Was uns alle wirklich weiterbringt

Diversität und Inklusion sind toll – aber sie rufen eine Menge Fragezeichen hervor. Wir sollten ihnen wichtige Ausrufezeichen entgegensetzen! Dann kommen wir auch zu einem viel stärkeren Begriff: Belonging.

Sich richtig wohl fühlen, zum Beispiel bei einer Bahnreise – das stelle ich mir so vor: ausreichend Sitzplatzwahl, ein freundliches Lächeln hier und da, ein*e Schaffner*in, die*der nicht grummelt;  das Ein- und Aussteigen eine Selbstverständlichkeit. Und mein Traum geht noch weiter, in dem ich mir vorstelle, dass ich spontan unterwegs bin, einfach drauflos. Leider sieht der echte Alltag anders aus.

Menschen mit Rollstuhl sind nicht „dann mal kurz weg“. Wir müssen einen gewissen logistischen Aufwand darauf verwenden, um von A nach B zu kommen. Da ist ein Lächeln, eine Annehmlichkeit oder ein Service zweitrangig. Erstmal müssen wir konkrete Barrieren wegkriegen – das ist unser Tagesgeschäft. In diesem Text möchte ich trotzdem über dieses „Zweitrangige“ schreiben, weil es in Wirklichkeit ziemlich wichtig ist. Denn Barrieren wie die fehlende Erreichbarkeit eines Zuges oder eines Gebäudes sind explizit und messbar – sie diskriminieren ausdrücklich und für alle sichtbar, die hinschauen oder dafür verantwortlich sind. Es gibt aber auch implizite Barrieren, die weniger sichtbar sind. Sie wabern herum, manchmal fühlen wir sie geradezu nur und können sie gar nicht recht beschreiben. Es ist schwierig, sie zu messen. Aber leichter zu beschreiben: 

Für meine Bahnreise also wünsche ich mir keinen roten Teppich auf dem Bahnsteig und kein Blasorchester zum Empfang, wie ein Staatsgast. Ein leckerer Kaffee vor Ort, ausreichend Platz, eine angenehme Luft- und Waggontemperatur indes können nicht schaden. Diese soften Faktoren machen eine Reise angenehm – und sind sie nicht gegeben, fühlt sich JEDE*r Passagier*in negativ angesprochen. Ich als Rollstuhlfahrer fühle dazu noch Unangenehmes, wenn der Mobilitätsservice bei der Bahn stöhnend und seufzend aufsteht, weil ich angerollt komme. Hebebühnen am Bahnhof finde ich nice, aber selbständig und spontan Bahnfahren wäre besser. Es geht mir ums Wohlbefinden durch Zugehörigkeit und Autonomie.

Es geht eben nicht um die berühmte Extrawurst, die Menschen mit Behinderung angeblich gern bestellen. Nein. Es geht um meine Erwartung, dass Grundrechte eine Selbstverständlichkeit darstellen. Aber das werden sie nur, wenn sie gelebt werden – ohne als besondere Leistung, als ein Extra verbucht zu werden.

Ein Beispiel: Wer eine Hose kaufen geht, freut sich über eine kompetente Beratung durch Verkäufer*innen, hat nichts einzuwenden gegen Zeit und Platz zum Anprobieren in einer Umkleidekabine – eben nichts gegen eine angenehme Atmosphäre. Diesen Moment des Wohlbefindens könnten wir doch übertragen auf unser aller Alltag, oder? Denn dann fühlen wir uns alle zugehörig. Wir sind dann nicht integriert und inkludiert, wir sind da. Belonging ist mehr – darin steckt eine Art mitmenschlicher Genossenschaft, ein gegenseitiges Teilen. 

„Belongingness“ meint also das typische emotionale Bedürfnis eines jeden Menschen, akzeptiertes Mitglied einer Gruppe zu sein, sei es bei einer Familie, bei Freund*innen oder etwa einer Religion. Der Mensch möchte dazugehören und Teil von Etwas sein. Den passenden Artikel dazu auf Wikipedia gibt es übrigens auf Englisch, Estnisch, Hebräisch, Koreanisch, Japanisch und Chinesisch – interessant, dass es keine Entsprechung auf Deutsch gibt, nicht wahr? 

