Das Ding mit dem Speziellen

Foto auf dem "Zugang für Behinderte" steht.

Solange eine Behinderung als besonders gilt, ist sie ein Grund für einen speziellen Umgang. Und der schneidet Menschen aus der Mitte der Gesellschaft heraus. Warum eigentlich?

Vieles wird ja in diesen Zeiten rasch zur Krankheit erklärt. Der Junge zappelt so viel? ADHS! Die FDP sperrt sich gegen höhere Steuern für Reiche, Tempolimit und Impfpflicht? Ausschließeritis! Eine Person verhält sich rücksichtslos und ignorant? Narzissmus! 

Haltungen und gesellschaftliche Verhaltensweisen zu pathologisieren, ist grundsätzlich ableistisch. Gleichzeitig sind behinderte Menschen immer diesem Ableismus ausgesetzt. Würden wir den Spieß umdrehen (Redewendung), läse sich das ungefähr so:

Es gibt eine Krankheitsform, über die kaum gesprochen wird: die Spezialitis. Sie grassiert vornehmlich in fürsorglich orientierten Kreisen, meint es auf jeden Fall gut (was die Therapie erheblich erschwert) und zeichnet sich durch zielstrebige Manöver aus, in denen die Träger*innen der Spezialitis manchen Mitmenschen erklären, dass es diesen inmitten Aller schlechter erginge. Und schiebt sie in spezielle Räumlichkeiten und Settings ab.

Es geht damit los, dass Behinderungen mit „speziellen Bedürfnissen“ beschrieben werden. Behindert – das klinge zu hart, also dann die Beschönigung. Dabei gibt es bei Behinderungen als Fakten menschlichen Lebens nichts zu beschönigen und auch nichts zu dramatisieren. Klar ziehen Behinderungen Bedürfnisse nach sich, aber die sind nicht speziell, sondern konkret: Ich als Glasknochenbesitzer bedarf eines Rollstuhls und eine Diabetikerin der Blutzuckerkontrolle – so what? Nichtbehinderte Menschen haben ebenfalls “spezielle Bedürfnisse”, beispielsweise entbrennen auf Twitter regelmäßig intensive Debatten über Rosenkohl oder Ananas auf Pizza.  Die Spezialisierung aber nimmt ihren Lauf, wenn gemeint wird: Wegen einer Behinderung brauche man eine spezielle Erziehung, eine spezielle Bildung, einen speziellen Arbeitsplatz. Bei all diesem Speziellen wird es dann wirklich etwas speziell. Dann wird nicht mehr gemeinsam in einer Schule gelernt, nicht mehr gemeinsam an einem Produkt gearbeitet und nicht mehr gemeinsam gewohnt. Die Spezialitis redet zwar viel von Inklusion, will sie womöglich auch. Aber meist entfernt sie sich von ihr Schritt für Schritt. Streng genommen wäre “Aussonderitis” ebenfalls ein passender Name dafür, sorgt sie doch schlussendlich dafür, dass Behinderte grundsätzlich “gesondert” wohnen, leben und arbeiten. 

Ein Beispiel dafür hat unlängst der Blogger und Aktivist Tim Villegas ausgegraben. Er erzählt von einem Schulcafé in Indiana, USA. Dort seien Schüler*innen mit „speziellen Bedürfnissen“, zitiert er einen Artikel, für die das Lernen aus dem Klassenraum herausgebracht werde: Die Jugendlichen betreiben eine Art Catering für die Lehrenden, nehmen Bestellungen entgegen und bringen dann Essen an den Platz. Das Ganze wird gelobt, denn dort würden sie gewisse Fertigkeiten lernen. Was soll daran falsch sein? Für Villegas bestehen solche „Dienste“ nicht den „smell test“, den Geruchstest. Denn eine Feststellung drängt sich auf: Wenn die behinderten Schüler*innen ihren Cafédiensten nachgehen, lernen sie nicht nach Lehrplan. Ihnen entgeht die Möglichkeit, sich so zu bilden, wie alle anderen Schüler*innen. Sie werden im Grunde ausgelagert. Dass die Fertigkeiten, die sie erlernen sollen, dann auch noch in reiner Dienstleistung liegen, die schließlich nicht einmal gemeinsam mit nichtbehinderten Schüler*innen erbracht wird, sondern das Lehrpersonal bedient – du meine Güte. 

