Das Verfassungsgericht hat der Regierung endlich eine Klatsche erteilt. Wer einen Vormund hat, darf nicht von Wahlen ausgeschlossen werden. Trotzdem sieht es so aus, als würde die Regierung immer noch auf Zeit spielen.
Das Bundesverfassungsgericht liest dem Bundestag die Leviten: Wer eine Behinderung hat und unter vormundschaftlicher Betreuung steht, darf deswegen nicht automatisch vom Wahlrecht ausgeschlossen werden. Doch damit ist der Kampf um ein eigentlich selbstverständliches Menschenrecht noch immer nicht gewonnen. Um die Gründe dafür zu verstehen, müssen wir zunächst einen Blick auf unsere Nachbarn und die eigene Vergangenheit werfen – und auf eine Regierungskoalition, in deren Version des Grundgesetzes scheinbar einige Seiten fehlen.
Beim Brexit-Referendum twitterte die Schauspielerin Elizabeth Hurley: „Wenn ein Brexit bedeutet, dass wir jetzt wieder richtige Glühbirnen verwenden dürfen, dann bin ich natürlich für einen Brexit.“ Langsam dämmert den Briten, dass es um mehr als um Glühbirnen geht, die Grundlage von Hurleys Votum erscheint etwas bizarr; vielleicht hätte eine Betreuung ihr geholfen, zum Beispiel das Vorlesen eines Standardwerks zur Geschichte Europas. Auf die Idee, der Schauspielerin nun das Wahlrecht abzusprechen, würde indes niemand kommen. Warum auch?
In Großbritannien nehmen sie die Demokratie recht ernst. Wahlrechtsausschlüsse gibt es kaum. Und wie in Ländern wie Österreich, den Niederlanden, Italien, Schweden und Spanien wird die Frage nicht gestellt: Darf die oder der das Kreuz auf den Stimmzettel setzen? Schließlich ist das Wahlrecht ein Menschenrecht. Menschen mit Behinderung sind in jenen Staaten nicht vom Wahlrecht ausgeschlossen, nur weil sie eine Betreuung haben. Warum auch?
Unser Wahlrecht: ein Schlamassel voller Widersprüche
In Deutschland aber macht die Politik behinderten Menschen einen Strich durch diese Rechnung. Sie schließt viele von ihnen einfach aus. Rund 85.000 Menschen durften bei der Bundestagswahl 2013 nicht wählen; man sprach ihnen die Fähigkeit dazu ab. Pauschal. Bei diesen Menschen machte sich also die Autorität plötzlich sehr viele Gedanken, auf welcher Grundlage sie wählen würden. Dies führt zu komischen Situationen, in denen etwa ein junger Mann mit einer Lernbehinderung und Sprachproblemen, der sich für Politik interessiert und sich mit seinem Betreuer intensiv damit beschäftigt und diskutiert, nicht wählen darf. Denn in Deutschland herrscht ein formelles Kriterium: Wer eine Betreuung hat, ist raus. Weil es ihr oder ihm schlicht nicht zugetraut wird.
Noch komischer erscheint dieser Hammerschlag beim Blick auf Leute, die für sich frühzeitig eine Vorsorgevollmacht bestimmt haben. Dies betrifft zum Beispiel an Demenz Erkrankte. Die machen ihr Kreuz immer noch, oder jemand für sie. Die Tageszeitung „taz“ berichtete unlängst, dass aus Caritas-Heimen gehäuft Wahlzettel mit CDU-Stimmen und aus Heimen der Arbeiterwohlfahrt welche mit SPD-Stimmen kämen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Diesen Schlamassel voller Widersprüchlichkeiten beim Hü und Hott des Wahlrechts hat nun endlich das Bundesverfassungsgericht als solchen erkannt. Seit 2013 war eine Klage in Karlsruhe anhängig, die obersten Richterinnen und Richter nahmen sich also viel Zeit. Vielleicht warteten sie auch, ob die Politik nun selbst auf die Idee komme, diese Menschenrechtsverletzung zu streichen.
Kennt unsere Regierung das Grundgesetz nicht?
Doch das Warten war vergebens. Noch vor Kurzem mauerte die Fraktion von CDU/CSU im Bundestag, man wolle einen eigenen Gesetzentwurf abwarten; im Grunde warten wir darauf seit Jahrzehnten. Die SPD lehnte eine Vorlage von Linken und Grünen zur Streichung dieses Wahlrechtsausschlusses ab, aus Gründen des Koalitionsfriedens, obwohl im Koalitionsvertrag die Aufhebung des Ausschlusses vereinbart war.
