Inklusion ist kein Ziel in Zahlen

»Wie weit sind wir bei der Inklusion?«, werde ich oft gefragt. Dahinter verbirgt sich der Wunsch, sie rasch mit einer Checkliste abgehakt zu haben. So wird das aber nichts.

Zahlen sind verführerisch. Angeblich lügen sie nicht. Sie sind genau und drücken alles aus – vergleichbar mit einem Gencode, der alles und jede*n definiert. Sie gaukeln aber auch Antworten vor, die sie nicht haben. Oft will man von mir wissen: Wie weit sind wir bei der Inklusion? Und hofft dann auf eine Zahl, vielleicht zwischen Eins und Zehn, oder auf einen Daumen nach oben. Die Frage ist gut gemeint, ich höre sie indes kaum von Menschen mit Behinderung. Warum? Womöglich ahnen sie, dass Inklusion an sich ein ziemlich logisches Konzept ist, das schlichtweg die Umsetzung geltenden Rechts verfolgt , aber eben doch kein bloßes Ziel, das mal so nebenbei erreicht wird.

Würde man eine Frau nach einer Zahlenantwort fragen, wie weit wir bei der Gleichberechtigung der Geschlechter sind? Oder einen Deutschen dunkler Hautfarbe, wie viel Prozent Rassismus noch vorhanden ist? Aus alldem blickt eine weltferne Distanziertheit. Wir Befragten aber sind keine alten Weisen vom Berg, wir haben keinen Supercomputer im Taschenformat, den wir rausholen und ablesen: „Menschen mit Behinderung: 23,634845%. Frauen: 64,3459835%. Rassismus: 87,3245674%. Wert 1 auf 1000 in 2342 Tagen, Wert 2 auf 100 in 1743 Tagen, und Wert 3 auf Null in 3875 Tagen.“ Wir leben schließlich nicht in einer schönen, neuen Welt. Zum Glück. Der Mensch ist ein sehr menschliches Wesen. Und Zahlen lügen vielleicht nicht, aber ihre Skala kann lügen. Lassen wir also diesen Checklisten-Kram.

Das ist einfacher gesagt als getan: Hitlisten und Rankings begegnen uns allerorten. Da gibt es hier einen „Inclusion Index“, dort einen „Diversity & Inclusion Index“, bei ihnen geht es vor allem um die Selbstverpflichtung eines Unternehmens, diverse und inkludierende Strukturen zu schaffen, im Speziellen bestimmt aber um Diversität als die Summe der ethnischen Biografien und um Gleichstellung als Geschlechterthema. Sowas ist dann ein „Benchmarking Tool“, und daran ist erstmal auch viel Gutes – aber es suggeriert eine angeblich schnelle, bereits definierte Lösbarkeit von großen Herausforderungen und hat darüber hinaus Menschen mit Behinderungen oft weniger im Fokus. Zeitungen titeln mit „LGBTI-Ranking: Diese Konzerne sind besonders tolerant“, was erstmal interessant und relevant klingt, aber mit „Toleranz“ eben keine aktive Fürsprache für Bürgerrechte meint. „Toleranz“ wird durch die Skala nebenbei als Ziel suggeriert, aber reicht das? 

Ferner finden sich im Netz „Inklusionsquoten“, zum Beispiel von Schulen. Die sollen ermessen, wie viele Kinder mit Behinderung Regelschulen besuchen. Doch diese Zahl steht dann am Ende recht nackig da, wenn sich trotz steigender „Quote“ auch der „sonderpädagogische Förderbedarf“ erhöht und die Separation nicht abnimmt. Eine Menge Leute für die Förderschulen gibt es dann am Ende trotzdem.

Dabei ist Inklusion, um die Frage von oben zu beantworten, ein Ideal. Das klingt härter als es ist, denn in der Geschichte der Menschheit gab es viele weit entfernte Ideale, die Wirklichkeit wurden. Seit 1984 dürfen Frauen in Liechtenstein wählen, seit 1994 ist Homosexualität in Deutschland nicht mehr strafbar. Können wir erreichen, dass Schulen 2024 barrierefrei sein müssen? 

Wir müssen nur anfangen, Inklusion als einen menschenrechtlichen Ansatz zu verstehen. 

Nun ist es leider so, dass mancher Zeitgenosse in Deutschland etwa die Inklusion in Schulen als eine neue und exotische Idee ansieht, als sei er aus einem langen Traum aufgewacht und frage sich:Weniger gut funktioniert es, wenn wir uns geben, als wären wir aus einem langen Traum aufgewacht und uns fragen: “Oha, da sind plötzlich so viele Kinder mit Behinderung, die müssen ja auch zur Schule!” In diesem Fall würde die Frage nach einer Zahl Sinn machen. Und zwar die Frage nach der Anzahl der Minuten, bis die Kopfschmerztablette zu wirken beginnt. 

