Schaum-Symbolik: Eine Auseinandersetzung mit den Schattenseiten des Mitgefühls

Raul Krauthausen vor einem ICE.

Als Mensch, der mit einer Behinderung lebt, bin ich häufig auf angebliche Empathie gestoßen – diese warme, scheinbar mitfühlende Reaktion auf Schwierigkeiten, die mit meiner Behinderung einhergehen. Aber mit der Zeit habe ich erkannt, dass diese performative Empathie nicht die heilende, progressive Kraft ist, die Empathie sein sollte. Manchmal, vor allem wenn sie von Entscheidungstragenden kommt, ist sie zu einem bestimmten Zweck aufgebauscht, lässt aber konkrete Handlungskonsequenzen vermissen. Ähnlich wie ein Schaumbad, das den Badenden zunächst wattebauschig und wohlig umhüllt, und einen Moment später in Luft zerplatzt. Ich nenne dieses Phänomen daher Schaum-Symbolik / Schaum-Phänomen. 

Die Schaum-Symbolik zeigt sich, wenn Personen in Entscheidungspositionen ihr Mitgefühl für uns Menschen mit Behinderungen ausdrücken, aber keinen konkreten, nachvollziehbaren Weg anbieten, wie unsere Situation verbessert werden könnte. 

Mein gestriges Erlebnis ist ein anschauliches Beispiel dafür: 

Ich war zu einer Veranstaltung in einer kleinen Gemeinde in Bayern eingeladen. Nach 6 Stunden Fahrt mit dem ICE stellte sich heraus, dass zu meinem Zielort an dem Tag nur nicht-barrierefreie Regionalzüge weiterfuhren. Ich hatte keine Möglichkeit zum Ein- oder Ausstieg und weder Bahn noch Veranstalter*innen sahen sich in der Lage, mir ein Taxi zu meinem Ziel zu organisieren. Daher musste ich unverrichteter Dinge nach Berlin zurückkehren. Ich war 12 Stunden quer durch Deutschland unterwegs und obwohl jeder Zug pünktlich war, konnte ich wegen mangelnder Barrierefreiheit nicht an mein Ziel gelangen. 

Auf die Öffentlichmachung über Social Media meldete sich prompt die DB, die mir versicherte, wie leid ihr mein Erlebnis täte. Und dass ich weitere Informationen zur internen Prüfung nachreichen solle. 

Meine Antwort: 

https://twitter.com/raulde/status/1673779437505052673

Darauf gab es keine Antwort mehr seitens der Deutschen Bahn. 

Meine zugegeben nicht mehr kompromissbereite Antwort lässt erahnen, wie groß mein Frust damit ist. Neben meinen eigenen Erlebnissen verfolge ich täglich auf Social Media oder über private Mails, dass unzählige behinderte Menschen auf dieselbe Weise von der DB diskriminiert werden. Und es macht mich wütend, dass sie sich in Anbetracht dieser dreisten Ungleichbehandlung und trotz ihres immerwährenden Gelobens von Besserung, weiter auf ihrer Untätigkeit ausruhen. Die neusten ICEs sind noch immer nicht rollstuhlfreundlich designt und haben nicht mehr als drei Rollstuhlplätze im ganzen Zug vorgesehen. Schämt euch. Es scheint nicht das Ziel zu sein, wirkliche Veränderungen auf den Weg zu bringen, sondern den Beschwerdestellenden zu beschwichtigen.

Auch für die Zukunft scheint sie nichts für behinderte Fahrgäste geplant zu haben:

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Die Bahn ist bei Weitem nicht das einzige Beispiel

Wie oft bin ich schon in Gebäude oder in Transportmittel nicht hineingekommen oder absichtlich stehen gelassen worden. Selbst bei Veranstaltungen, die sich ganz groß das Thema „Inklusion“ auf die Fahnen geschrieben haben und zu denen ich als Speaker oder Moderator geladen wurde, wird oft nicht für die nötige Barrierefreiheit gesorgt: Ich komme nicht auf die Bühnen – oder überhaupt in den Veranstaltungssaal hinein. Es hagelt danach Entschuldigungen, Beteuerungen, dass man daraus gelernt habe, dass es einem schrecklich peinlich gewesen sei und entsprechende Schlüsse für das nächste Mal gezogen würden. Doch nach dem vermeintlich empathischen Geblubber, zerplatzt der Schaum in Luft und konkrete Maßnahmen bleiben aus. Auch Jahre später geschah nichts.

Dieses Phänomen ist tragisch, weil es sich in vielen Aspekten unserer Gesellschaft zeigt und uns in den Schatten drängt, statt in den Vordergrund zu holen: Wir kommen nicht zu unseren Zielorten, wir gelangen nicht in Veranstaltungssäle oder auf die Bühnen, auf denen wir vielleicht sogar über Diskriminierung aufklären wollten. Barrierefreiheit ist ein essenzieller Faktor für Inklusion. Denn nur dort, wo Begegnung stattfinden kann, weil alle Menschen gleichermaßen teilhaben können, kann Inklusion überhaupt gelingen.

