„Er passt in keine Schublade“, sagen Menschen über jemanden und meinen das meist als Lob. Wer aber wirklich in keine Schublade passt, der hat´s meist sehr schwer. Das gilt insbesondere für Menschen mit mehr als einer Behinderung gleichzeitig.
Mit Menschen im Rollstuhl oder mit einem weißen Langstock können viele inzwischen einigermaßen umgehen. Doch selbst Mitmenschen mit einer Behinderung fällt der Umgang mit Mehrfachbehinderten nicht immer leicht.
Annähernd zehn Millionen Menschen in Deutschland sind behindert. Wahrscheinlich liegt die Zahl der Mehrfachbehinderten bei knapp einer Million. Genaue Zahlen dazu sind leider aber nicht bekannt.
Da aber viele Behinderungen erst in höherem Alter auftreten, ist sehr wahrscheinlich, dass bei älteren Behinderten dann mit einer gewissen statistischen Wahrscheinlichkeit auch mehrere Behinderungen zugleich auftreten können. In der gesellschaftlichen Debatte spielt das derzeit aber ebensowenig eine Rolle wie bei Behindertenorganisationen selbst.
Allerdings haben zusätzliche Behinderungen mitunter sehr schwerwiegende Auswirkungen. Davon kann ich aus eigener Erfahrung berichten.
Meine linksseitige Fußlähmung wäre – für sich allein genommen – eine kaum merkbare Behinderung. Könnten meine Augen alles gut sehen, könnte ich Bordsteinkanten und Unebenheiten im Boden vorsichtig umgehen. Als Blinder trete ich jedoch irgendwohin, wo mein Fuß die Unebenheit oder Kante dann aufgrund dieser Behinderung nicht abfedern kann, sodass ich bei kleinsten Unebenheiten zu Boden stürzen kann.Deswegen kann ich das Haus nur in sehender Begleitung verlassen.
Jede zusätzliche Beeinträchtigung potenziert die Auswirkungen einer anderen Behinderung. Schon eine leichte Hörbeeinträchtigung, die die akustische Raumwahrnehmung stört, stellt für blinde Menschen eine extreme Einschränkung dar.
Deswwegen plädiere ich dafür, sich möglichst vom überkommenen Schubladendenken zu verabschieden, wonach alle Menschen mit einer Behinderung können sollten, was eine bestimmte Person kann. Individualität und Vielfalt machen jeden einzelnen Menschen zu einem einzigartigen Wesen, das in seinen persönlichen Bedürfnissen und Wünschen zu respektieren ist. Respekt und Freundlichkeit sollten im Umgang aller Menschen selbstverständlich sein.
Fangen wir also an, respektvoll und freundlich aufeinander zuzugehen! Zwar habe ich nicht immer nur gute Tage, aber wenigstens zu solchen Zeiten möchte ich gerne viele interessante und nette Mitmenschen kennenlernen.
4 Antworten zu “„Mehrfach behindert sein ist nicht einfach“”
Guten Morgen Raul Krauthausen, besten Dank für den Beitrag aus 2019. Gestern las ich im Tagesspiegel einen Beitrag dank Malte Lehming, es ging um die Coronapandemie und ums Reisen. Ich erinnere eine Kreuzfahrt zwischen Hamburg und Rotterdam, 2017 war es, es gab etwas Seegang und die Schublade in meiner Innenkabine rappelte ohne mein Zutun auf und zu – es war nicht die Loriot´ sche Schublade aus „Ödipussi“, sondern eine andere – selbst die Schubladen passen nicht in jede Schublade. Leichen passen in Schubladen, geschmeidig und lautlos scheinen sie sich im Krimi öffnen zu lassen – im „Tatort“ findet Professor Börne in der Schublade die Leiche zum erforschen. Schubladen sind nicht ganz dicht, nicht einmal, wenn man sie abschließt – Düfte, z. B. einer Creme, eines Parfüms, können entweichen. Wer alles dicht machen will, braucht Dichtung, aber die ist nur en Vogue, wenn ein Poet sie entbietet, während die Dichtung der Ingenieure in Vergessenheit geraten ist, dabei braucht sie jeder von uns, eine inklusive Erfindung fürwahr!
