Über die Floskel „Barrieren in den Köpfen senken!“

Foto auf dem "Zugang für Behinderte" steht.

Dieser Artikel erschien zuerst in Anne-Kathrin Gerstlauers Newsletter TextHacks. Dort schrieb ich über ein Thema, welches mir sehr am Herzen liegt: Die Nutzung von Floskeln und ihre negativen Implikationen für die Inklusionsbewegung.

Was fehlt, ist eine Rechtsgrundlage, auf deren Basis Teilhabe und Barrierefreiheit umgesetzt werden müssen. Stattdessen kann von Entscheidungstragenden noch immer auf leere Worthülsen zurückgegriffen werden, um Inklusion zu vertagen. Eine Aussage, die beispielhaft hierfür steht, ist „Wir müssen erst die Barrieren in den Köpfen senken!“. Diese Formulierung hat eine Reihe problematischer Implikationen, die ich ausführen möchte:

Sie verlagert die Verantwortung für Veränderungen auf die Zivilgesellschaft.

Indem gesenkte Barrieren in den Köpfen zur Voraussetzung für politische Aktion gemacht werden, liegt die Verantwortung vermeintlich bei der Bevölkerung. Erst wenn ihr kognitiver Rückstand aufgeholt sei, könne man die Inklusion voranbringen, die man so gerne umsetzen würde. Diese Zuständigkeit-Verlagerung ist sehr komfortabel, denn sie lässt offen, worin diese Barrieren in den Köpfen überhaupt bestehen, auf welche Art sie objektiv messbar wären und wann genug von ihnen gesenkt wurden, um ins Handeln kommen zu können. Diese Verantwortlichmachung ist eine Farce. Denn auch wenn die Bevölkerung geschlossen feststellen würde, in ihren Köpfen so weit zu sein, hätten sie nicht das Mandat, bedeutsame und weitreichende Schritte folgen zu lassen.

Die Behauptung, es gebe zu senkenden Barrieren gegenüber behinderten Menschen, suggeriert erst deren Existenz.

Stellen wir uns vor, jemand habe noch nie im Leben behinderte Menschen als negativ konnotiert wahrgenommen. Für diese Person schafft die Aussage erst eine Wahrheit, die zuvor nicht bestand: Nämlich, dass er*sie Vorbehalte gegenüber behinderten Menschen empfinden könnte, die es vielleicht dann zu beseitigen gilt. Je stärker diese Suggestionen sind, desto mehr werden die Behauptungen zu einer eigenen Überzeugung, die im Nachhinein schwer zurückverfolgt und korrigiert werden kann. Ähnlich ist es mit Menschen, die bereits negative Annahmen getroffen haben. Sie werden durch die Phrase glauben gemacht, dass ihre Haltung die der gesellschaftlichen Mehrheit abbilde. Ihre Zweifel werden dadurch erst legitimiert. Ich finde es anmaßend zu glauben, dass die meisten Menschen Barrieren in den Köpfen haben. Dieses Narrativ muss ein Ende finden. Denn bis wir eine Definition haben, worin diese Barrieren überhaupt bestehen, sowie ein objektives, wissenschaftliches Instrument, das sie messbar macht, ist ihre Existenz nichts mehr als eine unbewiesene These.

Sie impliziert keine Handlungskonsequenz

Die Floskel „Wir müssen die Barrieren in den Köpfen senken!“ lässt konkrete Vorschläge vermissen, wie eine Senkung dieser Barrieren gelingen könnte. Nach dem Motto: Diese fünf Dinge kann jede*r einzelne tun, damit wir XY erreichen. Stattdessen wird nur ein Missstand angeprangert und die Senkung der Barrieren in den Köpfen als vages Ziel instituiert. Gängig sind auch Aufklärungskampagnen, die darüber informieren, dass behinderte Personen auch vollwertige Menschen und wichtige Teile der Gesellschaft sind. Die Bevölkerung kann sich ertappt oder andächtig unter diesen Aussagen versammeln, geläutert nicken und klatschen, und muss sich dennoch nicht verpflichtet fühlen, etwas zu tun.

Die größte Problematik für behinderte Personen besteht nicht in den mentalen Barrieren ihrer Mitmenschen oder dass die Bevölkerung nicht genug über das Leben mit Behinderung aufgeklärt wurde, sondern in den real existierenden Barrieren ihrer Umwelt.
Als behinderter Mensch würde ich daher nicht als ersten Handlungsschritt ein Umdenken der Gesellschaft fordern, sondern damit beginnen, barrierefreie Teilhabemöglichkeiten umzusetzen. Denn wirkliches Umdenken entsteht nicht durch Plakate, Aufklärungskampagnen oder Spots, sondern nur durch Begegnung.
Die Senkung der Barrieren in den Köpfen ist also eine Konsequenz von Inklusion, und keine Voraussetzung dafür.

