Im Kontext der Inklusion ist oft von dem Begriff „Teilhabe“ die Rede. Er bedeutet, dass behinderte Menschen im selben Umfang, wie nicht-behinderte Personen Zugang zu allen Bereichen gesellschaftlichen Lebens erhalten. Ich finde dies zu kurz gedacht und bevorzuge den Begriff „Teilgabe“. Behinderte Menschen sollen eine aktive Rolle bei der Gestaltung von Gesellschaft und Politik übernehmen können. Nur so werden wir zum „Teilsein“ gelangen.
Wir kennen es mittlerweile: In Kinos und Theatern, in Hörsälen und in der Deutschen Bahn gibt es zugewiesene Rollstuhl-Plätze. Auf Phoenix läuft die Tagesschau mit Dolmetschung für deutsche Laut- und Gebärdensprache und mit einem digitalen Receiver kann für manche Inhalte Audiodeskription aktiviert werden. Doch: Ist das wirklich Inklusion?
Wie unterscheiden wir Integration und Inklusion?
Nein. Bestenfalls haben wir es hier mit Integration zu tun: Die Mehrheitsgesellschaft macht Platz und toleriert die marginalisierte Gruppe unter sich. Von der Minderheit wird Anpassung gefordert, während die Mehrheitsgesellschaft sich im Gegenzug kaum an die Teilhabe behinderter Menschen anpassen muss und Strukturen und Machtverhältnisse beibehält. So kommen Menschen mit Behinderung oft nur Randränge zu, die keinesfalls gleichwertig mit den Rängen der nicht-behinderten Mehrheit sind: An den Außenseiten des Theater-, Kino- oder Hörsaals, in der Peripherie des TV-Programms, im HBB-TV oder online in der Mediathek, findet keine Inklusion statt.
Diese Form der Integration ist mit dem Inklusionsgedanken der UN-Behindertenrechtskonvention nicht vereinbar. Die UN-BRK legt Gleichberechtigung, Chancengleichheit, Mitbestimmung und selbstbestimmte Teilhabe fest.
In diesem Sinne müssen Barrieren auf eine Weise abgebaut werden, die behinderten Menschen dieselben Zugangsmöglichkeiten und Platzoptionen ermöglichen wie nicht behinderten Personen: mitten im Saal, überall im Zug, auf ARD und ZDF und den privaten Sendern. Warum nur Nachrichten? Wir wollen auch Soaps und Reality-TV! Nur dort findet das Teilhaben, das Dabeisein, wirklich statt. Unter allen anderen.
Ein wichtiger Aspekt wird stets übersehen: Teilgabe
Teilhabe ist nur einer von mehreren Aspekten des Inklusionsgedanken. Oft wird übersehen, dass Menschen mit Behinderungen nicht nur anwesend sein, sondern auch durch ihre Beteiligung einen Mehrwert bieten wollen. Das nennt man Teilgabe. Nicht nur die Publikumssäle müssen daher barrierefrei gestaltet sein, sondern auch die Bühnen und Podien. Behinderte Menschen müssen als Schauspieler*innen, als Lehrende, als Expert*innen in Diskussionen oder als Entscheidungstragende in der Chefetage in Erscheinung treten und ihren Beitrag leisten können.
Die Vorstellungen, dass Menschen mit Behinderung wichtigen Input liefern, stehen in Konflikt zu der weitverbreiteten Meinung, behindertes Leben sei defizitär. Die Suggestion: Ihr seid anders als wir, daher ist euer Platz nicht hier, sondern dort drüben. Am Rand, unterwürfig, schweigsam, untergeordnet.
Wieso tun wir uns so schwer mit Teilhabe und Teilgabe?
In der Psychologie finden sich Theorien, wie sich Machtgefälle zwischen einer dominanten (nicht-behinderte Dominanzgesellschaft) und einer unterlegenen Gruppe (behinderte Subgruppe) aufrechterhalten.
