Tweet entlarvt: Berlins Bildungssenatorin hat Inklusion und die Sache mit dem „Elternwillen“ nicht verstanden

Ein Schüler im Rollstuhl an der inklusiven Sophie-Scholl Schule in Berlin.
(c) Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de

Berlin schafft mehr Förderschulplätze – und begründet dies mit Elternwünschen. Preist Senatorin Sandra Scheeres etwa die Wahl zwischen Pest und Cholera?

Manchmal knackt Twitter in den wenigen Worten eine wichtige Erkenntnis. Da ist zum Beispiel ein Tweet des Berliner Bildungssenats, der auf einen Beitrag von mir antwortete:

Worum geht es? Der Bildungssenat unter Sandra Scheeres hat bekanntgegeben, dass er in 800 neue Schulplätze investiert, allesamt für Kinder mit Lernschwierigkeiten und allesamt auf Förderschulen, die dafür ausgebaut werden. Dieses klare Signal einer Anti-Inklusion hatte ich in einem Beitrag kommentiert.

Nun also zieht sich Scheeres auf die Position zurück: Man sei ja FÜR Inklusion. Dann folgt das berühmte ABER. Und der Elternwille wird vorgeschoben. Das finde ich doppelt unangenehm.

Zum einen ist für Inklusion nicht allein zu werben wie für ein Waschmittel, das sanft auf den Markt gebracht werden muss. Wer Inklusion gut findet, soll dafür eintreten. Wer von der Sinnhaftigkeit von Inklusion überzeugt ist, macht sich an die Umsetzung. Doch der Berliner Schlendrian zeigt an dieser Stelle gewohnterweise in verschiedene Richtungen: Ja, es gibt mehr Schulplätze für Kinder mit Behinderung an Regelschulen. Und nein, diese sind nicht entsprechend gefördert. Und nein nein, Förderschulen sind keine besseren Lernorte – daher ist deren Ausbau fragwürdig.

Die Sache mit dem Elternwillen

Klar, ich stelle mir die besorgten Elternbriefe an den Senat vor: Wie Mutter und/oder Vater in der Nachbarschaft keine richtig gut passende Schule finden, eine gute Förderung für ihr Kind wünschen – und dann die auskömmlich ausgestatteten Förderschulen sehen, sich dafür fürchten, dass ihr Kind in einer Regelschule untergebuttert wird. Da fällt es leicht zu schreiben: „Das kann man nicht einfach ignorieren.“

Nur verschweigt Scheeres das Verursacherprinzip, wenn sie einen Elternwillen anführt. Warum gibt es keine barrierefreie Regelschule in der Nachbarschaft? Eine mit guten Förderbedingungen und einer professionellen Begleitung für Kinder mit Behinderung, wo gemeinsam gelernt wird? Weil Scheeres ihre Schulen nicht entsprechend ausstattet. Es fehlt schlicht der politische Wille. So wird das mit der „Werbung“ für Inklusion nichts.

Einem Elternwillen ist schwer zu widersprechen, sicherlich möchten Eltern das Beste für ihr Kind – und Bevormundung sieht nicht schön aus. Aber bevormundet werden Eltern sowieso, und zwar durch die suboptimalen Bedingungen: durch fehlende Schulplätze, durch schlecht ausgestattete Regelschulen und durch Förderschulen, die zwar state of the art sind, aber in der Regel weiter weg liegen und eben ein Lernklima schaffen, in dem die Schülerinnen und Schüler viel weniger lernen als in einer Regelschule und sie damit den vorgeebneten Weg der Aussonderung beschreiten, der sich in den isolierten Werkstätten dann fortsetzt, Hungerlohn inklusive.

Eltern werden durch auf behinderte Kinder schlecht eingestellte Schulen abgeschreckt.

Auch wird bei dieser Sichtweise, wie sie Scheeres (oder ihre Socialmedia-Redaktion) im Tweet offenbart, die Perspektive der Betroffenen NICHT eingenommen – ein Klassiker. Denn das Recht auf inklusive Bildung ist ein Recht der Kinder, es ist kein Recht der Eltern. Unmissverständlich hat dies die UN-Behindertenrechtskonvention definiert: Die Bildungsstruktur muss jedem Kind gerecht werden, und diese ist inklusiv.

Würden wir endlich Schulen inklusiv denken und gestalten, bräuchte es kein Elternwahlrecht.

Da aber die Umstände hinreichend schlecht sind, gibt es das Wahlrecht für die Eltern zwischen zwei Schulsystemen: Das eine zieht die Sonderwelt auf und wird gefördert. Das andere öffnet die Türen für alle und wird in Wirklichkeit wie Aschenputtel behandelt.

Der Elternwille, hinter dem sich der Berliner Senat versteckt, ist das Resultat einer verfehlten Politik. Dass dann diesem Elternwillen vom Staat dann auch noch die Aufgabe erteilt wird, den Systemwechsel hin zur Inklusion hinzukriegen, für den der Senat ja hübsch „wirbt“, hat einen mehr als bitteren Nachgeschmack. In Berlin gibt es dafür ein Sprichwort: Da macht sich jemand einen schlanken Fuß.