Was Zahlen nicht umreißen: Dass Inklusion auf die Bedürfnisse des Einzelnen schaut. Dass die Umwelt sich auch anpasst. Dass es um die Gestaltung unseres Miteinanders geht. Anpacken müssen alle, sonst wird sich nichts ändern.

Denn:

Inklusion ist kein Ziel, sondern ein Prozess. Ein Prozess der Annahme und Bewältigung von menschlicher Vielfalt.”



7 Antworten zu “Inklusion ist kein Ziel in Zahlen”

  1. Guten Morgen Raul Krauthausen, besten Dank für den Beitrag.
    Auch Zahlen gehören zur Kommunikation, wie jedes Zeichen der Kommunikation ist, ich wüsste deshalb nicht, warum ich Zahlen exkludieren sollte, um Inklusion zu realisieren, im Gegenteil, Zahlen sind wie Worte, wie Gesten, wie Bilder, wie Musiknoten, sie sind ganz einfach Sprache.
    Was ich nicht machen werde, ist Inklusion als Kampfbegriff gegen bestimmte Sprachen zu setzen, das wäre auch keine Inklusion.
    Am meisten lerne ich mit allen Sprachen, sogar mit denen, die ich nicht verstehe.
    Ich versuche, das meiste für mich heraus zu holen an Nachricht, heute z. B. lese ich Geschäftsberichte der Spinnstofffabrik ´Zehlendorf Aktiengesellschaft, die kann ich ja nicht weglassen, und ich hätte nie verstanden, dass es am Schiffbauerdamm 1 mal eine Fernmeldeadresse für die „Zellwolle Export Gemeinschaft GmbH“ gegeben hat, da stand also schon mal eher ein Haus, und die Spinnstofffabrik in Zehlendorf arbeitete damit.
    Ohne die Zahlenwerke finde ich das doch gar nicht, ich kann aber eben auch nicht nur auf Banken z. B. gucken, um die Bankenzahlen zu verstehen, ich muss auf alles gucken. Anders kann ich das nicht. Manche Menschen nervt das ab, sie wollen, dass ich doch endlich mal „zum Thema“ komme, hatte ich nicht gesagt, ich mache Banken!
    Mache ich ja, wieso soll das was ich mache, nicht „Banken“ sein? IG-Farben, finde ich bei Enzensberger OMGUS ein Foto – Unter den Linden, ist heute das Europa Haus ansässig, und das war früher mal die „Bank deutscher Länder“, die finde ich aber eben über „IG Farben“, ich finde sie nicht nur über „Stichwort Bank“.
    Und so weiter. Was mich nervt, immer nervt ist Eindimensionalität und Einsprachigkeit, da kann ich gar nicht drauf.
    Einen schönen Donnerstag, vielen Dank für den sehr anregenden Beitrag.
    Besten Dank und einen schönen Donnerstag.

  2. Mich hat Ihr Beitrag den ganzen Tag begleitet und angeregt, Raul Krauthausen, das „Individuum“, darauf kommt es an, stimmt! Aber: „Wir alle“ gibt es eben nicht. Ich stehe damit immer abseitig, wenn ich sage: Gelernt habe ich das Zuhause, ich suchte mir meinen Weg, ohne „wir alle“, denn es gab kein „wir alle“ und ich denke auch, dass ich meiner Familie sogar noch dankbar daf´ür sein kann, trotz aller Blessuren, die ich aufgrund meiner anstrengenden Familie mitgenommen habe, dass sie mir knallhart demonstriert hat: „Wir alle“ gibt es nicht, wenn Du nicht bist, wie ich es angenehm finde, bist Du auch nicht „wir alle“.
    In Familien, im kleinsten staatlichen Kosmos, gibt es schon kein „wir alle“, wie könnte es ein „wir alle“ im Staat geben? Und: Bitte, bitte, bitte: Niemals ein „wir alle“ im Staat – alles, bloß das nicht!
    Aktuell fehlt mir, einfach mir, einfach mir, einfach mir das Reisen, ich will so gerne nachBystrzyca Kłodzka , so sehr, sehr gerne nach London.
    Nein, ich fahre nicht, aber: Liebe Bundesregierung, ich habe eine Bestellung aufgegeben! Ich kann warten, aber das heißt nicht, dass ich keine Bestellung aufgegeben hätte.
    Besten Dank, lieber Raul Krauthausen. Morgen wird es musikalisch, gerne würde ich Ihren Beitrag dazu verlinken, es geht in die Habelschwerdter, wie man “ auf ostdeutsch“ sagen würde…

  3. Hmm…ich wünschte mir jetzt gerade es gäbe Zahlen wie die Inklusion durch Corona zurückgeworfen wurde. Wenn man schon komische Kommentare bekommt, weil man im Rollstuhl einkaufen geht….es wagt für den eigenen Haushalt einzukaufen…dann ist das wirklich nicht schön.
    Und natürlich durften sie gestern beim Click und Collect meine Reifen desinfizieren und meine Hände….aber dann nicht böse gucken wenn sie die Reifenspur auf dem Boden wegputzen müssen.

