Warum wir Amateure im Einschätzen sind: Das Behinderungs-Paradoxon

Raul Krauthausen am Kanal mit Smartphone in der Hand

Menschen tragen ein psychologisches Immunsystem in sich und können auch mit einschlägigen Ereignissen gut umgehen. Wir unterschätzen diese Fähigkeit, sowohl in uns selbst als auch in anderen. Besonders in das Leben behinderter Menschen wird viel Leid interpretiert. Eine Fehlannahme!

Ich werde die Vermutung nicht los, dass mancher Blick zwischen Bedauern und Bemitleiden, der mich auf der Straße trifft, etwas mit dem Rollstuhl und meiner Körpergröße zu tun hat. Finden Passant*innen diese Dinge etwa traurig? Mir geht es doch gar nicht schlecht und griesgrämig fahre ich auch nicht umher. Ja, gelegentlich habe ich auch mal einen schlechten Tag. Aber grundsätzlich sehe ich mich weniger als Miesepeter, mehr als Hans Dampf.

Es ist schon beeindruckend, welch ein Zwiespalt sich in den Wahrnehmungen auftut: Auf der einen Seite die Realität eines Lebens mit Behinderung und andererseits der Blick von außen darauf. Der geht nämlich strukturell davon aus, dass mein Leben viel weniger lebenswert wäre, als ich es selbst empfinde. Die Sozialpsychologin Kathleen D. Bogart schreibt in einem aktuellen Beitrag in „Psychology Today“ über das „Behinderungs-Paradoxon“ und hat damit meine Neugierde geweckt. Das „Behinderungs-Paradoxon“ ist ein Phänomen, das von Sol Levine entdeckt und um die Jahrtausendwende u. a. durch Gary L. Albrecht und Patrick J. Devlieger näher erforscht wurde. Es beschreibt das Phänomen, dass viele Menschen mit schweren und dauerhaften Behinderungen trotz ihrer Einschränkungen von einer hohen Lebensqualität berichten. Dies ist oft überraschend für Außenstehende, die die täglichen Herausforderungen und Einschränkungen, die mit einer Behinderung einhergehen, als unerwünscht betrachten würden.

Das Kind hat also bereits einen Namen. Das macht es zwar nicht besser, aber immerhin wissen wir, womit wir es zu tun haben. Wissen, dass diese Blicke auf der Straße keine Einbildung sind, dass mein Leben von Außen tatsächlich bewertet, gar abgewertet wird. Wissen, dass es keine neue Bezeichnung ist, sondern schon seit über zwanzig Jahren verwendet wird. 

Und natürlich frustriert mich das. Immerhin rede ich mir, ebenfalls seit 20 Jahren, den Mund fusselig, spreche über Inklusion und darüber, dass behinderte Menschen in der Regel mehr unter den gesellschaftlichen Barrieren leiden als unter ihrer Behinderung. Dass wir weniger behindert sind, dass wir vielmehr behindert werden – und so weiter und so fort. 

Aber wie Bogart erklärt: Wir haben es nicht nur mit Ignoranz zu tun, sondern mit einem menschlichen psychologischen Phänomen, welches dem „Behinderungs-Paradoxon“ zugrunde liegt.

Wir treffen im Leben ständig affektive Voraussagen – also Voraussagen darüber, wie wir uns in bestimmten Situationen fühlen werden oder würden. Und darin ist der Mensch grundsätzlich miserabel. Wir schätzen prinzipiell Intensität und Auswirkung emotionaler Situationen falsch ein. Wir stellen uns vor, dass plötzlicher Reichtum unsere Gefühlswelt für immer ins Positive ziehen würde. Oder glauben, dass der Verlust eines geliebten Menschen uns für immer zerstören wird. 

In Wirklichkeit ist der Mensch jedoch außerordentlich anpassungsfähig. Das ist deprimierend oder erleichternd, je nach Blickwinkel. Ein Lottogewinn wird zunächst wahrscheinlich unermessliche Euphorie auslösen, womöglich finanzielle Probleme beheben – doch auch daran wird man sich gewöhnen und nach einer Weile ist man doch wieder derselbe Mensch, wenn auch finanziell besser gestellt.

