum Jahre, um den ableistischen Narrativ zu verstehen, den sie absorbiert hatte. Sie kennen das Wort „ableistisch“ nicht? Macht nichts, auch meine Rechtschreibkorrektur will es unbedingt rot unterstreichen, es meint die Abwertung von Menschen mit Behinderung, sowas wie „behindertenfeindlich“. Denn nun fiel Griffith auf, dass in Romanen Menschen mit Behinderung entweder einen tragischen Krüppel spielten, oder einen wütenden oder einen hilflosen – geschrieben von Autoren, die keine Behinderung hatten und deren Schreibe man ansah, dass die Vorstellung, mit einer Behinderung zu leben, eine schreckliche sein müsse.
Nun, das Leben mit einer Behinderung kann hart sein, tragisch ist es nicht. Manchmal sind die gemachten Umstände um mich herum tragisch, ich persönlich ziehe indes vor, über sie zu lachen, ich meine die Umstände, nicht die Behinderung.
Daher kann ich nur dazu aufrufen: Schreibt sie, die vielen bisher stummen Geschichten! Natürlich muss man keine Behinderung haben, um darüber zu schreiben. Es ist aber ratsam, gewisse Regeln zu beachten.
Wie die aussehen könnten, hat Kayla Ancram aufgeschrieben. Die Schriftstellerin hat für Freund_innen notiert, was zu beachten sei, wenn nicht betroffene in einem fiktionalen Werk über People of Color (PoC) Protagonist_innen schreiben. Und es passt meiner Meinung nach gut zu dem, was beim Schreiben über Menschen mit Behinderung anfällt, siehe große und kleine Gruppe. Ancram rät zu Forschung, Beharrlichkeit und Abwägung.
Unter Forschung meint sie, dass erst einmal vergessen werden sollte, was man über PoC-Frauen denkt – denn diese Gedanken werden von Medien transportiert, in denen kaum PoC-Frauen sitzen. Ancram empfiehlt also sich hinzusetzen und Literatur zu lesen, und zwar von PoC-Frauen für PoC-Frauen. So lasse sich herausfinden, welche Diskurse wie bei ihnen ablaufen. Auch Tumblr-Blogs von PoC empfiehlt sie, um ein Gespür für relevante Themen zu kriegen. In einem nächsten Schritt sollte man sich mit den zahlreichen Klagen PoC darüber auseinandersetzen, welche Porträts über sie in die Hose gingen – und warum. Zu beklagen gibt es viel, da fühlt man sich als nicht-PoC Leser_in rasch als Opfer, aber Ancram plädiert dafür, sich von den persönlichen Gefühlen zu lösen und einfach zuzuhören, zuzuhören, zuzuhören. Letzten Endes habe man nicht zu erleben, was diesen Kritikerinnen täglich widerfährt. Und viel Härte komme vom Ärger. Zorn sei weniger ein Vorurteil denn eine alte Wunde, Angst und Schmerz. Es geht über sie und nicht über dich.
Drauflos schreiben ist also wenig sinnvoll. Nicht, dass es Autor_innen ergeht wie dem Regisseur James Cameron in seinem angeblich so wegweisenden Film „Avatar“. Camerons Story ist furchtbar altbacken, er reaktiviert eine Pocahontas-Version. Hätte er Ancrams Ratschläge befolgt, wäre ihm ein besserer Film gelungen; Ureinwohnern Amerikas gefiel die sexualisierte Pocahontas-Version nicht, und Camerons Märchen auch nicht. Durchgefallen.
Ancram macht sich dafür stark, nun nicht einfach die Unterschiede zu ignorieren. Es sei unrealistisch, schreibt sie, wenn Charaktere so tun, als wenn PoC nicht PoC wären. Es gilt sich dem also zu stellen. Mit Forschung, Beharrlichkeit und Abwägung.
Ob Sexualität, Geschlecht, Ethnie oder Behinderung: Am schlimmsten wird es, wenn Leute meinen Bescheid zu wissen. Aber es in der Regel nicht tun.
Einfache Regeln zum Schreiben über Menschen mit Behinderung habe ich bei der Bloggerin Larli Beth gefunden. Wenn ihr da draußen also einen Roman schreiben wollt, eine Kurzgeschichte, ein Hörspiel oder wasauchimmer, diese Regeln sind Gold wert, wenn ihr realistisch sein wollt: Da geht es zum Beispiel darum, Behinderung nicht in den Fokus eines Charakters oder einer Handlung zu stellen; so interessant ist dies nun nicht, eben Alltag. Ignoriert oder tabuisiert werden sollte sie aber auch nicht. Am Ende ruft sie dazu auf: „Find us and ask us.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.


Weitere Beiträge entstanden durch die Unterstützung zahlreicher Supporter auf SteadyHQ.com. Hier kannst auch du mich bei meiner Arbeit unterstützen: Unterstütze mich auf Steady



4 Antworten zu “So viele nicht erzählte Geschichten”

  1. Guter und wichtiger Artikel eine Sache frag ich mich trotzdem “ Ancram macht sich dafür stark, nun nicht farbenblind zu werden. Es sei unrealistisch, schreibt sie, wenn weiße Charaktere so tun, als wenn Nicht-Weiße nicht nicht-weiß wären. Es gilt sich dem also zu stellen. Mit Forschung, Beharrlichkeit und Abwägung.“ wie kann diese hier benannte rassistische Phänomen bebannt werden ohne den Begriff farbenblind in dieser Art negativ benutzen zu müssen. Ein kleiner intersektioneller Gedanke

  2. Und wenn wir schon dabei sind, der Ausdruck „Nicht-Weiße“ ist ebenfalls unglücklich, denn er stellt „weiß sein“ als Norm dar und „nicht weiß“ als Abweichung. Die bevorzugte Eigenbezeichnung ist „People of Color“ bzw PoC.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Einmal die Woche gibt es von mir handgepflückte Links aus aller Welt zu den Themen Inklusion und Innovation in meinem Newsletter. Kein Spam. Versprochen.

Die vergangenen Ausgaben gibt es hier.




If you’re interested in our english newsletter
„Disability News Digest“, please subscribe here!