Zu Belonging gehört aber auch: Unfreundlich behandelt zu werden, allerdings nicht wegen der Behinderung, sondern weil der*die Zugbegleiter*in einfach einen schlechten Tag hat und allen kein Lächeln schenkt. Oder weil beim Hosenkauf eben alle Umkleidekabinen voll sind und der*die Verkäufer*in für niemanden Zeit hat, um ausführlich oder gar freundlich zu beraten. Als vollwertig akzeptiertes Mitglied der Gesellschaft oder einer Gruppe möchte ich all jene Emotionen abbekommen, die jede*r abbekommt.  Ich möchte als Mensch mit Behinderung genauso mich mit den  den Launen meiner Mitmenschen auseinandersetzen und entscheiden, wie stark sie mich betreffen und betroffen machen – wie es alle anderen auch machen. Wir alle sollten autonom entscheiden können, welchen Situationen man sich wie aussetzt oder eben nicht. Bis dahin ist es noch eine gewisse Wegstrecke. 

Margherita Sgorbissa hat in einem Blogbeitrag ihren Eindruck aufgeschrieben, dass viele Leute, die sich für Diversität und Inklusion zum Beispiel in Unternehmen engagieren, oft vorgestanzte Lösungen für vorgestanzte Probleme bereithalten. Sie sollen ein Bewusstsein schaffen – aber es bleibt meist an der Oberfläche. Die wirklich relevanten Strukturen in den Firmen bleiben eher unangetastet: Wer entscheidet über Einstellung und Beförderung, wer dominiert generell? Wie sind Privilegien verteilt, die nicht in Frage gestellt werden? Dabei macht es Sinn, Diversität und Inklusion in einem Unternehmen zu leben, weil es einfach die Gerechtigkeit als Wert an sich gebietet; allzu oft wird indes argumentiert, Diversität und Inklusion seien gut für die Produktivität, wogegen nichts einzuwenden ist, aber eben auf halber Strecke stehen bleibt: Denken wir weiter, gelangen wir über die Begriffe „Diversität“ und „Inklusion“ zum wirklichen „Belonging“, zur Zugehörigkeit.

Hierfür müssen wir ein paar Fragezeichen setzen. Wir sollten Machtfragen stellen. Und all diese Erfahrungen, die gerade für die Firmenwelt skizziert worden sind, lassen sich auf die Gesellschaft und auf unser aller Leben übertragen. „How Much Privilege is there in Purpose?“, fragt ein anderer Blogbeitrag des Teams von tbd* und merkt an, dass viele unserer Entscheidungen auf unseren Wahrnehmungen, Befangenheiten und Vorurteilen beruhen. Es gilt für jede*n von uns: Wir sind ein Stück weit selbstgefällig und haben unsere blinden Flecke – unabhängig davon, wie viel guten Willens wir in uns tragen. Mehr als fünf Millionen Menschen haben am „Implicit Association Test“ (IAT) der Harvard-Universität teilgenommen. Das Ergebnis: 80 Prozent der Teilnehmer bevorzugen Jüngere gegenüber Älteren. 75 Prozent bevorzugen weiße Menschen gegenüber Minderheiten. Und 45 Prozent der befragten schwarzen Menschen bevorzugen weiße gegenüber anderen People of Colour. 

Wir können dem einige Ausrufezeichen, vielleicht sogar ein ganz einfaches Rezept entgegensetzen! Es macht Sinn, sich auf die Suche nach den unsichtbaren Privilegien zu machen, die uns umgeben. Ich persönlich habe von ihnen auch eine Menge. „Belonging“ dagegen ist ein Ausdruck sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit. Mir geht es nicht um die Ausrufung eines Schlaraffenlandes, und es hört sich schon ein wenig pathetisch an, wenn wir alle uns gegenseitig willkommen heißen – aber wenn wir uns 

  1. der vielen Voreingenommenheiten bewusst werden,
  2. sie möglichst vollständig abbauen,
  3. dafür eine Selbstverständlichkeit für die Freiheitsrechte Anderer entwickeln,
  4. werden wir alle gelassener. Stichwort: implizites Wohlbefinden.

