Der Mythos der Superhelden

Nach einer Lesung kommen oft Menschen zu mir, sie erzählen mir von ihren Problemen, fragen um Rat, ab und an bedanken sie sich für meine indirekte Hilfe. Kürzlich traute sich eine junge Studentin das Mikro in die Hand zu nehmen und einen selbst verfassten Text vorzutragen. “Sie schreiben am Ende Ihres Buches, dass Sie Ihren Autismus nicht abstellen würden, wenn Sie es könnten. Ich verstehe das nicht, ich würde es sofort tun”, sagte sie sinngemäß. Ich saß einige Sekunden da, nahm ihre Worte in mich auf und versuchte etwas Gehaltvolles zu erwidern, etwas Produktives, Hilfreiches, Aufmunterndes, aber mir wollte nichts einfallen. “Manchmal ist es scheiße”, hörte ich mich sagen und es ist vollkommen wahr. Es ist, abhängig von der aktuellen Lebenssituation, sogar ziemlich oft ziemlich scheiße. Warum schrieb ich diese Worte dann vor knapp fünf Jahren? Was bewegte mich dazu ein ganzes Kapitel darüber zu verfassen, dass ich sowohl meinen Autismus als auch mein ADHS nicht heilen könnte, selbst wenn es möglich wäre? Ich dachte noch lange darüber nach, den ganzen Abend und auch noch am Tag danach, als ich im Zug nach Berlin das rheinhessische Tafel- und Hügelland am Fenster vorbeiziehen sah. Warum in Gottes Namen sollte ich nicht einfach so sein wollen wie alle anderen. So wie meine Freunde, denen das Navigieren von Berufs- und Privatleben so leicht zu fallen scheint. Sie haben schier endlose Energie für Freizeitaktivitäten, auch nach einem 9-Stunden-Tag im Büro. Oder so wie meine Kollegen, die intuitiv wissen, wie man sich untereinander verhält, was man sagen kann, was nicht. Es sieht alles so einfach aus, nahezu schwerelos. Die Menschen um mich herum gleiten durch scheinbar vollends barrierefreie Leben und holpern nicht über ein baufälliges Kopfsteinpflaster wie ich. Aber eigentlich stimmt das nicht. Eine gute Freundin war viele Jahre in Therapie, ein kerngesunder Exfreund entwickelte eine Depression and saß jahrelang lethargisch auf dem Sofa. Ein Angehöriger machte gleich mehrere schlimme Scheidungen durch und ein ehemaliger Kollege verriet mir, dass er seit seiner Trennung vor einigen Monaten jeden Abend weint. Neurologisch gänzlich ordinäre Personen berichten mir von tiefen Seelenschmerzen, Ängsten, Mobbing, Existenzsorgen und Zusammenbrüchen. Ich glaube, gesund und normal gibt es überhaupt nicht, wenigstens nicht oft. Neurotypische Menschen sehen nur aus sicherer Entfernung aus wie Superhelden. 

Trotzdem hat man es mit einer Behinderung furchtbar schwer, oft schwerer als jene, die keine Einschränkungen haben. Aber kommen diese Probleme aus mir oder werden sie von meinem Umfeld beeinflusst? Wenn ich alleine bin, vom Produktivitätsdruck der Gesellschaft befreit, wenn ich unter Freunden bin, die meine Eigenarten nicht als Makel sehen und mich so nehmen, wie ich bin, dann fühle ich mich überhaupt nicht behindert. Als “nicht genug” empfinde ich mich bloß, wenn meine Umwelt auf mich einwirkt. Wenn es in der Kneipe zu laut ist, wenn ich vom Einkaufen schreckliche Kopfschmerzen bekomme, wenn mich der soziale Druck zerreibt und gleichsam in jede Himmelsrichtung zieht. 

