20 Forderungen an Politik und Wissenschaft zur Durchführung von Forschungsprojekten an und mit behinderten Menschen

Wissenschaft hat einen großen Einfluss darauf, welche politischen Entscheidungen getroffen werden, die eine Gesellschaft prägen. Umgekehrt kann auch Politik direkten Einfluss nehmen, welche Bereiche erforscht und wie sie erforscht werden. Noch immer herrscht hierbei ein großer Missstand, der sich negativ auf die Lebensrealitäten behinderter Menschen auswirkt. Denn weder wird in wissenschaftlichen Studien ausreichend eine behinderte Perspektive mitberücksichtigt, z.B. indem behinderte Menschen an Forschungsprozessen beteiligt werden, noch setzt sich die Politik genügend dafür ein, behinderten Menschen Zugang zu Bildung und Forschung zu ermöglichen und gesellschaftliche Barrieren zu untersuchen, die Teilhabe verhindern.  

Das muss sich ändern! Dieser offene Brief will einen Anfang machen!

Liebe Akademiker*innen, liebe Politiker*innen, 

Menschen mit Behinderungen werden oft für wissenschaftliche Studien angefragt, um Fragen zur Inklusion in Deutschland oder zum Leben mit Behinderung zu beantworten. Es ist allerdings nicht hinnehmbar, dass behinderte Menschen Forschenden ohne Behinderung ihre Zeit und ihr Fachwissen kostenlos und uneingeschränkt zur Verfügung stellen sollen, während sie selbst oft keinen ausreichenden Zugang zu Bildung und Forschung haben, ihre Ausgaben höher sind als die Nicht-Behinderter und sie zudem, sofern sie “arbeitsfähig” sind, weniger verdienen als Menschen ohne Behinderung. Gemäß dem Prinzip „Nichts über uns ohne uns“ müssen Wissenschaft und Politik nicht nur behinderte Perspektiven berücksichtigen, sondern behinderte Menschen aktiv in alle Phasen des Forschungsprozesses und Erkenntnisgewinns einbeziehen. Wir haben daher folgende Forderungen formuliert:

10 Forderungen zur Förderung der Teilhabe behinderter Menschen an Universitäten und Bildungseinrichtungen: 

  1. Beschäftigen Sie Lehrende, Forschende und Studierende mit Behinderung an den Universitäten. Beschäftigen Sie sie langfristig, nicht nur auf Projektbasis.
  2. Stellen Sie sicher, dass Universitäten barrierearm sind (räumlich / online / in Kommunikation & Lehre). Kommunizieren Sie vorhandene Barrieren transparent und im Vorhinein, anstatt passiv darauf zu warten, dass Betroffene diese erfragen.
  3. Passen Sie die alten, festgefahrenen und komplexen Uni-Strukturen und Arbeitsfelder auf die Diversität der Bedürfnisse und auf die Expertisen (nicht nur) behinderter Menschen an. 
  4. Bieten Sie mehr Flexibilität und Angebote für Menschen in bestimmten Lebensumständen oder Lebensrealitäten ([alleinerziehende] Eltern / behinderte Menschen / chronisch kranke Menschen).
  5. Verkürzen Sie Kommunikations- und Entscheidungswege, um Veränderungen schnell und wirksam durchzusetzen.
  6. Stellen Sie personelle, zeitliche und finanzielle Ressourcen zur Verfügung, um den Aufbau inklusiver Strukturen für mehr Teilhabe und Barriereabbau zu gewährleisten. 
  7. Fordern Sie hochrangige Entscheidungsträger*innen auf, für Inklusion & Barrierefreiheit einzutreten und ihren Einfluss zu nutzen, um diese Forderungen durchzusetzen und nachhaltig zu installieren.
  8. Staatliche Hochschulen sollten verpflichtet werden, innerhalb einer gesetzten Frist einen Aktionsplan zur UN-BRK zu erstellen. Die Einhaltung des Aktionsplans muss überprüft und Versäumnisse müssen gegebenenfalls sanktioniert werden.
  9. Wissenschaftsministerien dürfen nur dann Geld für Ausschreibungen zur Verfügung stellen, wenn ein Konzept zur Barrierefreiheit vorliegt.
  10. Wir fordern eine bundesweite Abstimmung zu Standards, die sicherstellen, dass Studierende an allen Hochschulen vergleichbare Bedingungen vorfinden. Für die Erstellung dieser Standards muss die Expertise behinderter Studierender eingeholt werden.