7 Antworten zu “Tweet entlarvt: Berlins Bildungssenatorin hat Inklusion und die Sache mit dem „Elternwillen“ nicht verstanden”

  1. Ja, Raul, du hast absolut Recht. Anfang dieses Schuljahres haben wir an der inklusiven Grundschule, in der meine Kinder lernen, Eltern über die inklusive Beschulung bei uns informiert, die für das kommende Schuljahr eine Schule suchen. Viele Eltern von Kindern mit Geistiger Behinderung oder einem anderen Förderschwerpunkt, kamen nicht aus dem Einzugsgebiet, interessierten sich aber für unsere Schule, weil ihnen an der Einzugsschule knallhart mitgeteilt wurde, dass man sich dort nicht angemessen um das Kind kümmern könne. Einige Eltern haben daher an ihrer Einzugsschule auch gar nicht erst einen Gesprächstermin mit der Schulleitung bekommen. Die Eltern stehen jetzt vor der Wahl: Einklagen in eine andere Schule oder Förderschule. Da es einen Anspruch auf eine Förderschulplatz gibt, ist dies der einfachste Weg. Und so kommt es dann zum sogenannten Elternwillen oder Elternwunsch, der eben oft nur aus Alternativlosigkeit entsteht. Viele Eltern sind wirklich verzweifelt. Wer schickt schon gern sein Kind auf eine Regelschule, die aus den diversesten Gründen nicht auf die Betreuung von Kindern mit Behinderung, Autismus …. vorbereitet ist? Solange das Parallelsystem weiter ausgebaut wird, kann man vergessen, dass es mit der Inklusion voran geht. Denn ein Parallelsystem nimmt den Druck, etwas ändern zu müssen.

  2. Schulentscheidung für meine Tochter mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung.
    Beim Anmeldetermin an der Einzugsschule sagte die Schulsekretärin stolz:
    „Ja wir sind auch eine intrigative Schule“ ??
    Dann hab ich schnell doch für Cholera entschieden ?

  3. Gregor Demblin (Mitbegründer v. myAbility) beschreibt das in der Radiosendung „punkteins“ (Ö1 vom 4.Sept. 2019), in der es um Arbeitsmöglichkeiten für Menschen mit einer Behinderung ging, so:
    „Die Sonderschule ist normalerweise eine Einbahnstraße in die Arbeitslosigkeit!“
    In Österreich zeigen das die statistischen Zahlen recht deutlich. Ich vermute, das gleiche gilt für Deutschland.

  4. Vielen Dank Raul Krauthausen für den Beitrag, den „Elternwillen“ in der Schule habe ich nur als Kind kennen gelernt, als ich noch „Kinderwillen“ hatte und meine Eltern „Elternwillen“. Ich wollte als Kind schon dauernd alles wissen, ich fand das richtig, meine Eltern, die Unterhaltung lief meistens über meine Mutter, fand das anstrengend, bis heute finden wir uns gegenseitig anstrengend, trotz allen gemeinsamen Willens, es wochenlang zusammen auszuhalten, wir treffen uns mehrmals im Jahr über mehrere Wochen. Seit Jahrzehnten, seit ich in die Schule kam, es war im Dorf einfach, es gab nur eine Grundschule, gibt es eine Debatte in meinem Elternhaus: Ich wollte immer intellektuell sein, streitbar, wortgewaltig, allem auf den Grund gehen, „ja, aber“ sagen, schwierige Herausforderungen suchen, lieber mal scheitern als gelangweilt zu sein, ich wollte niemals Handwerkerin werden. Als es um die Frage „Abiturmachen“ ging, ich war erst auf der Realschule, hatte die berühmte „Quali“ nicht fürs Gymnasium in NRW, machte ein Jahr Höhere Handelsschule und wollte dann in den gymnasialen Zweig wechseln, hatten wir Zuhause mal wieder „Elternwillen“ und „Kinderwillen“ am Tisch. Ich hielt ein bewegtes Plädoyer für meinen Aufstiegswunsch, aber in den Augen meiner Eltern gab es nur ein Fazit: „Schuster, bleib´ bei Deinem Leisten“. Zum Glück kam noch rechtzeitig ein Elternsprechtag, wie verwandelt waren sie, als sie davon wieder kamen, sie waren jetzt Eltern einer klugen Tochter, die niemals gegen mein Abitur gewesen wären. Nachträglich besten Dank an meinen damaligen Klassenlehrer, der meinen Willen verstanden hatte.
    Lehrkräfte sind bessere Bildungsexperten als Eltern.

  5. Auch wenn hier in Berlin der Elternwille hoch gehalten wird, umgesetzt wird er aufgrund der immer prekärer werdenden schulischen Rahmenbedinungen im personellen und baulichen Bereich nur sehr bedingt. Wir sind doch mit den angeblich 800 zusätzlichen Plätzen meilenweit von der Umsetzung von Eltern- und Kindeswillen in fast allen Bereichen entfernt. Selbst der Wille sein Kind auf eine Förderschule zu schicken ist aufgrund mangelnder Kapazitäten vielerorts nicht möglich. Welche Schule, nicht nur Förderschule, ist nicht überbelegt ? Sobald es irgendwo ganz schlimm wird, wie mit den immer wieder nicht versorgten Schüler/innen wie zuletzt in Reinickendorf. Da müssen dann schnell Lösungen gefunden werden. Doch wie sehen die aus ? Dann wird irgendwo die letzte Ecke gesucht die gefüllt wird. Sieht so eine Entscheidungsfreiheit aus? Mal ganz abgesehen von der Belastungssituation der Beschäftigten der Schule.
    Es gibt wohl keine Schule in ganz Berlin die noch freie Kapazitäten und somit einen wirklichen Entscheidungs- und Planungsfreiraum hat. Wie soll sich unter der permanenten Mangelsituation in personeller und baulicher Hinsicht Schule wirklich entwickeln können ?

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