Bestenfalls sprechen aus solchen Manövern Hilflosigkeit und mangelnde Kreativität. Gemeinsames Lernen sieht jedenfalls anders aus und wäre doch so wichtig. Immerhin ist es vielfach dokumentiert, dass alle Kinder davon profitieren – hinsichtlich ihrer klassischen Wissensbildung und ihrer Sozialkompetenzen. Solche Cafés ziehen die Kinder nicht nur aus den Räumen des Lernens heraus, sondern wirken sich auch negativ auf das Bild aus, das andere von ihnen haben.

Ich weiß, dass es solche Cafés, Caterings und andere Dienste auch in Deutschland gibt. Es fällt auf, wie viele Cafés von Förderschulen und Werkstätten angeboten werden; man könnte Hochhäuser aus den gebackenen Kuchen auftürmen. Einiges ist vielleicht gut, und manche Menschen, die sich dort engagieren haben Freude an ihrer Arbeit. Aber es kommt die Frage auf, ob alle behinderten Menschen denn ihre einzige Erfüllung in kuchenservierender Dienstleistung finden. Die Frage nach einer anderen Option ist schon da, nach einer anderen Tätigkeit. Es muss ja nicht immer Schwarzwälder Kirsch sein. Es könnte mehr herausgeholt werden, an Bildung, an Gemeinsamkeit. Und weniger an Speziellem, denn dies mündet in letzter Konsequenz fast immer  in ausgesonderten Räumen für die Betroffenen . Wie oft hörte ich, dass Schüler*innen an deutschen Förderschulen ausgiebig lernen, wie sie einen Tisch decken – was grundsätzlich nicht schlecht ist. Fatal wird es aber, wenn dafür weniger Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt wird.

„Behindertenfeindlichkeit ist in unserem Bildungssystem so tief verwurzelt, dass es schwer ist, sie zu erkennen, wenn man davon umgeben ist. Ganz nach der Devise: Den Wald vor lauter Bäumen nicht zu erkennen.“ 

Villegas.

Der Drang der Spezialitis führt also hinaus aus dem gemeinsamen Klassenraum. Ein Einwand, den ich immer wieder von Skeptiker*innen höre, lautet: Der Lehrstoff passe eben nicht für alle. Nun, zumindest kann er passend gemacht werden, anstatt die Schüler*innen in ein Café abzuschieben und sich von ihnen bedienen zu lassen.

Villegas hat darauf in einem anderen Beitrag so geantwortet:
„Ich denke, sie meinten damit, dass der Inhalt der Klassenstufe möglicherweise nicht geeignet sei, wenn es an  geeigneter Unterstützung fehlt. Ich denke, dass sogar einige Lehrkräfte in behinderungsspezifischen Klassenräumen dies verstehen. ich habe zum Beispiel an einer getrennten Sonderschulklasse für Schüler*innen mit „schweren und tiefgreifenden“ geistigen Behinderungen unterrichtet. Hätte ich da einfach ein Kapitel aus dem Lehrbuch für die fünfte Klasse vorgelesen und erwartet, dass alle es auf dieselbe Weise verstehen und behalten? Nein, ich habe meinen Unterricht differenziert – das ist das, was wir als Lehrer*innen tun sollen.“



Eine Antwort zu “Das Ding mit dem Speziellen”

  1. Danke für das eindrückliche Beispiel und für die Anregung Behinderung als solche auch zu benennen. Ich bin fest davon überzeugt, dass alle Kinder mit der für sie passenden Didaktik und Unterstüzung zusammen an allgemeinen Schulen lernen können. Das kann gelingen, wenn das teure Parallelsystem aus allgemeinen und Förderschulen irgendwann der Vergangenheit angehört.

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