Der Mangel an teilhabefördernder Aktion befeuert strukturelle Unsichtbarmachung

Es ist daher am eklatantesten, wenn sich das Schaum-Phänomen in politischen Diskursen zeigt. Denn Politiker*innen und Regierungen wären in der Lage, bestehende Gesetze und Richtlinien zu forcieren, die uns schützen sollen. Sie könnten auf juristischer Ebene strukturelle Diskriminierung bekämpfen und Barrierefreiheit durchsetzen. Doch stattdessen werden nur beeindruckend klingende Reden gehalten und symbolische Gesten vorgebracht. Oder es werden Handlungen maskiert, die behinderten Menschen zusätzlich schaden. 

  • Das Schulsystem verzeichnet höhere Inklusionsquoten, doch in Wirklichkeit werden Zahlen umgedeutet und das Sonderschulsystem immer weiter ausgebaut. 
  • Angeblich wurde Inklusion auf dem ersten Arbeitsmarkt gesetzlich verankert, doch die Schlupflöcher sind ausgefeilter, als die konkreten Inklusionsmaßnahmen. 
  • Vermeintlich wurden in neuen Triage-Gesetzesentwürfen die Rechte behinderter Menschen gestärkt. Tatsächlich jedoch wird Diskriminierung praktisch nicht vorgebeugt. 
  • Neuer barrierefreier Wohnraum wird geschaffen, doch dies macht nur einen verschwindend geringen Bruchteil der Neubauten aus. 
  • Der Online-Handel soll barrierefrei werden, dafür ist aber der Privatwirtschaftssektor nicht verpflichtet, ihre Gebäude und Läden barrierefrei zu gestalten. 

Wie wir an dieser Auswahl an Beispielen sehen, werden unter dem Deckmantel der voranschreitenden Inklusion in Wirklichkeit Ausgrenzungen in Sonderräume weiter forciert. Und das, während Politiker*innen öffentlichkeitswirksam ihren Beistand mit behinderten Menschen beteuern können. 

Durch diese pseudo-empathische Fürsorge-Publicity entsteht außerdem der Eindruck, als seien behinderte Menschen passive Bittsteller*innen und Hilfe-Empfangende. Dies hat mehrere problematische Implikationen. 

  • Es verfestigt den Eindruck, als wäre Inklusion eine Art von Charity. Dabei ist Inklusion ein Menschenrecht. Und wir sind keine Bittstellenden. Wir sind Fordernde! Wir haben ein Recht auf gleichberechtigte Chancen und Zugang zu allen Bereichen gesellschaftlichen Lebens. Dies lässt sich nicht mit Schaumkronen wegretuschieren. 
  • Es impliziert den Appell, dass behinderte Menschen für die so liebenswürdig herunter gereichte „Unterstützung“ auch noch dankbar zu sein haben. Weit verbreitet ist das Narrativ, Inklusion sei einfach zu teuer und Barrierefreiheit / Teilhabemöglichkeiten daher nicht umsetzbar. Zudem müsse man auch noch die Barrieren in den Köpfen beseitigen, bevor wirklich etwas ins Rollen gebracht werden kann. Daher solle man sich doch mit den „empathischen“ Worten und den leeren, und fatalen Handlungsschritten zufriedengeben. Studien belegen derweil, dass zwei Systeme – eins für die Mehrheitsgesellschaft und ein alternatives Parallelsystem für behinderte Menschen – teurer sind als ein inklusives System. 
  • Es verschleiert, dass behinderte Menschen nicht nur eine passive Rolle als Bittstellende einnehmen, sondern auch aktive und wichtige Teile der Gesellschaft sind. Wir haben individuelle Fähigkeiten, Talente, Wissen und Einsichten, die gewinnbringend für den Rest der Gesellschaft eingesetzt werden sollten. Daher ist unser Ziel nicht nur passiv-konformative Teilhabe in Publikumssälen. Sondern wir gehören selbst auf die Bühnen, Bildschirme, Podien und in Chef*innenbüros und müssen dort auch wichtige und wertvolle Beiträge leisten können. Das nennt man dann Teilgabe. 

Es ist Zeit, dass wir dieses Schaum-Phänomen als das entlarven, was es ist: Nämlich ein destruktives Werkzeug, um Untätigkeit zu kaschieren und desaströse non-inklusive Aktionen zu maskieren. Wir müssen als Antwort auf schöne Worte wirkliche Handlungsschritte und Ergebnisse einfordern lernen und diese mit Nachdruck verfolgen. 