Kann ich das ändern? Nun, nicht gänzlich. Ich lebe in einer Gesellschaft die nun einmal ist, wie sie ist und bis zu einem gewissen Grad ist es unumgänglich mich anzupassen. Für mein allgemeines Wohlbefinden war es ungemein zuträglich mir genau die Aspekte herauszusuchen, die keine Kompromisse erfordern und mir in diesem Korsett so viele Freiheiten wie möglich zu erlauben. Vielleicht lernen wir irgendwann, und auf Augenhöhe zu begegnen, Menschen um Hilfe zu bitten, ihnen zu helfen, wenn wir können und unsere Makel und Stärken losgelöst von Labeln zu begreifen. Aber bis dahin wird es wohl noch eine ganze Weile dauern.



3 Antworten zu “Der Mythos der Superhelden”

  1. Guten Morgen Raul Krauthausen, herzlichen Dank für den Beitrag. Ich finde auch, dass Stärken und Schwächen möglichst losgelöst von Labeln gesehen werden sollten, glaube aber auch, dass es ein weiter Weg ist, bis das klappt. Mich fragt niemals jemand, ob ich meine Macke lieber nicht hätte, hat mich noch nie jemand gefragt, ich weiß gar nicht warum, vielleicht weil mancher denkt, ich wäre aus Trotz so, also dass ich schon sowieso selbst gewählt hätte so zu sein, wie ich bin.
    Selbst gewählt habe ich es nicht, ich kenne die traurige Sehnsucht des „kleinen Herrn Friedemann“ aus dem berührenden Werk Thomas Manns sehr gut, wann immer ich mich nach einem Partner sehnte, geriet ich an die gläserne Decke meiner sozialen Schwierigkeiten und blieb einsam zurück – ich würde lügen, hätte ich mir nicht jedes Mal gewünscht, es so hinzukriegen wie die anderen, einen Partner als Krönung meines Lebens präsentieren zu können – wie die anderen Frauen, zum Geburtstag rote Rosen, im Theater neben dem schicken Partner – ein süßes Kind – meine Vorstellungen waren „labelhaft“, die „Tofiffeewerbung“ prägte mich, die „Waltons“ und „eine amerikanische Familie“, in der Schule die Familie Potter aus meinem Englischbuch, ich verliebte mich unsterblich in die Englische Sprache mit den Potters. Heute ist das nicht mehr so eine Sehnsucht, die realen Familien, die ich durch mein und ihr Leben begleite, sind doch nicht wie bei Tofiffee, nicht wie die Waltons, nicht wie die Potters – aber wenn sie doch so wären – wäre ich immer noch scharf drauf.
    Label können so reizvoll sein! Ich bin da selbst auch irgendwie am Drankleben, ob ich in diesem Leben noch davon weg komme? Ich glaube, ich schaffe es auch nicht und vertiefe mich weiter in die Literatur, die Musik, die Reisen, die mir helfen die Freiheit hinter dem Klebstoff dieser dussligen Label zu finden.
    Besten Dank und einen schönen Dienstag.

  2. Warum sprechen Sie Raul Krauthausen als „Raul Krautheim“ an, Maria Fraß? Da ist meines Erachtens jetzt eine Entschuldigung fällig.
    Den Text verfasst hat Denise Linke, das hatte ich auch nicht gleich bemerkt, ich möchte Denise Linke noch einmal für den schönen Beitrag danken, und entschuldige mich, erst jetzt zu tun. Raul Krauthausen hatte mich auf den Beitrag aufmerksam gemacht.
    Tatsächlich scheint es so zu sein, dass auch Namen hinderlich sein können, das ist dann der Fall, wenn Rassisten und Antisemiten meinen, Menschen nach ihrem Namen definieren zu können.
    Ein Label ist aber zu einer Sache zugehörig, z. b. zu einem Heldenmythos, ein Mythos ist eine Sache letztlich, ein Bild, eine Geschichte, kein echter Mensch.
    Wenn ich meine „innere Boudicca“ suchte – was ich nicht tue – dann suchte ich nicht „Boudicca“ als Menschen, sondern als Mythos.
    Wie könnte ich aber das Menschliche innen finden, wenn ich nach Sachen suche? Für mich selbst ist klar, dass ich viele Sachen sehr liebe, sie sind gut auch für „innen“ aber finden brauche ich mein „Inneres“ nicht, es ist menschlich, zu kompliziert für jede Heldengeschichte, und innen ist auch innen.

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