Und auch der Verlust eines geliebten Freundes, wenn dieser auch große Trauer bedeutet, wird uns im Normalfall nicht in eine permanente Verzweiflung stürzen. Erkrankungen wie Depressionen sind davon natürlich ausgenommen.

Hedonistische Tretmühle

Man nennt dies die „Hedonistische Tretmühle“. Nach einem positiven oder negativen Ereignis kehrt man in den meisten Fällen doch recht schnell zu einem stabilen emotionalen Zustand zurück. Die Auswirkungen sind in der Regel weniger intensiv und lang andauernd, als erwartet. 

Da wir schon negative Voraussagen über unser eigenes emotionales Erleben treffen, ist es nicht verwunderlich, dass wir umso ungenauer darin sind, das emotionale Erleben eines anderen Menschen vorauszusagen oder einzuschätzen. Und das ist fatal, wenn es um die Beurteilung eines Lebens mit Behinderung durch nicht-behinderte Menschen geht. Viele Menschen ohne Behinderung sind davon überzeugt, dass eine Behinderung eine existenzielle Katastrophe bedeutet.

Behinderungs-Simulationen

Ich möchte hier ein für alle Mal festhalten, dass eine Behinderung nicht zwangsläufig, ja in den seltensten Fällen, katastrophal ist. Aber wie sollen nicht-behinderte Menschen uns das glauben? Ihre eigenen psychologischen Mechanismen suggerieren etwas anderes. Und Behinderungs-Simulationen, denen sich der*die ein oder andere Gutmeinende dann doch mal unterzieht, gehen oft nach hinten los. Wieso? Zwar kann ein Perspektivwechsel, bei dem man mal ein paar Stunden im Rollstuhl sitzt, oder mit verbundenen Augen umherläuft, ganz wirkungsvoll sein, um sich Barrieren gewahr zu werden und mehr Verständnis für die Situation behinderter Menschen in unserer Gesellschaft zu gewinnen. 

Das grundsätzliche Problem aber hat die Forscherin Machal Silverman in einer Studie pointiert darin beschrieben, dass in all diesen Simulationen die Leute mehr damit beschäftigt sind, behindert zu werden als behindert zu sein. Das heißt, sie sind völlig eingenommen von den Schwierigkeiten, die mit der neuen Erfahrung einhergehen. Dementsprechend ist das emotionale Erleben der meisten Menschen oft Verunsicherung, Frust, Hilflosigkeit. Und das ist normal. Die meisten Herausforderungen, denen wir uns zum ersten Mal stellen, haben diese emotionalen Begleiterscheinungen. Das erste Mal Auto fahren, das erste Mal vor Publikum eine Rede halten, das erste Mal Eltern werden. Horror! Angst! Überforderung! Aber bleibt es dabei? Ist jede Autofahrt so aufregend wie die erste Fahrstunde? Ist auch der hundertste Vortrag so angsteinflößend wie die erste Rede? Hat man auch beim dritten Kind noch dieselben Verunsicherungen, wie beim ersten? Und dementsprechend: Ist das Leben sehbehinderter Menschen für sie eine stete Verunsicherung? Nein! Denn Wiederholung schafft Nähe, bildet Fähigkeiten aus, schafft Sicherheit, Vertrautheit, einen gekonnten Umgang. Und eines Tages ist das Autofahren einfach ein Teil deines Lebens, ein Teil deines Alltags, genau wie das Elternsein. Und eben genau, wie das Leben mit einer Behinderung.

Lernkurven und Adaptionsmechanismen machen diese Simulationen leider nicht erfahrbar. Und so haben solche Selbstversuchserfahrungen mit einem Leben mit Behinderung bedauerlicherweise wenig gemein. Es ist auch sensationeller, mit verbundenen Augen mal gegen einen Schrank zu laufen, als einen Besuch vom Amt zu simulieren, in dem die eigene Behinderung mal wieder Infrage gestellt oder einen Brief zu öffnen, in dem steht, dass die Kostenübernahme des dringend benötigten Hilfsmittels abgelehnt wird. Die Simulationen verheddern sich nicht selten in Sensationsklatsch.

