Beim Impfen gegen Corona werden Menschen mit Behinderungen übergangen. Das hier wird jetzt lebenswichtig: Wer sich selbst bemüht und laut wird, kriegt vielleicht die Spritze. Wie dieser unwürdige Kampf funktioniert, steht hier.
Es war einmal ein Minister, der fiel über sein eigenes Wort. „Die Schwächsten zuerst schützen“, gab Bundesgesundheitsminister Jens Spahn aus, als er im vergangenen Dezember seine Impfpläne gegen Covid-19 kundtat. Was er sagte, ist nicht das Papier wert, auf dem es steht.
Zu den Schwächsten gehören Tausende von Menschen, die in selbstorganisierter Pflege leben. Sie tun dies zum Beispiel mit einer Behinderung, haben Assistenzen oder werden von Angehörigen unterstützt. Dummerweise macht diese Verfasstheit sie verwundbar für dieses verdammte Coronavirus: Es befällt die Lunge und andere Organe und ist daher bei Menschen mit Behinderung oft tödlicher. Ich persönlich bezeichne mich ungern als „schwach“ und „vulnerabel“, aber Spahn muss in mir einen fliegenden Superman sehen – denn in seinen Impfplänen, also diesem Dings mit den Schwächsten, komme ich nur unter ferner liefen vor, präziser: in keiner Prioritätsgruppe. Ich fürchte, der Minister verschätzt sich ein wenig.
Was gerade in Deutschland passiert, ist ein Aufruf zum Sozialdarwinismus. Jeder ist sich selbst der Nächste, statt Solidarität beim Impfen ist es den „Vulnerablen“ selbst überlassen, wie laut sie für ihr eigenes Überleben auf die Trommel schlagen – um den Impfstoff müssen sie sich jetzt selbst bemühen. Es ist ein makabrer Contest. Eine Reality-Show: Ich bin ein Behinderter, gebt mir die Spritze! Und wer von den Impfkandidat*innen nicht erhört wird, wird rausgewählt.
Denn was ist geschehen? Spahns Impffahrplan hat ursprünglich festgelegt, dass zuerst generell Menschen über 80 Jahren geimpft werden. Erst in der dritten „Kategorie“ erscheinen Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen. Das betrifft also nicht nur Menschen mit einer „klassischen“ Behinderung, sondern auch welche beispielsweise mit einem „neuen“ Tumor. Die ständige Impfkommission (Stiko) hat sie alle nicht „nach oben“ gerückt, weil sie für ihre Bewertung strikt auf wissenschaftliche Studien zur Sterblichkeit einzelner Gruppen zurückgriff; und die gab es – Überraschung – zum Beispiel für Menschen mit Behinderungen oder seltenen Erkrankungen nicht.
So weit, so schlecht. Doch nun bricht das Chaos aus. Die Stiko hat ihre Empfehlungen vor zwei Wochen aktualisiert: „Darüber hinaus gibt es Situationen, in denen nach individueller Indikationsstellung eine Impfung empfohlen sein kann. Es obliegt den für die Umsetzung der Impfung Verantwortlichen, einzelne Personen oder Gruppen, die nicht explizit genannt sind, in die Priorisierungskategorien einzuordnen.“
Das heißt: Begib dich schnell zu einer Ärztin oder einem Arzt und dann direkt auf Los. Jedenfalls in diese Richtung. Ausgang offen. Diese stellen auf Grund Deiner Verfasstheit ein Attest samt Diagnose aus: „Hiermit bestätigen wir, dass der/die o.g. Patient/in wegen der aufgeführten Erkrankungen immunkompromittiert ist. Im Fall einer SARS-CoV2-Infektion besteht eine erhöhte Gefahr für einen schweren Verlauf.“
Dies ist die erste Etappe des Stafettenlaufs. Denn mit diesem Attest geht Du zu einem Impfzentrum. Dort händigst Du das Papier aus und hoffst auf den Daumen rauf. Da es eine Ermessensentscheidung vor Ort ist, kann der Daumen sich auch senken; wir wissen ja: Der Mensch ist ein subjektives Wesen. Falls du abgewiesen wirst, und mehrere Erfahrungsberichte erzählen mal von Erfolg, mal von Misserfolg, lohnt es sich, jemanden in der Lokalpolitik zu kennen, der sich für dich einsetzt.