Die Nationalsozialisten damals brauchten viele Schubladen, nur für Leichen nicht, das hätte noch gefehlt, dass sich ein „Börne“ daran gemacht hätte, Täter zu finden, wozu das denn? Die Nationalsozialisten hatten immer recht und wollten alles haben. Sie hatten dann das Dichtungs-Patent und ein Erfinder, Kurt Schmidt ist seitdem verschwunden. Auf einem einblättrigen Geschäftsbericht der Spinnstofffabrik Zehlendorf Aktiengesellschaft ist der Name „Kurt Schmidt“ festgehalten. Ein Patent mit dem Namen „Kurt Schmidt“ finde ich auch – das Patent dokumentiert, der Erfinder nicht, es gibt keine Schublade für Kurt Schmidt – aber einen Gedenkort müsste es geben, auch wenn das Wissen der Geschichte dann geteilt werden müsste und nicht in verschlossenen Schubladen warten dürfte, bis der Kurswert stimmte.
Zur Dichtung der Dichtung – geldwerte Morde, der Weg der Nationalsozialisten zum Misserfolg.
Einen schönen Freitag und noch einmal besten Dank auch für diesen inspirierenden Beitrag.
Ich hatte zuerst übersehen, dass gar nicht Raul Krauthausen den Beitrag geschrieben hat, sondern Franz-Josef Hanke. Entschuldigung. Besten Dank an Franz-Josef Hanke für den tollen Beitrag und Raul Krauthausen dafür, dass ich ihn überhaupt gefunden habe.
Guten Morgen Franz-Josef Hanke, besten Dank noch einmal für den Beitrag. Ich finde, genau wie Sie, dass Freundlichkeit und Respekt allen Menschen gelten sollten, einfach allen. Aber nicht nur die Menschen werden sortiert, in Schubladen gepackt, die Dinge auch. Meine Nichten und Neffen mussten vor Jahren ein Herbarium erstellen, sie hatten wenig Freude daran, denn es sollte nur rein ins Herbarium, was auch zu bestimmen war, und so kam rein, was schon vor 70 Jahren rein kam. Geschimpfe: Warum kann nicht diese tolle Blume rein? Weil sie nicht bestimmt war, kam sie nicht rein, und deshalb blieb sie unbestimmt und draußen.
In Edinburgh kaufte ich vor 20 Jahren Whiskeytöpfchen aus Ton, drauf war eine „Kurzhalmdistel“, so würde Bayer es vielleicht analog zum „Kurzhalmmais“ formulieren.
In Teltow steht eine „Langhalmdistel“, sie ist etwa 1,80 hoch, hat die grau-weißlichen Blätter wie eine Palme in etwa, mit Stacheln an den Blättern und auch an den Zweigen, auch an allen dünnen Zweigen. Sie trägt viele Knospen, vielleicht 3 cm Durchmesser je Knospe. Die Knospenspitze ist gelb, wenn sich die Blüte öffnet ist es eine blaue Blüte, wie bei einer Kornblume, nur dicker.
Heute war nur noch eine Ameise zu sehen und keine Blattlaus, es regnete etwas, am Samstag, als es warm war, wimmelte es von größeren Ameisen, die Blattläuse verspeisten. Ich habe mich auf einem Foto neben die „Langhalmdistel“ gestellt, weil ich wissen möchte, welche Geschichte sie hat. Sie passt in kein Herbarium und auch in meinem Buch „Das große Lexikon der Pflanzen, Artia Verlag Prag 1964, finde ich sie nicht.
Ich finde aber eine andere Pflanze, auf Seite 314, den „Wiesenbocksbart“, der es aber auch in kein Schulherbarium schafft, denn er hat „Flugorgane“, was dem Pressen und Archivieren im Wege steht. Er sieht aus wie eine „Pusteblume“, rund, mit kleinen, kaum zu sehenden Früchten, an denen eine Art Fallschirm dran ist, mit diesem Fallschirm fliegen die Früchte – deshalb heißt es „Flugorgan“. Im Tagesspiegel ging es gestern um einen Falter, der wie ein Kranich zig tausende Kilometer fliegen kann, er trägt den Namen Distelfalter.
Vielleicht hat das Tier mit den bräunlichen Flügeln den Samen für die „Langhalmdistel“ in Teltow mitgebracht, vor langer Zeit? So wie Alexander von Humboldt die Dahlie damals?
Das weiß ich alles nicht, weil in ein Herbarium immer nur rein kommt, was schon mal bestimmt wurde, und es ist nicht nur ein Schubladenproblem, sondern es werden nicht einmal mehr Schubladen angebaut.
Stattdessen soll alles digital werden, die „E-Akte“ soll kommen, für Pflanze, Mensch und Tier.
Wenn ich da jetzt die Infrastruktur für überlege, und schon die „Langhalmdistel“ aus Teltow nicht drin habe, den Langstreckenfalter aus dem Tagesspiegel nicht und mich nicht und Sie nicht – was soll das dann für ein Fortschritt sein?
