Ich bin müde. Ein Appell gegen Grabenkämpfe und für echte Begegnung

Raul Krauthausen

„Dagegenhalten. Keinen Schritt weichen. Auch ich habe lange Zeit gedacht, dass das die richtige Taktik ist“, schreibt Martin Fehrensen, Gründer des Social Media Watchblog, über seinen Abschied von Twitter, heute X. Er wirft die Frage auf, wie viel ein Dagegenhalten auf einer Plattform bewirken kann, die nicht für Dialog, sondern „für Eskalation gebaut“ ist. 

Die Sozialen Medien haben sich von Anfang an Begegnung als wichtigstes Ziel auf die Fahnen geschrieben: Sie wollten „die Welt näher zusammen“ (Meta) oder „Freude bringen“ (TikTok). Vor allem aber wollten sie, so wie alle Wirtschaftsunternehmen, nicht nur überleben, sondern auch wachsen. Soziale Interaktionen zu stärken, bedeutete in ihrer Logik: Engagement um jeden Preis. Und was sorgt garantiert für Engagement? Alles, was starke Emotionen auslöst – Fake News und Menschenverachtung inklusive. Kein Wunder, dass diktatorische Regimes, rechtsextreme Politiker*innen und andere radikale Akteur*innen Soziale Medien für Desinformation und Propaganda nutzen: Die Empfehlungsalgorithmen ermöglichen ihnen ein Millionenpublikum, während ausgewogene Inhalte in die Unsichtbarkeit verbannt werden. Rechte nutzen Twitter seit Jahren für koordinierte Shitstorms und menschenfeindliche Hashtags in den täglichen „Trends“. Die Kommentarspalten bei Facebook und Instagram laufen über vor kaum bis gar nicht moderierten Hasskommentaren. Debatten auf Augenhöhe hingegen scheinen zur Ausnahme zu werden. Das geht an die Substanz. Als Aktivist fühlt es sich immer öfter so an, als könnte ich nur verlieren. 

Soziale Medien verändern unseren Umgang miteinander

Die Algorithmen der großen Plattformen beeinflussen, wer sichtbar wird und wer nicht. Aber damit hört es nicht auf. Wir alle kennen etwa die Geschichte der „stillen Mitlesenden“, die wir angeblich beeinflussen müssten. Es ist ein zutiefst neoliberales Narrativ: Wir Konsument*innen können vermeintlich alle Probleme dieser Welt lösen, wenn wir nur das Richtige konsumieren. Wenn wir nur lange genug online bleiben, um uns in den Sozialen Medien zu „informieren“ und Gegenrede zu betreiben. Denn je länger wir online bleiben, desto mehr Werbung kann uns ausgespielt werden. 

Die Plattformen versprechen uns also Empowerment: Wie großartig wäre das, mit einem Mal eben auf dem Klo getippten Kommentar andere Menschen auf den Boden der Demokratie zurückholen zu können? Gleichzeitig spielen sie uns verstärkt Beiträge aus, die Gefühle wie Hilflosigkeit, Wut oder Verzweiflung auslösen. So wird uns vermittelt: Du kannst nichts tun – außer teilen, liken, kommentieren. Je emotionaler und schneller, desto besser. Diese Dynamik verändert, wie wir online miteinander umgehen. Auch der deutsche Online-Aktivismus ist meiner Wahrnehmung nach immer mehr davon getrieben, schnellstmöglich Statements zu veröffentlichen. Das wird teilweise auch von der eigenen Bubble eingefordert: Wer sich nicht binnen weniger Stunden oder Tage äußert, der oder dem wird im Zweifelsfall Desinteresse oder sogar Menschenfeindlichkeit unterstellt. Immer wieder werden Menschen darauf reduziert, was sie online posten. Als gäbe es im Leben nur zwei Möglichkeiten: Social Media-Aktivismus oder Nichtstun. Und als wäre es Aktivismus, anderen Leuten bei Social Media vorzuschreiben, wie sie Social Media zu nutzen haben.