Falls auch dieser Versuch dich der lebensbewahrenden Spritze nicht näher bringt, wende dich an Spahn. Der sollte wissen, was die Folgen seiner Politik sind. Man könnte ihn daran erinnern, wie es in Großbritannien aussieht und was uns durch die Mutationen droht. Man könnte ihn an Dänemark und Österreich verweisen, wo Leute wie du in der der ersten Impfgruppe sind. Und ihm einen Vorschlag zur Güte unterbreiten: Die Krankenkassen wissen alles Nötige über Dich und uns. Er könnte auf die beiden höchsten Pflegegrade zurückgreifen, welche gute Indikatoren für die Schwere der Vorerkrankungen und das Infektionsrisiko abbilden.
Falls Spahn nichts für Dich tun kann, schreibe an die gesundheitspolitischen Sprecher der im Bundestag vertretenen Parteien. Immerhin hat das Parlament dem Bundesminister freie Hand dafür gegeben, dass du übersehen wirst. Schlage ihnen vor, einmal selbst in Dauer-Quarantäne zu gehen und sich vorzustellen: Wie es ist, in den wichtigen Coronafragen systematisch vergessen und überhört zu werden.
Wir leben ja schließlich in einer repräsentativen Demokratie. Um ihr die Sicht der Übergangenen zu schildern, kannst Du auch eine Petition unterschreiben, zum Beispiel diese hier.
Auf AbilityWatch.org gibt es weitere Infos zum Thema:
3 Antworten zu “In 5 Schritten zur Impfung”
Erst #RISG, mit dem man Raul & Co. ins Heim abschieben kann, dann #IPReG, mit dem das auch nicht so richtig verhindert wird und nun der Priorisierungsfauxpas – Ein Spahn, der „wärst Du doch ins Heim gegangen“ dabei denkt.
Guten Abend, besten Dank Raul Krauthausen für den Beitrag. Weiß Jens Spahn, wie es in der Provinz zugeht? M. 81, gerade in einer Chemotherapie, bekam vor wenigen Tagen einen Brief, in dem alles drin stand, ab 25.01. anrufen, um sich einen Termin zum Impfen geben zu lassen. Ok. Da M. es nicht gewohnt ist, dass über mehrere Telefonversuche nur immer ein Band dran ist, M. stammt noch aus der Zeit, als richtige Menschen den Hörer abnahmen, wird sie nervös, schaltet C. und ihre Freunde ein, am 26.01. klappt es, es gibt nach stundenlanger Telefoniererei mehrerer Helfer zwei Impftermine, einen Anfang März, einen Ende.
Das Impfzentrum, es gibt nur eins im Kreis, ist 30 km entfernt, M. hat Glück, wie wird sich fahren lassen können von C. oder sie leistet sich ein Taxi. Das ist teuer, aber was willste machen?
Wenn M. sich kein Taxi leisten könnte und keinen fände, der sie fährt, müsste sie 1,5 km ins Dorf laufen, von da einen Bus zum Bahnhof Coesfeld nehmen, von dort einen Zug bis Dülmen, der Bahnhof Dülmen ist derzeit eine Baustelle – es könnte Unkundige sehr irritieren, sich dort zurecht zu finden, meint U. die da immer zur Arbeit hin fährt.
Vom Bahnhof Dülmen gibt es dann einen Shuttelservice zum Impfzentrum.
Vielleicht trifft M. ihren früheren Hausarzt, er ist auch schon um die 80 und so freundlich, gegen die Impfmisere doch noch mal anzutreten, mit aufgezogener Spritze in der Hand, im Impfzentrum Dülmen.
Wer sich bis zur Fahrt ins Impfzentrum nichts weg geholt hat, der kriegt das eventuell noch kurz vor Zielerreichung hin.
Es ist wichtig, dass der Bundesgesundheitsminister die Geschichten vorgelegt kriegt, die von Raul Krauthausen und die von meiner Mutter und all die anderen – manchmal habe ich den Eindruck, der kriegt das alles gar nicht mehr mit.
Einen schönen Abend.
Die Stiko hat ihre Empfehlungen vor zwei Wochen aktualisiert: „Darüber hinaus gibt es Situationen, in denen nach individueller Indikationsstellung eine Impfung empfohlen sein kann. Es obliegt den für die Umsetzung der Impfung Verantwortlichen, einzelne Personen oder Gruppen, die nicht explizit genannt sind, in die Priorisierungskategorien einzuordnen.“
Ich bin mir nicht sicher, ob die Empfehlung der Stiko für igendjemanden bindend ist. Mir erscheint es im Augenblick noch vollkommen willkürlich wer was wo entscheidet. Es wäre schön, wenn man die gesicherten Informationen- mit Quellen- und Kontakt-Angaben- zusammentragen würde und mutmaßlig Anspruchsberechtigten zur Verfügung stellen würde.
Vielen Dank schon mal für deine Hilfe!