Nur so kann sich auch Empathie in der besten Form entfalten, nämlich wirklich als heilende, progressive Kraft. 



6 Antworten zu “Schaum-Symbolik: Eine Auseinandersetzung mit den Schattenseiten des Mitgefühls”

  1. Hallo Raul,
    Als Mensch mit einer Schwerbehinderung kann ich das oben geschriebene gut nach empfinden. Ich habe gerade die Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin abgeschlossen. Und zum Beispiel mein Recht auf Nachteilausgleich dürfte ich nicht wirklich genießen. Der geht nur auf Allgemeine Probleme und nicht individuell. Und gerade solche Einrichtungen die uns belehren Menschen mit Behinderung die Selbstständigkeit zu ermöglichen machen in der Praxis das Gegenteil.
    Und eine Stelle in der Einrichtung für Menschen mit Behinderung einer mit Schwerbehinderung ist auch schwer zu finden. Deswegen weiß es genau was du meinst. Empathie, Teilhabe sind für die Leere Wörter, weil mehr, als ausgesprochen wird, passiert nichts. Leistungsdruck und Wettbewerb schließen die Menschen mit Behinderung aus und machen auch „gesunde“ Menschen krank. Da bleibt kein Platz für Kongruenz. Wenn die Menschen mit Behinderung nicht mal lesen können, obwohl die in der Lage wären. Es ist ein Kampf gegen die Wand. Da muss man im System einiges ändern und abschaffen.

  2. Danke Raul,
    für diesen klaren Worte mit Nachdruck! Aus unserer Erfahrung (Eltern mit jugendlichen Sohn, der mit einer Behinderung lebt) trifft das genau den Punkt. Und ist sicher eine harte Kost für all die „wohl meinenden“, die aber dann doch nichts bewegen, weil sie die Konsequenz nicht begreifen. „Nicht bös gemeint“ reicht halt nicht. Wäre ja noch schöner, wenn diese ganzen bleibenden Hindernisse aus böser Absicht stehen gelassen werden würden… Und: Schaumbäder können ganz schön ermüden, Vitalität und Zupacken ist was anderes – dann darf man sich auch gemeinsam(!) entspannen danach.

  3. Kann die Kommentare nur unterstützen.
    Deinen Unmut lieber Raul Krauthausen kann ich nachvollziehen und könnte noch etliches hinzufügen an Missbrauch in jeglicher Form an Menschen mit Behinderungen.

  4. Danke für diesen wichtigen Beitrag! Wie wenig wissen wir Normalos wirklich, also was es heißt im Rollstuhl zu sitzen oder eine Behinderung zu haben. Und was alles nicht damit möglich ist. Nicht viel helfen würde, wenn ich sage, es war vermutlich vor 100 Jahren noch schlimmer und es ist schon einiges passiert… und das ist es definitiv… aber ja: es muss und sollte noch mehr passieren. Die Öffentlichkeit zu sensibilisieren ist dafür definitiv ein wichtiger Schritt. Auklärung!! Und mein Bauchgefühl sagt mir: mit Wehememz und Sympathie (!!). Es muss die Ungerechtigkeit deutlich werden UND das Gefühl beim Gegenüber bleiben, dass man helfen will. Denn für solch eine Veränderung braucht es eine Lobby.

    Ich habe gerade gedacht, dass manche Menschen vermutlich für ein Katzenbaby den Transport mit dem Taxi organisiert hätten… 🙈

  5. Hallo Raul,

    hast du Lust und Muße über das Thema im Podcast Empathieschenker zu erzählen.

    In deinem Artikel sprichst du aus meiner Sicht indirekt einen wichtigen Punkt an. Empathie = wirklich verstehen wollen und auf die erlebte Gefühlswelt meines Gegenübers in Resonanz zu gehen. Damit ein „echtes“ Gefühl bzw. Verständnis für das erleben entstehen kann.

    Authentische Empathie bedeutet für mich, ein wirkliches Interesse daran zu haben, wie es dem/r Anderen und mir in einer bestimmten Situation geht und was den Beteiligten in dem Moment wichtig ist.

    Insofern vermute ich, dass in deinen beschriebenen Erlebnissen nicht einmal Empathie im Raum war, sondern eher Schuld und Scharm.

    Letztlich geht es für mich bei Empathie darum gesehen zu werden. Ich sehe dich und du siehst mich. Sich gegenseitig wahrzunehmen, aufeinander zu zu gehen und neugierig offen ins Miteinander zu kommen.

    Das ist der Beginn von Vielfalt, aus der heraus neue gemeinsame (aus echtem gegenseitigen Interesse) Lösungen entstehen.

    Ich kann genau hinschauen, um jemanden zu sehen. Doch wenn Menschen sich zeigen, fällt es mir leichter sie zu sehen.

    Danke das du dich mit dem was dich bewegt zeigst.

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