Was das für deine Texte bedeutet

Schreibende setzen den Ton und sind Sprachrohr für politische und gesellschaftliche Inhalte.
Daher bitte ich dich, auf folgende Dinge zu achten:

Informieren, Detektieren, Appellieren

Informiere dich über die Verwendung politischer, gesellschaftlicher Floskeln und den Schaden auf marginalisierte Gruppen. Insbesondere im Bereich von Behinderung gibt es eine lange Reihe an Formulierungen und Narrativen, die mehr Schaden anrichten, als dass sie von Nutzen sind. Floskeln sind darunter nur ein Teilaspekt.

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Bei Unsicherheiten: Leidmedien.de führt Begriffe aus dem Kontext Behinderung auf, definiert sie und ordnet sie ein. Das Team von Leidmedien bietet darüber hinaus Schulungen zu diskriminierungsfreier Sprache an.

Erkennen: Registriere Floskeln, wenn sie von anderen Menschen genutzt werden – insbesondere dann, wenn diese Personen oder Institutionen Entscheidungsgewalt haben. Stelle dir folgende Fragen:

  • Stimmt die Prämisse der Aussage?
    Welche Behauptungen (über marginalisierte Menschen) stecken in der Äußerung? Recherchiere, ob diese Annahmen stimmen und ob die Ausführungen überhaupt eine valide Grundlage haben.
  • Wird Verantwortung übernommen oder auf andere Menschengruppen / Umstände / Personen abgewälzt? Haben diese Instanzen überhaupt das Mandat, etwas zu verändern? Wer hat wirklich die Macht?
  • Werden Handlungsschritte eröffnet und wenn ja, wie konkret sind diese? Kann man überhaupt feststellen, ob wirkliche Handlungen aus den Versprechungen hervorgegangen sind? Gibt es ein definiertes und messbares Ziel?

Manchmal maskieren sich Floskeln auch als Entschuldigungen oder Beteuerungen, das Anliegen „mit Ernsthaftigkeit zu verfolgen und intern prüfen zu lassen“. Doch letztlich folgen daraus selten wirkliche Konsequenzen. Wenn keine nachvollziehbaren Schritte benannt werden oder folgen, ist dies nur ein einfaches sprachliches Werkzeug.

Appellieren: Wenn du eine solche Floskel aufspürst, fordere konkrete Handlungsschritte ein. Verlange bei Bedarf klare und spezifische Angaben zu den beabsichtigten Maßnahmen. Hake regelmäßig nach und baue Druck auf, um Untätigkeit zu erschweren. Und wenn du Aussagen entdeckst, die problematisch und schädlich sind, schlage präzisere, diskriminierungsfreie Begriffe vor.



2 Antworten zu “Über die Floskel „Barrieren in den Köpfen senken!“”

  1. Lieber Raul, dein Engagement in allen Ehren, aber treibe es nicht so weit wie das Genderlexikon, in dem Wörter zu finden sind, bei denen man nur den Kopf schütteln kann (Kolonialisierung der deutschen Sprache durch Amerikanismen eingeschlossen). Wenn „etwas schief geht“, ist es das normale Leben; das hat nichts mit Ableismus zu tun. Auch „taubstellen“ hat bereits im Wort das Schauspiel, das jemand abzieht; mit Behinderung hat das nichts zu tun. Dein „Behindertenwerkstätten sind moderne Sklavenarbeit“ und die Diskussion darüber mit meinen Studenten offenbarte, dass diese keine Ahnung hatten, was Sklaven sind. Und du offenbar auch nicht. Ich weiß, heute muss alles reißerisch sein, aber damit bietest du den Reaktionären und ewig Gestrigen, den Inklusionsgegnern und Ignoranten unnütz Munition. Wenn du Krieg willst, nur zu!

  2. Lieber Raul,

    ich vermute, dass du hier primär an körperbehinderte Menschen denkst. Durch deine Pauschalisierung führst du die Diskussion jedoch aus meiner Sicht in eine völlig falsche Richtung:

    „Die größte Problematik für behinderte Personen besteht nicht in den mentalen Barrieren ihrer Mitmenschen oder dass die Bevölkerung nicht genug über das Leben mit Behinderung aufgeklärt wurde, sondern in den real existierenden Barrieren ihrer Umwelt.“

    Doch, genau diese mentalen Barrieren („Die kriegen doch eh nichts davon mit.“) sind das größte Problem für schwerst mehrfachbehinderte Menschen wie meine Söhne aber auch z.B. für Menschen mit Down-Syndrom. Behinderte Kinder werden fast nie von nichtbehinderten Kindern zur Geburtstagsparty eingeladen, und zwar nicht weil es keine Rampe gibt, usw.

    Wenn du schon eine aus meiner Sicht völlig übertriebene Präzision bei der Wortwahl anderer forderst, bitte ich dich dringend, diesem Anspruch auch bei deinen eigenen Texten gerecht zu werden. Allzu oft finde ich meine Söhne nicht wieder in dem, was deiner Meinung nach „behinderte Personen“ so brauchen.

    Und ob es aus Sicht des gemeinsamen Ziels des lebendigen Miteinanders von Menschen mit und ohne Behinderung in einer wirklich inklusiven Gesellschaft strategisch clever ist, die Forderung nach baulicher Barrierefreiheit voran zu stellen, bezweifle ich sehr stark.

    Liebe Grüße,
    Axel

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