Ähnliches hat auch meine Kollegin Judyta Smykowski festgestellt. Sie hat sich im Fernsehen mehrfach Sendungen angeschaut, in denen Behinderungen simuliert werden. Dabei hat sie beobachtet, dass sich diese Berichte oft in Gefühlsduselei verfahren, Behinderungserfahrungen emotional aufblasen und skandalisieren. Und das ist keine vollständige, keine wahrheitsgemäße Repräsentation.

Das Selbsthilfeparadox

Eine solche scheint auch gar nicht möglich zu sein, schreibt Franz-Josef Hanke in seinem Text „Das Selbsthilfeparadox: Auf das Müssen müssen wir wohl besser verzichten“. Ihm zufolge könnten selbst behinderte Menschen ihre eigenen Erfahrungen nicht verallgemeinern, da jede Behinderung an individuelle Herausforderungen und Bedürfnisse geknüpft sei. Das Phänomen, dass diese Verallgemeinerungen insbesondere in der Selbsthilfe oft geschehen, nennt er „Selbsthilfeparadox“

Es ist also gar nicht möglich, sich vollumfänglich in die Situation eines behinderten Menschen hineinzuversetzen, auch nicht durch andere Menschen mit Behinderung. Daher sollte man ganz gezielt darauf achten, die Selbsterfahrungen von behinderten Menschen für sich stehenzulassen und nicht die eigene Perspektive aufzudrängen.

Verzerrte Wahrnehmung

Doch gerade im TV-Bereich werden Einzelfälle sensationalisiert und verzerrt. In einem Fall wollten RTL-Reporter*innen an den Erfahrungen von einer behinderten Rollstuhlfahrerin teilhaben und stellten diese als mit ihrem Schicksal hadernd vor. Dabei präsentierte sie sich als zufrieden und glücklich. Auch hier wurde die Perspektive nicht-behinderter Berichterstatter*innen aufgedrängt, für die eine Behinderung schwerwiegendes Leid bedeutet. 

Das suggerierte Fazit: Wer so glücklich ist, trotz dieser schlimmen Fährnisse, muss besonders stark sein. Inspirierend!

Doch das ist Quatsch. Das belegen auch die oben beschriebenen psychologischen Erkenntnisse. Menschen haben die Fähigkeit, sich neuen Gegebenheiten anzupassen und auch nach einschlägigen Erlebnissen auf einen stabilen Gefühlszustand zurückzukehren. Dieser ist eben entsprechend der eigenen Persönlichkeit, mal positiver oder negativer ausgerichtet. Daran ändern auch eine erworbene Behinderung oder ein Lottogewinn nichts. Also kein Grund zur Bewunderung und kein Grund, uns zu eurer Inspiration auszunutzen

Schieben wir also diesen Mumpitz beiseite und schauen darauf, was hilft: 

Von behinderten Menschen kann man als Mensch ohne Behinderung lernen, etwa Anpassungsfähigkeiten, Einfallsreichtum und Kreativität. Improvisationstalente entwickeln sich ebenfalls, wenn man von A nach B will. Und nebenbei bauen diese Einsichten ableistische Vorurteile ab. Es ist eine Chance, das psychologische Immunsystem eines jeden Menschen nicht zu unterschätzen.



Eine Antwort zu “Warum wir Amateure im Einschätzen sind: Das Behinderungs-Paradoxon”

  1. Grundsätzlich Stimme ich der Darstellung des „Behinderungs-Paradoxons“ zu. Allerdings hat jede Medaille zwei Seiten und in diesem Zusammenhang sollte man auch zwischen „sichtbaren“ und „unsichtbaren“ Behinderungen wie Autismus unterscheiden. Die Einschränkungen und der Leidensdruck durch letztere wird dem gegeüber nicht selten unterschätzt. Sie sind auch nicht ansatzweise simulierbar.

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