Die kleine Anfrage an die Bundesregierung von einer Partei, die im Bundestag sitzt, bezüglich behinderter Menschen im Allgemeinen und mit Migrationshintergrund im Besonderen, führte zu einem allgemeinen entsetzten Aufschrei. Aber was passiert, wenn die Empörung nachlässt?
Behinderte Säuglinge “verhindern”
Was vor kurzem moralisch noch undenkbar war, wird mittlerweile wieder laut ausgesprochen. Und sogar in Form einer kleinen Anfrage an die Bundesregierung formuliert. Eine Partei meinte, man könne Zusammenhänge zwischen Inzest in Familien mit Migrationshintergrund und der Geburt schwerbehinderter Säuglinge herstellen – und wünschte sich hier Zahlen von der Bundesregierung. Des weiteren wurde ausführlich nach den Ursachen für Schwerbehinderung gefragt. Dies in einer Weise, die nur einen Schluss zulässt: Man möchte das “Entstehen” von schwerbehinderten Menschen verhindern.
Denn laut Anfrage werden diese behinderten Säuglinge nicht wie menschliche Wesen geboren, sondern entstehen. Wie Dinge.
Eine Abgeordnete jener Partei kommentierte die kleine Anfrage insofern, dass es ihnen um Prävention ginge – und in welcher Sprache diese stattfinden müsse. Klare Worte.
“Wachsam sein für Menschlichkeit”
Der Aufschrei der Empörung in der Bevölkerung, den Parteien, Verbänden und Medien war nicht zu überhören. 18 Verbände und Organisationen taten sich zusammen, schalteten eine Zeitungsanzeige unter dem Motto “Es geht uns alle an: Wachsam sein für Menschlichkeit” und bezogen Position: “Wir sagen „Nein“ zu jeder Abwertung von Menschen mit Behinderung und zu jeglicher Form des Rassismus. Ideologien der Ungleichwertigkeit menschlichen Lebens haben keinen Platz in diesem Land.”
Es ist richtig und wichtig sich laut und kompromisslos gegen Rassismus und Diskriminierung zu stellen.
Es ist allerdings auch kein Geheimnis, dass Rechtspopulisten_innen Provokation und Hetze bewusst einsetzen, um derartige Aufschreie zu provozieren und beständig in der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu bleiben. Und um ihr Narrativ zu etablieren. Es gibt unzählige rechtspopulistische Internetseiten und Blogs, in denen erklärt wird, wie man Narrative übernehmen und dominieren kann. Gerne wird dabei das Beispiel “Fake News” verwendet. Der Begriff, der zunächst Trump-kritisch Verwendung fand, dann aber erfolgreich vom US-Präsidenten gekapert wurde und nun von ihm und seinen Unterstützern_innen gegen Trump-Kritiker genutzt wird.
Das Narrativ der Rechtspopulisten_innen wird zunehmend gefährlich.
Wir hören alle so oft von der “Flüchtlingswelle, die unsere Gesellschaft zerstört”, „schleichender Landnahme“, den “kriminellen männlichen Flüchtlingen”, die ihre Kinder, Frau und alte Eltern “feige in der Heimat zurück lassen”. Klare Feindbilder werden geschaffen und Geschichten radikalisiert. Es ist schlichtweg eine Illusion, dass dies keine Auswirkungen auf uns hätte.
Sprache macht einen großen Unterschied. Im Nationalsozialismus gab es viele euphemistische Begriffe für schreckliche und menschenverachtende Taten. Der Arzt und Euthanasie-Befürworter Alfred Hoche führte 1920 den Begriff der “Ballastexistenzen” ein – und damit Kosten-Nutzen-Abwägungen vom Leben behinderter Menschen. Eine Partei, die Sitze im Bundestag hat, fragt nach den Gründen von Behinderungen – und möchte Zahlen wissen, um präventiv aktiv werden zu können.
Diese Denkweisen liegen nicht weit auseinander.
Was tun?
Wie wollen wir nun mit der Hetze und der Aufmerksamkeitshascherei der Rechtspopulisten umgehen?
Was macht es mit uns allen, wenn die Rechtspopulisten immer und immer wieder versuchen, den Ton des Diskurses zu bestimmen?
Schweigen, ist keine Lösung. Deutschlands Geschichte zeigt die katastrophalen Konsequenzen, die Schweigen und Wegsehen bewirken können. Wer schweigt, widerspricht nicht.
