Der blinde Fleck: Ich sehe nicht, was Du grad siehst

Fast alles hat Vor- und Nachteile. In begrenztem Maß gilt das auch für die eine oder andere Behinderung.

Blindheit beispielsweise kann manchmal auch ein Vorteil sein. Das Aussehen einer Person spielt für Blinde keine Rolle. Sie legen mehr Wert auf die Stimme oder das Verhalten von Menschen.

Erst nach längerer Zeit bekam ich mit, dass meine neue Bekannte eine dunkle Hautfarbe hat. Da sie in Marburg geboren wurde, hatte ich vorher nichts Besonderes an ihr bemerkt. Blindheit kann also schützen vor Vorurteilen.

Vieles Hässliche müssen Blinde nicht mit ansehen. Vieles Schöne entgeht ihnen allerdings auch. Manchmal „sehen“ sie mit den Fingern oder der Nase und lassen sich Bilder von anderen Menschen beschreiben.

Mitunter bietet Blindheit Anknüpfungspunkte für ein Gespräch. Manchmal bekomme ich als Blinder aber gar nicht mit, wer mir gerade begegnet oder sich im Raum aufhält. Dann entgeht mir durch meine Behinderung die Chance auf einen möglicherweise sehr erwünschten Kontakt.

Allerdings mache ich mir mittlerweile auch ein Bild von meinen Mitmenschen anhand ihres Verhaltens mir gegenüber. Wer wort- und grußlos an mir vorübergeht, den nehme ich nicht so wichtig wie jemanden, der mir selbst dann kurz „Guten Tag“ sagt, wenn er in Eile ist.

„Blindheit ist ein bedauernswürdiger Zustand, aber eine unverzeihliche Haltung“, schrieb der blinde Schriftsteller Bernd Kebelmann. Die „Blindheit“ im übertragenen Sinn hätte jedoch einen anderen Namen verdient, weil sie meist aus einer ignoranten Haltung heraus entsteht. Das Wort „Dummheit“ wäre wohl richtiger dafür.

Auch „blinde Wut“ oder „blinder Hass“ haben weniger mit einer Sehbeeinträchtigung zu tun als mit geistiger Verblendung. Als Blinder lebe ich aber ganz entspannt damit, dass manche „Blindheit“ im übertragenen Sinn absolut nichts zu tun hat mit meiner Behinderung.

„Liebe macht blind“, behauptet der Volksmund. Nur 2 Promille der Menschen in Deutschland sind blind. Gibt es also zuwenig Liebe in Deutschland?

Mein Lieblingssatz dazu ist die Aussage des Fuchses in Antoine de Saint Èxupérys Kunstmärchen „Der kleine Prinz“. Leider wurde sie selbst in der neuesten Fassung nicht korrekt ins Deutsche übertragen. Meine persönliche Übersetzung dieses Kernsatzes lautet: „Man sieht gar nichts, wenn man nicht mit dem Herzen sieht!“



2 Antworten zu “Der blinde Fleck: Ich sehe nicht, was Du grad siehst”

  1. Guten Morgen, besten Dank Raul Krauthausen
    „Ich sehe was, was Du nicht siehst“, ein Spiel aus Kindertagen, als Tipp wird nur die Farbe verraten und der Gegenüber fragt sich durch.
    Ich lese Bücher, die Autoren bringen mich auf Spuren, die ich vorher nicht gesehen habe.
    Beispiel: Ich habe heute morgen mal wieder in Klassenbild mit Walter Benjamin gelesen, da finde ich auch den Schüler „Hugo Karl Heinrich Theodor Böninger“, den Namen hatte ich vorher noch nie gehört, dann las ich das sein Vater, Theodor Böninger sen. im Aufsichtsrat der Deutschen Bank war – vielleicht hätte ich seinen Namen schon gesehen haben können, wenn ich ältere Geschäftsberichte der Deutschen Bank durchgeblättert habe, ich sah seinen Namen aber erst jetzt, weil ich auf die Spur gebracht wurde. Tatsächlich finde ich jetzt Theodor Böninger sen. im Geschäftsbericht der Deutschen Bank aus dem Jahr 1907. Wen ich da nicht finde, ist der, den ich ja heute suchen will, den Bankier Oscar Wassermann. Hier hilft mir die Online-Berichterstattung der Deutschen Bank weiter , denn ich weiß jetzt, dass der Vorgänger von Oscar
    Wassermann Berthold Naphtali hieß und da ich Berthold Naphtali in dem Geschäftsbericht der Deutschen Bank von 1907 finde, ist es logisch, dass ich Oscar Wassermann demnach woanders fände.
    Was wäre ich ohne Bücher? Ich sähe gar nicht, wo ich hin will!
    Danke für den anregenden Beitrag und einen schönen Dienstag!

  2. Lieber Raul Krauthausen,
    wenn sie sich über falsche Übersetzungen Gedanken machen, dann zitieren sie bitte auch selbst korrekt;
    auf meiner Website siteht nicht, das blindsein sei ein
    „bedauernswürdiger“ Zustand, das Wort ist mir viel zu niederdrückend, dort steht, Blindsein sei ein „beschwerlicher“ Zustand,
    und das ist die Einleitung. Entscheidend ist der zweite Teil des Satzes:
    aber eine unverzeihliche Haltung!
    Also bitte nicht wieder blind die Kollegen zitieren, lieber nachlesen.
    Bernd Kebelmann

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