Was kommt nach der Klopapier-Apokalypse? Ein Systemunrelevanter fragt sich durch

Wie lebt man eigentlich als behinderter Mensch seinen Alltag in diesen gekrönten Zeiten? Was passiert, wenn man als Eltern mit Behinderung nicht zur systemrelevanten Berufsgruppe gehört und in den letzten Monaten alleine ohne Betreuungsmöglichkeit – auch nicht von den Großeltern – im Homeoffice mit einem schulpflichtigen Kind ausharren musste? Darf man Homeoffice mit Kind als doppelte Strafe empfinden? Wie ist es, wenn einem auch noch die Elternassistenz für die Nachmittage aufgrund der Ansteckungsgefahr sofort wegbricht? Weshalb konnten wir eine Weile nicht mehr wie bisher in unserem barrierefrei erreichbaren Supermarkt um die Ecke eine Packung Klopapier und ein Kilo Mehl einkaufen gehen? Warum werden wir als rollstuhlfahrende Menschen teilweise gezwungen nun einen Einkaufswagen schieben zu müssen? Warum die Assistenzpersonen von behinderten Menschen nur deshalb keine Kinderbetreuung erhalten haben, weil diese nicht bei einem Pflegedienst, sondern beim behinderten Menschen im Arbeitgebermodell angestellt sind? All diese Fragen konnte ich vor zwei Monaten nur mit „Ziemlich ratlos und unfair“ beantworten.

Diese in den letzten Wochen viel beschworene Systemrelevanz von einzelnen Berufsgruppen, scheint eine Zäsur in unsere bisherige Gemeinschaft zu schlagen. So erhielten an unserer Schule ganze 20 Schülerinnen und Schülern eine Notbetreuung. So wenig, fragt man sich da, wenn doch normalerweise 650 Schüler*innen auf dieser Schule gemeinsam lernen. Im benachbarten Kinderladen muss jetzt ein Kind alleine mit einer Erzieherin spielen, da nur ein von 15 Elternpaaren systemrelevant ist. Verrückt, oder? Jede E-Mail, die man von Berufswegen gerade schreibt erschien einem die letzten Wochen irgendwie obsolet, obwohl das vor drei Monaten noch alles so wichtig erschien.

Wenn die Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr systemrelevant zu sein scheint, wäre es dann nicht höchste Zeit endlich das bedingungslose Grundeinkommen von der Politik einzuführen? Würde es jetzt vielleicht eine Menge an Sorgen und Probleme mildern oder gar lösen? Genug Geld scheint ja vorhanden und muss jetzt eh ausgegeben werden, denn viele Menschen werden jetzt durch Kurzarbeit und unbezahlte Betreuung und Beschulung der Kinder erheblich weniger Lohn erhalten und gezwungen sein vom Staat Transferleistungen beantragen zu müssen.

Viele von uns, egal ob mit oder ohne Einschränkung lebend, sind zwar per Definition anscheinend nicht mehr relevant für das System – ein System ist ja in sich geschlossen und grenzt damit aus. Aber dies können wir als Chance betrachten und begreifen. Man könnte auch einfach stolz darauf sein zurzeit nicht systemrelevant zu sein: Denn wir sind viel mehr – wir sind alle gesellschaftsrelevant! Wir kaufen Dinge, verbrauchen Strom und Wasser und müssen im Krankheitsfall behandelt werden, um der Systemrelevanz auch eine Daseinsberechtigung geben zu können. Nur muss die Gesellschaft die politischen Entscheidungsprozesse fair gestalten und eine Chancengleichheit herstellen. Aber glücklicherweise haben wir jetzt wieder genug Klopapier.



2 Antworten zu “Was kommt nach der Klopapier-Apokalypse? Ein Systemunrelevanter fragt sich durch”

  1. Vielen Dank Herr Ahrens für diesen brilliant geschrieben Artikel, der uns und hoffentlich auch den Nicht-Begreifen – Wollenden, weil unbequem und nicht in ihrem Cosmos, vielleicht verständlich macht worum es geht.
    Klüger und auf den Punkt argumentativ, ausgewogen geht’s nicht!!!

  2. guten Morgen, besten Dank Raul Krauthausen, für den Hinweis, besten Dank Alexander Ahrens für den Beitrag.
    Am Wochenende erlebte ich es zum ersten Mal, dass ein Mensch, den ich sehr selten mal kontaktiere, ein älterer Mensch, Risikogruppe – ich wollte ein Fundstück vorbei bringen, einen Stein – nichts vom Coronavirus schrieb rund um den Wunsch, den Stein sehen zu wollen. Ich legte ihn vor dem Haus ab, ebenfalls ohne Coronakrisentext.
    Ich freue mich, dass Sie für das Grundeinkommen plädieren, aber auch das ginge ja ohne Coronakrise genauso gut. Das Grundeinkommen als Thema sollte nicht zum Streitbegriff von „Systemrelevanz“, „Gesellschaftsrelevanz“ benutzt werden, sondern eher als Alternative für Hartz IV, welches ja auch abgeschafft werden soll, es betrifft thematisch den Einzelnen, das Indivuum, wenn es betroffen wird. Ich wünsche mir dazu, zum Grundeinkommen, eine transparente Debatte, ich glaube nicht einmal , dass ein Grundeinkommen im Parlament deshalb keine Mehrheit erlangen könnte, weil es teuer wäre – es müssten aber sehr viele um ihre Arbeitsplätze fürchten: Mitarbeiter in Arbeitsagenturen, Bildungseinrichtungen, medizinisches Personal (es würden möglicherweise weniger Diagnosen nachgefragt oder angeboten), die Regierungsparteien haben kein Vokabular für ein Grundeinkommen, die einen pflegen den Imagebegriff „Arbeiterpartei“, die anderen „Leistung“, zu beidem passt das Grundeinkommen nicht, die Gesellschaft schätze ich derzeit, nicht mehrheitlich, aber minderheitlich sperrend ein zum Gleichheitsgedanken jedes Menschen, sie würden schon morgen eine kontaktreiche Demo ins Leben rufen, egal zu welchem Thema, Hauptsache gegen „oben“.
    Das einzige, was ich machen kann zur Zeit, ist schreiben, gegen Rechtsextremismus ist es mir am wichtigsten, mich nicht verrückt machen lassen und zur gegebenen Zeit mein Kreuzchen an die richtige Stelle setzen.
    Und das mache ich auch so.
    Besten Dank und einen schönen Dienstag.

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