10 Forderungen zur Förderung der Teilhabe behinderter Menschen an wissenschaftlichen Studien:

  1. Behinderung muss als integraler Bestandteil der Forschung anerkannt werden und die Perspektiven von behinderten Menschen müssen in allen Studien berücksichtigt werden.
  2. Beteiligen Sie unterschiedlich behinderte Menschen am gesamten Forschungsprozess, einschließlich des Studiendesigns, der Formulierung der Fragestellung, Entwicklung von Zielen, Methodik und Auswertung. 
  3. Auftraggeber*innen sollten eine Quote von beteiligten behinderten Forschenden als Bedingung für Projekte und Studien festlegen. Dabei muss die Forschung an und mit behinderten Menschen immer barrierearm und inklusiv ausgerichtet sein. Es müssen hierfür ausreichend zeitliche und finanzielle Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Forschung, bei der behinderte (Co-)Forschende sich alleine um ihre eigene Barrierefreiheit in langwierigen bürokratischen Verfahren kümmern müssen, verstößt gegen ethische Prinzipien.
  4. Forschende ohne Behinderung müssen sich fragen, ob ihre Arbeit wirklich einen Mehrwert für das Leben und Erleben von behinderten Menschen hat oder nur ihren eigenen Karriereweg vorantreibt.
  5. Wir fordern vorab eine intensive Beschäftigung mit den Lebenswelten behinderter Menschen und Zielen der Behindertenbewegung, anstatt behinderte Menschen als Recherchehilfen zu nutzen.
  6. Studien müssen barrierefrei zugänglich, kurz und verständlich sein. Gegebenenfalls mittels Hinzunahme von Untertiteln, Audiodeskriptionen, DGS, Leichte Sprache, etc.
  7. Entlohnen Sie behinderte Menschen für ihre Expertise und Zeit, wenn sie an Untersuchungen teilnehmen.
  8. Forschungsstudien sollten sich auf die Untersuchung ableistischer Strukturen und Entscheidungsträger*innen konzentrieren und ethischen und wissenschaftlichen Standards standhalten.
  9. Um eine fachlich fundierte Beurteilung von Forschungsergebnissen im Bereich der Behinderung vorzunehmen, sollte diese Aufgabe ausschließlich von Expert*innen in diesem Gebiet übernommen werden. Die Auswahl von Expert*innen muss in Abstimmung mit bekannten behinderten Menschen der Behindertenbewegung und behinderten Menschen aus den Disability Studies, den Deaf Studies, der Behindertenpolitik, Internationalen Forschungsstelle Disability Studies und der Arbeitsgemeinschaft Disability Studies Deutschland (AGDS) erfolgen.
  10. Nutzen Sie Forschungsbudgets, um aus wissenschaftlichen Erkenntnissen kritische Analysen, aktivistische Interpretationen und politische Forderungen abzuleiten.


5 Antworten zu “20 Forderungen an Politik und Wissenschaft zur Durchführung von Forschungsprojekten an und mit behinderten Menschen”

  1. Diese Forderungen müssen der Goldstandard werden, wenn Menschen mit Behinderung zum Forschungsgegenstand gemacht werden.
    Alles andere ist keine korrekte wissenschaftliche Arbeit.

    „Nichts über uns ohne uns!“

  2. Die Forschung muss völkerrechtskonform sein. UN BRK, UN KRK, UN CEDAW, UN CAT, …
    Insbesondere muss es konform zur UN BRK sein. Das Charity und medizinische Modell darf nicht mehr verwendet werden. Es muss das Menschenrechtsmodell von Behinderung im Mittelpunkt stehen.

  3. Vielen Dank für diese Initiative! Meine Erfahrung ist, dass an Universitäten und anderen akademischen Milieus viel über Inklusion geredet wird, dass aber nicht annähernd genug auch danach gehandelt wird. In Bewerbungsverfahren wird vor allem übersehen, dass auch die Lebensläufe von Menschen, die im Leben behindert wurden, anders sind als die von nicht-behinderten Personen, aber doch die gleiche Messlatte angesetzt wird. Behinderung ist eben kein momentaner Zustand, der durch technische Ausstattung (die ohnehin nicht wirklich gefördert wird) „repariert“ wird, sondern etwas ständig anwesendes – auch dies sollte in dem nett gemeinten Satz „Behinderte Personen werden bei gleicher Eignung bevorzugt eingestellt“ bedacht werden.

  4. Danke Raul, hier zwei Publication die ganz auf dem Thema sind EDI ist was wir hier in Kanada benutzen und dazu gehoert EDI von forschungsfragen…

    Wolbring, Gregor and Lillywhite Aspen (2021) Equity/Equality, Diversity, and Inclusion (EDI) in Universities: The Case of Disabled People in Societies, 11(2), 49; https://doi.org/10.3390/soc11020049

    Lillywhite, Aspen and Wolbring, Gregor (2019) Undergraduate disabled students as knowledge producers including researchers: A missed topic in academic literature in Education Sciences 9(4) article 259 doi:10.3390/educsci9040259

    neueste nicht rein Behinderten bezogen aber auch passend
    Wolbring Gregor and Nguyen Annie (2023) Equity/Equality, Diversity and Inclusion, and Other EDI Phrases and EDI Policy Frameworks: A Scoping Review in Trends in Higher Education 2023, 2(1), 168-237; https://doi.org/10.3390/higheredu2010011
    und wir haben viele Studien die zeigen das wichtige research Themen sich nicht mit Behinderten (nicht medizinisch) behandeln.

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