Deswegen hat nun Karlsruhe gesprochen: Die bisherige Praxis verstoße gegen den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl in Artikel 38, Absatz 1, Satz 1 im Grundgesetz sowie gegen das Benachteiligungsverbot nach Artikel 3, Absatz 3, Satz 2 im Grundgesetz. Fehlten diese Seiten in den Büchern der Regierungsfraktionen?
Es ist leicht, über den Kopf anderer hinweg zu urteilen. So wie es Tradition in Deutschland ist, nicht mit Betroffenen zu reden, höchstens mit jenen, die mit Betroffenen zu tun haben. Die Beschwerden von Menschen mit Behinderung, von Aktivisten und Gruppierungen, wurden bisher ignoriert oder kopftätschelnd gelobt, aber nicht ernst genommen.
Pauschales Misstrauen gegen Minderheiten
Und die Missachtung geht weiter. In der Union grübelt man nun über sogenannte Wahlfähigkeitsprüfungen nach. Wie die aussehen sollten, darauf bin ich gespannt. Wird das Grundgesetz abgefragt? Und werden dabei die Artikel 3 und 38 ausgelassen? Mich erinnert solch ein Test an die Einbürgerungstests; auch da herrscht ein grundsätzlich waberndes Misstrauen gegen eine andere Minderheit im Land. Die Union sollte also schleunigst von diesen Gedanken ablassen. Ein Wähler*innen-TÜV würde rasch peinlich werden, ein Fall fürs Satiremagazin „Titanic“, welches dazu sicherlich eine ganze Serie bringen würde. Wie vielen Menschen ohne Behinderung würde eigentlich das Wahlrecht plötzlich aberkannt werden, unterzöge man sie einem Test?
Die Klatsche aus Karlsruhe muss nun zu einem klaren Schlussstrich führen. Denn noch ist der Urteilsspruch nichts wert. Bund, Länder und Kommunen müssen erst einmal ihr Wahlrecht entsprechend ändern.
Das ginge einfach: Schlicht den Wahlrechtsausschluss streichen und die Wähler*innenregister aktualisieren. Reagiert die Politik gar nicht, würde genau dies geschehen. Dann würde das Bundesverfassungsgericht die Wahlrechtsausschlüsse aufheben. Doch bis dahin wäre es ein langer Weg. Bei der Europawahl im Mai müssen die Betroffenen deshalb wohl weiterhin draußen bleiben – ein unhaltbarer Zustand.
Das Urteil lässt leider immer noch zu viele Schlupflöcher
So ist nun zu befürchten, dass die Politik ihre Mühlen der Verkomplizierung anwirft, Eventualitäten diskutiert, sich einen Kopf um dieses und jenes macht – kurz: auf Zeit spielt. Schließlich urteilte das Bundesverfassungsgericht auch, ein Ausschluss vom Wahlrecht könne gerechtfertigt sein, wenn man nicht ausreichend an der Kommunikation zwischen Volk und Staatsorganen teilnehmen kann. Abgesehen davon, dass „Teilnahme“ das über allem thronende Stichwort ist und einfach gewährt werden sollte, ergeben sich durch diese richterliche Einzäunung juristische Nebenschauplätze: Ab wann „kann“ ein Mensch nicht mehr teilnehmen? Betrifft dies nur im Koma Liegende? Oder muss ein monatliches Kontingent an „Tagesschau“-Konsum nachgewiesen werden?
Ferner beschrieb das Bundesverfassungsgericht, die Regelungen im Bundeswahlgesetz genügten nicht den „Anforderungen an gesetzliche Typisierungen“, weil der Kreis der Betroffenen „ohne hinreichenden sachlichen Grund in gleichheitswidriger Weise“ bestimmt werde. Wird nun an sachlichen Gründen herumformuliert, ist das ein Einfallstor für eine Verwässerung des Wahlrechts. Die Gefahr ist groß, dass sich für lange Zeit nichts ändert und dann nur ein paar Schrauben gedreht werden.
Daher muss jetzt Druck her. Die Zivilgesellschaft sollte sich endlich solidarisch mit Menschen erklären, denen ein Menschenrecht mitten in Deutschland verwehrt wird. Peinlich war dies lange genug.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei XING Klartext.
2 Antworten zu “Urteil zum Wahlrechtsausschluss: Schluss mit Hinhaltetaktik!”
[…] Urteil zum Wahlrechtsausschluss: Schluss mit Hinhaltetaktik! […]
[…] erlebt haben. So müssen Frauen heute selbstverständlich nicht mehr ums Wahlrecht kämpfen (behinderte Menschen bis vor kurzem durchaus!) – und fangen nicht bei Null an.Viele behinderte Menschen in meinem Alter erlebten, immer […]