  4. Lieber Raul Krauthausen, ich stimme deinem Artikel voll und ganz zu. Wir denken immer, dass Zahlen einfach die bloß die wahren Fakten sind, die sich nicht wegdiskutieren lassen, aber was bringen uns diese Fakten am Ende schon? Was bringt es uns z. B. zu wissen, dass die Werkstätten für behinderte Menschen (WfbMs) weniger als einen Prozent der dort beschäftigten auf den ersten Arbeitsmarkt vermitteln, obwohl dies eigentlich ihre Aufgabe ist, wenn wir nicht wirklich bereit dazu sind, zu diskutieren, wie das geändert werden könnte und wie wir den ersten Arbeitsmarkt endlich inklusiv gestalten können, sodass alle Menschen wirklich davon profitieren und ihren Job besser ausüben können? Ich bin der Meinung, dass Zahlen als Fakten uns nur dann wirklich weiterhelfen, wenn wir bereit sind,an den Ursachen zu ändern, die für diese Zahlen verantwortlich sind.

  5. Guten Abend Raul Krauthausen, ich möchte auf den Beitrag von Bianca Jezek antworten. Ich muss immer an ein Prüfschema denken, ich lernte das meine ich bei Prof. Stober, Öffentliches Recht, war nur Grundlagenwissen in Volkswirtschaftslehre, kann auch sein, ich kriege das jetzt nicht mehr 100 % hin. Es ging aber grundsätzlich darum, dass der Staat, wenn er etwas tun will, was die Bürger betrifft, dies begründen muss, für alle Bürger schlüssig begründen muss, die es betrifft.
    Er, der Staat, müsste demnach jede Maßnahme, die er selbst als „inklusiv“ deklariert, auch als solche zielgerichtet begründen können nach den Fragen: Ist die Inklusionsmaßnahme geeignet, Inklusion nach dem Gesetz herzustellen? Ist die Maßnahme auch geeignet und gäbe es keine schwächeren Maßnahmen, die das gleiche möglich machten.
    Die Bürger/Bürgerinnen fordern sowas meiner Meinung nach auch zu wenig ein, sie machen es den Regierungen sehr leicht, einfach populistisch ihre Maßnahmen durchzukriegen, das liegt dann aber auch an uns, an jedem Einzelnen.
    Was ich persönlich nicht verstehe, ist, warum nicht Gehörlosenverbände schon gegen die Parlamente klagen, dass die diese nur wenige Stunden an den Abgeordnetensitzungen beteiligen? Das kann ich nicht machen, ich bin da nicht betroffen. Wäre ich aber betroffen, wäre mir nach Klage.

  6. Guten Morgen Raul Krauthausen, besten Dank noch einmal für den Beitrag. Ich lese gerade die Biographie „Reichskanzler Kurt von Schleicher“ von Friedrich-Karl von Plehwe, Zeitgeschichte Ullstein-Buch, Ullstein Verlag, Frankfurt/M, Berlin 1989, da fiel ja die Mauer, denke ich gleich! Zahlen und sofort ein Fall!
    Ich befasste und befasse mich derzeit mit Kurt von Schleicher, dessen Todestag auf den 30.06.1934 dokumentiert wurde, nun stelle ich fest, ich bin erstaunt, dass an diesem Tag gleich mehrere Personen ermordet wurden, nämlich Gregor Strasser und Erich Klausner auch, und sicherlich noch mehr Menschen. Adolf Hitler war dabei, seine letzten Kritiker „auszuschalten“, die sich nicht an das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 halten wollten, bzw. scharfe Kritik daran äußerten. Der zeitliche Ablauf, ohne Daten, ohne Zahlen kann ich ihn nicht erfassen und ein System wird erst sichtbar, wenn ich sehen kann, was war davor, was kam danach, wen traf es, wen traf es noch, wenn trifft es, wen trifft es wieder? Deswegen müssen auch Zahlen in Bezug auf Prozessbetrachtungen ein Ziel sein, das Ziel, dem die Zahlen dienen, sollte aber Transparenz und nicht Intransparenz sein.
    Inklusion muss auch heißen, die gleiche Transparenz für alle, das gleiche Gedenken für alle Toten, denn das letzte Hemd hat keine Taschen, das stimmt ja, wenn da nicht die Erben der „letzte Hemd Träger wären“, aber das darf den Staat bei seinem Inklusionsgedanken nicht irritieren, finde ich, das Gleichheitsprinzip muss Vorrang haben, wenn es um den Menschen selbst geht.
    Und beim Gedenken sollte es um den Menschen selbst gehen, um ihn alleine.
    Heute Nachmittag geht es ans Geld, im Galopp, dann gerne beim Tagesspiegel dank Robert Ide mit heutigem Checkpoint.
    Besten Dank Raul Krauthausen, der frühe Wurm fängt den Vogel!
    Einen schönen Donnerstag.

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