Die E-Akten werden so sein wie das Bundesarchiv im Würfel, die von der Heydt Villa im Koffer – die inklusive Schule wird eine „Zwergstatt“ werden, die „Langhalmdistel“ so lange stehen, bis sie überbaut wird, der „Langstreckenfalter“ so lange fliegen, bis er keine Distel mehr findet und meine Fotoauswahl wird kleiner, denn die Objekte werden weniger.
Mehrfach behindert – und ich habe den Verdacht, dass mir der Quantenrechner die Vielfalt noch kleiner rechnen könnte.
Ich muss aber auf „doppelte Buchführung“ bestehen, den „Bocksbart“ habe ich am Teltowkanal gefunden, die Beschreibung im Buch dank F.A. Novak.
Manfred von Ardenne finde ich in einem Buch dank Gerhard Barkleit „Selbstverwirklichung im Jahrhundert der Diktaturen“, heißt es dort feierlich, so als wären Diktaturen reich an Chancen zur Selbstverwirklichung. Daran habe ich Zweifel. Ob Manfred von Ardenne die „Langhalmdistel“ sah, als sie noch klein war? In den 40ern soll er den leistungsfähigsten Elektronenmikrochip entwickelt haben, in der DDR sogar die Wasserstoffbombe.
Ein Typ wie eine „Langhalmdistel“, wie ein „Distelfalter“ Aber wie war das denn mit Manfred von Ardenne, ist er ein „großer Sohn der Wiedervereinigung“ der beiden deutschen Staaten geworden, oder fällt er heraus aus dem Menschenherbarium? Ich habe den Eindruck, er fällt heraus, keine Seite will ihn so richtig und beide Seiten zusammen auch nicht.
Auf den Spuren dank Tagesspiegel zu Kurt von Schleichers Zeiten.
Besten Dank Franz-Josef Hanke, Raul Krauthausen für das Aufbewahren der vielen schönen Beiträge.
Guten Abend Franz-Josef Hanke, besten Dank noch einmal für den schönen Beitrag. „Menschenherbarien“, nun wird die Pflegefinanzierung neu diskutiert, der Vorwärts teilte einen Beitrag. Ich meine aber, man müsste auch den Umgang und die Ermittlung von Diagnosen auf festere Füße wieder stellen, denn davon hängt ja dann wiederum ab, welche Mittel in welcher Höhe an den Dienstleistungsempfänger gezahlt werden.
Ich bin nicht mehr ganz jung, und, lege ich das Gutachten zugrunde, welches ich noch erinnere, ich warf es weg, mehrfach „gestört“, ich schätze es sehr, dass die erfahrenen Gutachter den souveränen Mut hatten, sich nicht ganz festzulegen, wenn es nicht geht, geht es nicht.
Ich war Beamtin und hatte das Glück, eine sorgfältige erfahrene Begutachtung zu bekommen. Wie ist das aber bei Menschen im ganz jungen und ganz hohen Alter, die nicht in der Berufsbegutachtung stecken, wie läuft es da? Wie schnell bescheinigt man der „Omi“, es nicht mehr auf die Reihe zu kriegen? Wie schnell dem Kleinkind, autistisch zu sein? Die Zunft der Mediziner wird, meine ich, in der Debatte zu wenig beachtet, immer öfter sind es Nichtmediziner, die hier Lebenswege mit pflastern, ohne die nötige Profession – welcher Mensch möchte das für sich in Anspruch nehmen?
Auf Ärzten und Ärztinnen lastet ein enormer Druck, das wird zu selten diskutiert, davon hängt aber sehr viel ab.
Wer die Pflegefinanzierung diskutiert, muss auch die Ausgabekriterien neu denken, die Rahmenbedingungen der Diagnostik, egal ob für psychische und oder physische Erkrankungen. Es muss offen debattiert werden. Die Gefahr, dass Rassisten und Antisemiten sich die Diagnoselücken in menschenverachtender Weise zu Nutze machen, ist mehr als groß. Einen „NSU“ in Werkstätten, Pflegeeinrichtugen, in Krankenhäusern würde man aber sehr viel schwieriger erkennen können, denn es liegen keine zerbombten oder erschossenen Menschen auf Straßen oder im Computerladen.
Sie sterben lautloser, „sauberer“ – und die Fälle in Potsdam – ungeklärt.
Besten Dank Franz-Josef Hanke, Raul Krauthausen fürs Teilen.
Einen schönen Samstagabend.