Und, kriege ich dann irgendwann einen roten Teppich am Bahnhof von Bückeburg samt „Ein Bückeburger Jäger“-Marsch? Spaß. Ne extra Currywurst täte es auch.



3 Antworten zu “Was uns alle wirklich weiterbringt”

  1. Hallo Raúl. Es steckt alles drin, worum es geht. Das Wohlbefinden, wonach alle suchen, findet man nicht nur bei Maslow, oder der WHO mit ihrer ICF und ja, sogar im neuen Teilhabebedarf-Instrument. Die Liste ist lang, in der beschrieben wird worum es geht und Lösungs- oder Veränderungsideen gibt es reichlich. Es bedarf nur steht’s der individuellen Bewusstheit darüber! Geht diese mal verloren ist gelegentliche An/Aussprache (s.o.) nötig- um uns wieder zu vergegenwärtigen, worum es geht, was uns fehlt und was Veränderung bedarf. Ich lächle gerade….

  2. Guten Morgen Raul Krauthausen, besten Dank für heutige Handgepflückte Links und auch den Hinweis auf diesen Beitrag.
    Ich möchte Thomas zustimmen, vor allem, was das Thema „Indivuduum“ angeht, denn ich befürchte, genau das Individuum, der einzelne Mensch ist im Zuge des vergangenen Jahres, in der Coronapandemie wird es überdeutlich, am Anfang noch nicht so sehr, da kam es auf „jeden Einzelnen“ an, das ist vorbei, es hat sich aus dem Alltag verabschiedet, übrig geblieben sind „Pakete“, „Gruppen“ – „Grundschüler“ „Omas“ „Pflegepersonal“ „Gastronomen“ „Friseure“ etc.
    Das ist aber das Schlimmste, was passieren kann, das Individuum, den einzelnen Menschen zu vergessen, bzw. ihn so weit hinten an zu stellen, dass er vor Inzidenzwert „X“ garantiert nicht ins Spiel kommt.
    Das Grundgesetz aber ist für jeden Menschen, es ist genau dafür, für jeden einzelnen Menschen, es ist nicht für „Pakete“, nicht für „Grundschüler“, nicht für „Omas“ nicht für…
    Der einzelne Mensch aber verschwindet in den Zahlen, sein Beitrag zu Teilhabe ist „infinitesimal gering“, also geht gegen Null – das ist normal, denn das ist auch Demokratie, man muss aushalten, dass der eigene Beitrag nicht größer sein kann. Das ist das Eine, mein Beitrag ist aber eben nicht größer und nicht kleiner als irgendeines anderen Menschen Beitrag, wenn es um Wahlen geht, denn meine Stimme zählt so viel und so wenig wie jedes anderen Wählers Stimme.
    Die Stimme wird „gewichtiger“ je geringer die Wahlbeteiligung ist, je weniger Parteien es gibt, sie wird „leichtgewichtiger“, je mehr Parteien es gibt, je höher die Wahlbeteiligung ist. Demokratie muss man auch aushalten wollen, wer glaubt, seine Partei sei die einzig Richtige, hält es nicht aus, will mehr Gewicht für sich alleine. Tendenziell möchte jede Partei mehr Gewicht für sich alleine, aber der Wettkampf muss fair bleiben.
    Helena Zengel, danach gefragt, wie sie die Rolle für „Neues aus der Welt“ bekommen habe, erklärt, dass sei schon klar gewesen, als sie nach London eingeladen gewesen wäre, denn Paul Greengrass habe der Film „Systemsprenger“ gefallen.
    Von Tom Hanks habe sie gelernt, „auf dem Boden“ zu bleiben. Da bleibe auch ich, mit meiner „infinitesimal geringen“ Stimme in der Welt, aber bitte mit Gleichberechtigung für jeden Einzelnen gleich, gerne mit Sahne.

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