Bist du ein Problem? Mit Verlaub, wir kennen uns ja nicht. Probleme liegen meist woanders – ein Streifzug durch die Welt der Blogs.
Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen ist das Pflücken handverlesener – Blogs. Der Zugang zu ihren Erkenntnissen ist ziemlich barrierefrei, führt er doch direkt zu jenen Autorengedanken, die meist nicht in herkömmlichen Medien erscheinen. In Sachen Leben mit Behinderung ist deren Mainstream halt nicht garantiert ein Füllhorn an Erkenntnissen. Da lohnt es sich schon jenen zuzuhören, die wissen, wovon sie sprechen.
So begegnete ich zum Beispiel im Netz der Bloggerin Juana Ortiz, die in ihrem Beitrag Die helle Seite meiner Behinderung in kurzen Worten schildert, wie sie sich mit zunehmendem Alter ermächtigte, ihr Leben mit Polio selbst zu leben: Angefangen mit einer desaströsen medizinischen Vorhersage, welche für sie ein Leben jenseits von jeglicher Unabhängigkeit schilderte, fortgesetzt mit kaum unterstützenden Strukturen und dann mit 16 erstmals ein Schulbesuch, mit dem sie durchstartete.
Kommen diese Vorhersagen bekannt vor? Elizabeth Picciuto beschreibt in ihrem Blog Nicht meins zu formen, wie ihr als Mutter eines Kindes mit CDC-Syndrom vom Arzt gesagt wurde, wie „tiefgreifend behindert“ ihr Sohn sein würde, verbunden mit dem Vorschlag ihn zu „institutionalisieren“. Weil er nicht oral Essen zu sich nehmen wollte, riet man später, ihn für einige Wochen in ein Krankenhaus zur Umgewöhnung einzuliefern. Was ihr dann half, waren Blogs in den Sozialen Medien, und zwar von Erwachsenen mit Behinderung. Die beschrieben ihr, was getan werden kann, um einem Kind mit Autismus das Leben angenehmer zu gestalten, anstatt am Kind selbst herumzudoktern, bis es sich hinreichend an den Mainstream angepasst hat.
An dieser Stelle kommt in mir die Frage auf, ob es in Deutschland eine Statistik gibt, welche die medizinischen Alltagsvorhersagen für Menschen mit Behinderung mit den tatsächlichen Verläufen abgleichen. Picciuto jedenfalls sieht, nach Lektüre der Blogs, vieles entspannter und glücklicher.
Vielleicht liegt das Problem woanders. Also, nicht bei der einzelnen Person, sondern an den Strukturen. Shona Louise gibt in ihrem Blog Mein Rollstuhl ist meine Freiheit einen Hinweis und erinnert daran, wie die Welt im Jahr 2018 auf den Tod des Physikers und Astrophysikers Stephen Hawking mit ALS erinnerte: Da gab es Zeichnungen, in denen Hawking, nun wie befreit, seinen Rollstuhl verlässt, eben erlöst. Eben eine Frage der Perspektive: Für Lousie war der Rollstuhl von Beginn an Ermächtigung, halt Bewegungsfreiheit – und nichts, von dem sie erlöst werden muss.
Eine Perspektive weist Karin Hitselberger in ihrem Blog Rebellion durch radikale Selbstakzeptanz auf. Um gegen die sozialen Standards von Schönheit und Normalität zu kämpfen, muss man nicht jederzeit hundertprozentig glücklich mit der Haut sein, in der man steckt:
„Deinen eigenen Körper zu lieben, ist eine persönliche Reise. Ihn zu akzeptieren, ist eine politische.“
Wenden wir uns also dieser marginalisierenden Mainstreamsicht zu, die oft nicht stimmt – und setzen ihr eine andere gegenüber. Denn Mainstream sind wir alle.
Eine Antwort zu “Wo zuhören lohnt”
Guten Abend Raul Krauthausen, besten Dank für die Links und den Text, der mich fragen lässt: Was ist überhaupt Mainstream und muss ich das wissen?
Manchmal frage ich mich schon auch, ob das eigentlich normal ist, dass mich die Coronakrise an sich nicht beschränkt, denn meine Freiheit spielt sich beinahe ungestört innerhalb der Beschränkungen ab. Letztens meinte meine Schwester, ich sähe „geschafft“ aus, etwas Lidstrich und Wimperntusche würden „auffrischen“.
Das stimmt, ich nutze den Effekt auch gelegentlich, wenn ich in die Philharmonie will oder ins America Latina, aber am normalen Alltag verzichte ich lieber, denn mir bröckelt die Tusche gerne in die Augen und ich schwitze den Lidstrich schon mal flächig zu Ringen unter den Augen.
Ich sehe echt nicht jugendlich aus mit meinen 54, obwohl ich mir die Haare färbe, wahrscheinlich sollte ich Hautcremes benutzen und was am Teint machen. Wie ich heute am Mauerweg stand und vor üppig blühenden japanischen Kirschblüten ein Selfie machte, ertappte ich mich schon dabei , wie ich x-Mal von vorne probierte, bis das Kinn etwas glatt gezogener aussah und die Wangen nicht ganz so pausbackig.
Früher zog ich noch Sachen an, die kniffen. Der Silhouette zuliebe ließ ich mich kneifen von den Klamottten, heute muss es bequem sein, aber individuell.
12er Hacke war mir einst wichtig, sie streckt das Bein, es ist bloß schwierig, richtig gerade zu stehen. Heute könnte ich bestimmt nur noch krumm drauf laufen und litte an Hühneraugen – deshalb bevorzuge ich heute robuste Laufschuhe.
Ich habe eine mir treu verbundene Familie, die aber mein Leben nicht teilt und ich ihres auch nicht, so war es immer.
Meine wenigen sehr alte Freundschaften pflege ich eher passiv, bis auf eine.
Ist das normal, nicht normal, Mainstream`?
Den Geschichten entnehme ich, dass mit den Prognosen offenbar Barrieren einhergingen, die das Leben dann gegebenenfalls gar nicht leichter, sondern schwerer machten.
Warum braucht man denn überhaupt solche Vorhersagen? Ich glaube , ich hätte mir als Kind sowas nicht gewünscht. Bei der Einschulungsuntersuchung 1972 fand der Arzt mich „zu klein“ – ich durfte trotzdem anfangen und es gab nichts, wofür ich zu klein war. Bis heute frage ich mich, was das mit dem „zu klein“ sollte?