Wie schaffen wir diesen fast unmöglichen Balanceakt einerseits den Rechtspopulisten_innen die gewünschte Aufmerksamkeit zu versagen und andererseits nicht schweigend zuzustimmen?
Wir müssen das Narrativ wieder übernehmen – hin zu einer wertschätzenden, diskriminierungsfreien Sprache.
Regierungsparteien müssen sich auf ihre Verantwortung den Menschen in Deutschland gegenüber besinnen – ungeachtet dessen, ob diese mit oder ohne Migrationshintergrund, mit oder ohne Fluchterfahrungen sind. Begriffe wie “Anti-Abschiebe-Industrie” (CSU) und “Überfremdung” (CDU) legitimieren rechtspopulistische Rhetorik und ist einer Regierungspartei nicht würdig.
Statt sich immer wieder über die Provokationen der Rechtspopulisten zu echauffieren, sollte es Aufgabe der Medien sein, sich den Opfern zuzuwenden.
Menschen, von denen Rechtspopulisten regelmäßig hässlichen Zerrbilder präsentierten: Die “kriminellen Flüchtlinge”, die behinderten Menschen, die nicht geboren, sondern entstanden sind – und die präventiv verhindert werden könnten.
Diese Opfer des Rechtspopulismus haben ein Recht darauf, dass das von ihnen gezeichnete Zerrbild zerstört wird. Und für den öffentlichen Diskurs ist es heilsam, wenn diese von Rechtspopulisten_innen klischeehaft dargestellten Opfergruppen in der öffentlichen Wahrnehmung wieder das werden, was sie sind: Menschen mit Wünschen, Hoffnungen, Ängsten. Nachbarn, Kollegen, Freunde.
Wissen schafft Demokratie
Oberste Priorität muss in Deutschland inklusive Bildung werden. Idealerweise an Schulen für alle – an denen sich reiche und arme, behinderte und nicht behinderte, Kinder mit Migrationshintergrund und Kinder mit deutschen Wurzeln, Kinder mit Eltern unterschiedlichster politischer Ideen, Kinder unterschiedlichster Bildungsgrade täglich begegnen, gemeinsam an Projekten arbeiten, in Sport-Teams im Wettkampf aufeinander zählen können. Und Freundschaften schließen.
Bildung schafft Perspektiven. Es gibt zu viele Menschen in Deutschland, die sich abgehängt fühlen, die Angst haben, man würde ihnen etwas wegnehmen: “Die ganzen Flüchtlinge bekommen so viel Geld – da bleibt für mich nichts mehr übrig.”
Es ist Aufgabe der Politik, den Menschen Sicherheit zu geben und die Angst vor dem sozialen Abstieg, vor der Altersarmut, vor der Perspektivlosigkeit zu nehmen. Das ist die Sicherheit, die benötigt wird und Menschen entradikalisiert – nicht die momentan zunehmende und geplante Polizeipräsenz vielerorts.
Ich erzähle hier nichts Neues und diese Erkenntnisse sind längst ein alter Hut.
Aber ich werde diese wichtigen Punkte immer und immer wieder veröffentlichen – solange sie nicht selbstverständlicher Alltag geworden sind.
(sb)
Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit Suse Bauer zuerst in leicht abgewandelter Form in „neues deutschland“ erschienen.
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2 Antworten zu “Erinnerung an dunkelste Zeiten”
[…] … zum ganzen Artikel geht es hier https://raul.de/leben-mit-behinderung/erinnerung-an-dunkelste-zeiten/ […]
Lieber Herr Krauthausen,
empfinden Sie den ärztlichen Rat, in der Schwangerschaft auf Alkohol zu verzichten, ebenfalls als behindertenfeindlich? Schließlich hat auch dieser das Ziel, die Entstehung von Behinderungen zu vermeiden. Und was ist mit der Impfung gegen Kinderlähmung? Warum wird Contergan heute nicht mehr verschrieben? Offensichtlich weil die meisten Menschen ein Leben ohne Behinderung wünschenswerter finden. Und ist das angesichts der massiven Einschränkungen, die mit einer Behinderung einhergehen, tatsächlich Grund zur Empörung? Ist es nicht möglich, behinderte Menschen zu respektieren und zukünftigen Kindern trotzdem ein Leben ohne Behinderung zu wünschen? Ich habe noch nie gehört, dass ein AIDS-Kranker sich durch AIDS-Prävention diskriminiert fühlt. Warum sind Behindertenaktivisten so wenig imstande, zwischen Prävention und Behindertenfeindlichkeit zu unterscheiden?