Dämonisierung bringt uns nicht weiter 

Ob wir solchen Narrativen auf den Leim gehen, hat auch mit unserem Ego zu tun. Denn wir machen die Welt nicht automatisch besser, wenn wir uns immer und zu allem sofort äußern oder andere auffordern, sich sofort zu verhalten. Im Gegenteil: Wenn wir in den Sozialen Medien überstürzt emotionale Statements veröffentlichen, die weder durchdacht noch sauber recherchiert sind, tragen wir dazu bei, dass das Internet zu einer „Dekontextualisierungmaschine“ wird, wie der Journalist Titus Blome es nennt. Fehlender Kontext sorgt beispielsweise dafür, dass deutsche Populist*innen inhaltliche Kritik als „Zensur“ framen (und damit an vielen Stellen durchkommen), oder dass US-Tiktoker*innen eine Propagandaschrift des Terroristen Osama bin Laden als vermeintlich kolonialismuskritischen Schlüsseltext feiern.  

Die Dynamik der Plattformen verleitet uns dazu, selbst hochkomplexe Themen auf eine einzige Schlagzeile einzudampfen und so zu tun, als wäre alles eigentlich ganz einfach. Als gäbe es immer nur zwei mögliche Teams und nur zwei mögliche Sichtweisen: Gut gegen böse. Aber wir kommen nicht weiter, indem wir immer nur die Fehler „der anderen“ aufrechnen und der „anderen Seite“ ihre Menschlichkeit absprechen. 

Wir benötigen mehr Begegnung und mehr Koalitionen

Am 10. Dezember 2023 wurde die Erklärung der allgemeinen Menschenrechte, die von der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen unter der Leitung von Eleanor Roosevelt erarbeitet wurde, 75 Jahre alt. Ihre Umsetzung erscheint heute sehr fern – jedenfalls online. Wie könnte ein Aktivismus aussehen, der echte Begegnung statt reflexhafter Abwertung und Abspaltung ermöglicht? Die Philosophin und Rechtswissenschaftlerin Martha Nussbaum beispielsweise plädiert für das Konzept des Universalismus: Alle menschlichen Wesen haben den gleichen Wert, die gleichen Rechte und die gleichen Pflichten. Nussbaums Vision ist nicht nur eine Beseitigung von Ungerechtigkeiten, sondern auch ein respekt- und vertrauensvolles Miteinander.  

Nach vielen Jahren Aktivismus glaube ich, dass es heute wichtiger denn je ist, wieder mehr zueinanderzufinden. Der Online-Kontakt zu Menschen, die wir nicht kennen und die anderer Meinung sind als wir, führt oft zu messbar mehr Polarisierung. Offline haben wir manchmal bessere Chancen, gesehen und gehört zu werden. Weil wir in einer Begegnung von Angesicht zu Angesicht von unserem Gegenüber nicht nur als Vertreter*in einer Gruppe wahrgenommen werden können, sondern als individuelle und komplexe Person, mit der Mensch vielleicht nicht alle, aber mehr Werte teilt, als auf Anhieb vermutet. Vielleicht ist es Zeit, da, wo es uns möglich ist, nicht nur auf Aufklärungsarbeit im Netz, sondern auch auf Offline-Begegnungen zu setzen. Ob im Nachbarschaftshaus oder auf dem Spielplatz, ob bei Diskussionen mit Stadträt*innen oder Schulverwaltungen, Lesungen oder bei (selbstorganisierter) Beratung: Vielleicht wird hier das entstehen, was wir uns eigentlich alle wünschen – Community.

Dieser Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit Dana Buchzik (Journalistin & Kommunikationsberaterin)


2 Antworten zu “Ich bin müde. Ein Appell gegen Grabenkämpfe und für echte Begegnung”

  1. Lieber Raul,

    die Vision von Martha Nussbaum, die „Beseitigung von Ungerechtigkeiten“ und „ein respekt- und vertrauensvolles Miteinander“ gefällt mir sehr. Der Streit gegen Unrecht sollte respekt- und vertrauensvoll geführt werden können, was ja in der Regel leider nicht der Fall ist ( z.B. Mieter ./. Vermieter, wie ich es gerade erlebe).

    Deine Müdigkeit hinsichtlich der sozialen Medien kann ich nachvollziehen. Auch ich verliere die Lust und werde „stiller“, hatte heute sogar mit dem Gedanken gespielt, meinen Blog loszulassen.

    Ich wünsche uns allen ein friedliches 2024 und dabei viel Freude, Gelassenheit und Erkenntnisse!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Einmal die Woche gibt es von mir handgepflückte Links aus aller Welt zu den Themen Inklusion und Innovation in meinem Newsletter. Kein Spam. Versprochen.

Die vergangenen Ausgaben gibt es hier.




If you’re interested in our english newsletter
„Disability News Digest“, please subscribe here!