- Die existierende Hierarchie wird zwischen diesen Gruppen nicht durch Zwang oder Gewalt forciert, sondern durch eine Art von wohlwollendem Paternalismus der überlegenen Gruppe. Hierbei können Mitglieder beider Gruppen durchaus warmherzigen Austausch pflegen, doch Voraussetzung hierfür ist immer, dass die unterdrückte Gruppe ihren untergeordneten Platz nicht verlässt. Eine Pflegeperson ist z. B. nur wohlwollend und liebevoll, solange die behinderte Person nicht zu hohe Ansprüche (an ein selbstbestimmtes Leben) stellt. Oder Inklusion ist so lange wichtig, bis behinderte Kids an Regelschulen unterrichtet oder behinderte Kolleg*innen eingestellt werden sollen.
- Die dominante Gruppe hält legitimierende Mythen aufrecht, und nutzt negative Stereotype über die benachteiligte Gruppe, um die eigene überlegene Stellung zu rechtfertigen. Beispiele hierfür wären die Behauptung, dass erst Barrieren in den Köpfen gesenkt werden müssten, bevor man sich um die Umsetzung von Inklusion kümmern könne. Oder dass behinderte Menschen weniger leistungsstark und weniger gut ausgebildet seien, und daher bestimmte Jobs oder Führungspositionen nicht ausfüllen könnten. Kausalzusammenhänge wie z. B. strukturelle Diskriminierung und Ableismus finden kaum Beachtung.
- Gruppeninteresse – beschreibt die Tendenz der dominanten Gruppe, Aktionen zu verhindern, die dem Gruppeninteresse potenziell entgegenstehen könnten. Z. B. „Die Produktivität der Firma könnte leiden, wenn behinderte Menschen dort arbeiten würden.“ / „Nicht-behinderte Kinder lernen eventuell weniger, wenn sie mit behinderten Kindern zusammen in eine Klasse gehen“. Entsprechende Inklusions-Maßnahmen werden unterbunden, um den Vorteil der eigenen Gruppe nicht zu gefährden. Auch hier wird wenig hinterfragt, ob diese Annahmen überhaupt Wahrheitsgehalt besitzen.
Diese und viele weitere machtvolle Mechanismen stehen einem Vorankommen im Inklusionsbereich entgegen. Auch erhärtete Strukturen und wirtschaftliche / politische Interessen bestimmter Akteur*innen sind Faktoren, die zur Aufrechterhaltung des Status Quo beitragen.
Was können wir also tun?
Es wird nicht reichen, auf politischer Ebene Gesetze und Vorschriften für Inklusion und Barrierefreiheit durchzusetzen. Sie sind zwar wichtig und unumgänglich, denn sie schaffen eine Grundlage für inklusives Handeln und Teilhabe. Aber sie reichen nicht aus. Was in meinen Augen wichtiger ist, ist Gesellschaft und Kultur für Menschen mit Behinderungen zu öffnen. Wir dürfen nicht mehr als „Sozialfälle“ betrachtet werden, für deren Inklusion Lösungen geschaffen werden müssen. Sondern wir müssen als integrale Teile der Gesellschaft betrachtet werden, die auch als Teilgebende wahrgenommen werden.
Begegnung schaffen ist hierfür ein zentraler Punkt, der simpel wirkt, aber den wir nicht unterschätzen sollten. Begegnung auf Augenhöhe ist machtvoll, denn sie bricht mit falschen Annahmen über die Minderheiten-Gruppe, nämlich in diesem Fall:
- Menschen mit Behinderungen sind alle gleich.
- Behinderte Menschen haben Defizite, welche die bestehende Hierarchie rechtfertigen,
- Behinderte Menschen sind grundsätzlich unterschiedlich zu nicht-behinderten Menschen.
- Menschen mit Behinderungen sind weniger komplex als nicht-behinderte Menschen.
Augenhöhe ist dabei essenziell: Wir müssen Räume der Teilgabe bereits jetzt besetzen. Menschen mit Behinderung müssen empowert wahrgenommen werden, als Personen, die Wertvolles in die Gesellschaft geben. Sei es als Speaker*innen auf Events, als Diskutierende in einer Podiumsrunde, als Schauspieler*innen auf den Leinwänden.
Nur dadurch werden falsche Annahmen infrage gestellt und korrigiert. Wenn dieser Prozess kollektiv passiert, formt er Kultur in eine inklusive Richtung. Dann sind wir nicht mehr zwei unterschiedliche Gruppen, sondern eine Gemeinschaft, von der alle gleichermaßen Teil sind. Das ist das Ziel der Inklusion.
3 Antworten zu “Die Bedeutung von Teilhabe und Teilgabe – Raus aus dem Integrationsdenken!”
Ganz ehrlich? Du sprichst mir aus der Seele.
Bei zwei meiner letzten Arbeitgeber wurde mir gesagt, ich sei ja nicht für den ersten Arbeitsmarkt geschaffen und zu dem ich verstecke mich dahinter. Dadurch bin ich tatsächlich erst einmal in ein Loch gefallen. Doch deine Artikel haben mir wieder Mut zu gesprochen. Sichtweisen die mir quasi geholfen haben es anders zu sehen, den Fokus weg von mir als Person hin auf die Welt der Nicht-Behinderten Menschen.
DANKE
Lieber Raul Krauthausen,
herzlichen Dank für diesen Artikel. „Teilgabe“ rückt den notwendigen Beitrag von Menschen mit Behinderung ins Bild. „Teilgabe“ stellt aber auch die Forderung auf, für diesen Beitrag Raum zu schaffen.
Vielen Kultureinrichtungen fällt es zum Beispiel noch sehr schwer, diesen Raum zu geben. Kultur betrifft immer alle Menschen. Nicht nur Menschen mit Behinderung, sondern die Besucher*innen und Nutzer*innen ganz allgemein können und wollen Kultur aktiv mit gestalten. Diese Vorstellung steht aber dem einseitigen „Anbieten“ und Verkaufen von Kultur entgegen.
Doch Kultur funktioniert nur gemeinsam. Sie muss tatsächlich von allen mit allen geteilt werden. Das macht Veränderung möglich. Einiges bewegt sich schon. Vieles muss noch erreicht werden.
Viele Grüße,
Martin Conze
Hallo,
ich bin sehr froh, dass endlich angesprochen wird, was uns allen so schwer fällt. Am wichtigsten ist es dafür zu sorgen, dass wir selbst für unsere Stimme stehen können.
Wir selbst müssen zeigen, dass jeder seine persönlichen Herausforderungen hat und dass unsere Art diese zu bewältigen auch den Mehrwert für die Gesellschaft erbringt. Gemeinsamkeit bringt Erfahrung, diese führt zu Achtung und mehr Menschlichkeit, Zuversicht und auch weniger Konkurrenzkampf unter allen Mitgliedern unserer Gesellschaft. Das fehlen dieser gemeinsamen Denkweise führte bislang zu einer erhöhten Anzahl von Zivilisationskrankheiten, wie BURN OUT, Mobbing, erhöhte Anteil an psychischen Belastungen bei noch „Nicht-Behinderten“ aber auch zu einem „großen Geschäft“ für manche Organisation. Ich bin der Meinung, sofern alle sehen, dass niemand perfekt sein muss, um dazuzugehören ist für die Gesellschaft schon ein großer Schritt getan.
Der Mythos, wir schützen die Allgemeinheit vor den Defiziten der Behinderten und die Behinderten vor der Unmenschlichkeit der Nicht-Behinderten ist der größte Feind, den Inklusion hat. Noch ernte ich mit meiner Meinung auch noch nicht viel Zustimmung, noch muss ein Behinderter mehr Leistung erbringen, um dazuzugehören als Nicht-Behinderte, aber lese ich solche Artikel, besteht noch Hoffnung.
Viele Grüße
Nicole Weigl