„Disability Dongle“: Wenn nicht behinderte Lösungen für behinderte Menschen kreieren

Robotaxi

Vor Kurzem bin ich auf den Begriff „Disability Dongle“ gestoßen, der mich seither nicht mehr loslässt. Liz Jackson (she/sir) definiert Disability Dongle erstmals 2019 als „eine gut gemeinte, elegante, aber nutzlose Lösung für ein Problem, von dem wir [behinderte Menschen] nie wussten, dass wir es haben.“ Weiter führt Jackson aus, dass Disability Dongles Designs oder Technologien sind, die viel Anerkennung aus dem Mainstream bekommen, obwohl behinderte Menschen berechtigte Kritik über die jeweilige Technologie geäußert haben. Solche Disability Dongles werden am häufigsten in Designschulen konzipiert und hergestellt.

Eine Lösung für ein nicht existentes Problem

Jackson diskutiert mit den zwei Mitautor*innen Alex Haagaard und Rua Williams, dass die Disability Dongle-Rhetorik Student*innen vorgaukle, es gäbe eine schnelle und einfache Lösung für ein strukturelles Problem. Letztlich aber verhindere dies, dass sie sich tatsächlich mit den Strukturen beschäftigen und so zu einer langfristigen Lösung beitragen. Ursprünglich war das Konzept des Disability Dongles als scherzhafte Reaktion auf ein System gedacht, in dem Menschen mit Behinderungen innovative Technologien testen, die es letztlich nie auf den Markt schaffen. 

Google Glasses

Ein Dongle ist ein Adapter, also z. B. diese nervigen Zwischenstücke, die man benötigt, wenn man einen USB-Stick in einen Laptop stecken will, der nur noch USB-C-Eingänge hat. Ein Beispiel für so einen Disability Dongle ist laut Jackson z. B. eine Brille von Google (Google Glasses). Sie sollte autistische Kinder dabei unterstützen, Augenkontakt mit ihren Mitmenschen zu halten und deren Emotionen zu verstehen. Jackson und Co-Autor*innen kritisieren, dass das Narrativ rund um die Brille sich darum drehte, autistischen Personen zu Verhaltensweisen zu bringen, die die Dominanzgesellschaft erwartet. Es wurde problematisiert, dass autistische Kinder sich nicht „anpassen“, anstatt die Frage zu stellen, warum Kommunikation den Normen der Dominanzgesellschaft entsprechen sollte. Durch diese „Lösung“ werden ableistische, normative Erwartungshaltungen nur weiter gestärkt, was langfristig zu großem Schaden für die Community autistischer Menschen führen würde. Jackson kritisiert weiter, dass Menschen mit Behinderungen von Medien selten als die Expert*innen behandelt werden, die sie sind. Es wird nicht mit ihnen gesprochen, sondern über sie, weshalb sie letztlich immer nur in der Kommentarspalte abgebildet werden und nicht im eigentlichen Artikel. Ein*e autistische*r Leser*in des New York Times Artikels über die Google Glasses namens Laura schreibt (aus dem Englischen übersetzt): „Warum sollte man sich nicht darauf konzentrieren, Nicht-Autist*innen dazu zu bringen, Unterschiede in der sozialen Kommunikation zu akzeptieren, anstatt Autist*innen zur Anpassung zu zwingen? Augenkontakt kann schmerzhaft und schwierig sein und ist für die Kommunikation oder das Erkennen von Emotionen nicht notwendig.“ 

AR-Brillen

Ein weiteres Beispiel sind AR (Augmented Reality) Brillen, die angeblich in Echtzeit Untertitel generieren, während eine Person spricht. Augmented Reality bedeutet, dass die echte Umwelt, also Realitätssituationen, durch von Computern generierte visuelle, auditive oder andere Stimuli erweitert werden. In diesem Fall schlugen nicht behinderte Menschen vor, dass die AR Brille tauben Menschen bei der Kommunikation helfen soll, indem die Brille für sie Untertitel generiert. Eine Person aus der Tauben Community sagt dazu (aus dem Englischen): „[Die] Untertitel stimmen nicht immer und ich kann mir nicht vorstellen, wie das sein soll, wenn ich mich in der Öffentlichkeit bewege und überall Untertitel von allen Unterhaltungen um mich herum auftauchen. Überhaupt, ich trage bereits eine Brille … Macht es besser!“ Als Reaktion wurde der Person von einer nicht behinderten Person erklärt, dass wir alle dankbar dafür sein sollten, wenn Kommunikationsbarrieren abgebaut werden (ablesplaining). 

Schuhe für Blinde 

Ein weiteres Beispiel für nutzlose Lösungen auf Probleme, die behinderte Menschen nicht haben, sind laut der Blogautor*innen auch Schuhe für blinde Menschen der Firma „Lechal“, einer „smart footwear company“, die letztlich den Langstock ersetzen sollen (ohne dass blinde Menschen da jemals darum gebeten hätten). Die Firma rechtfertigt ihr Produkt mit (übersetzt aus dem Englischen): „Das am häufigsten von Menschen mit Sehbehinderung verwendete Hilfsmittel hat sich in mehr als 100 Jahren kaum verändert, auch wenn die Technologien sprunghaft vorangeschritten sind. Unsere Herausforderung bestand darin, eine einfache Lösung für ein Problem zu finden, an dessen Lösung nur wenige gedacht hatten […].“ Jackson kritisiert, dass das Marketing-Narrativ völlig ignoriert, dass „nur wenige daran gedacht haben, dieses Problem anzugehen“, weil es sich tatsächlich nicht um ein Problem handelt. Blinde und sehbehinderte Menschen verwenden schon seit langer Zeit Blindenstöcke, weil diese zuverlässige, kostengünstige Hilfsmittel sind, die ihren Bedürfnissen gerecht werden. Der Langstock muss also nicht verbessert oder ersetzt werden. Gleichzeitig werden laut Jackson immer und immer wieder dieselben „Innovationen“ erfunden, sodass Ressourcen immer wieder für Dinge aufgewendet werden, die für die Behindertencommunity keinen Nutzen haben. Das lege nahe, dass solche Technologien gar nicht dafür gedacht sind, dass sie von behinderten Menschen genutzt werden. Sie sollen viel mehr die Erfinder*innen zu Ansehen führen und eine Zukunft versprechen, in der Designideen alle Probleme für Menschen mit Behinderungen lösen würden. 

Denn sie wissen nicht, was sie tun

2020 habe ich auch schon über nutzlose Innovationen geschrieben, die Menschen mit Behinderungen nicht brauchen, wie Rollstühle im „Segway-Style“, in denen man steht, Exoskelette (unpraktisch, verletzungsanfällig, beansprucht die ansonsten freien Hände) oder ein laufendes Taxi von Hyundai in „Transformer Class“ (viel Aufwand, wenig Nutzen). Gemeinsam haben all diese Produkte, dass sie den Körper als Problem ansehen, was er nicht ist. Er ist, was wir haben, und das ist gut so. Nicht nur das. Die Produkte bzw. das Mindset dahinter suggerieren eine Norm (bspw. der Mensch steht fest auf zwei Beinen), die es nicht gibt. Gemeinsam ist ihnen auch, dass sie mit Superlativen um sich schmeißen und unheimlich hip daherkommen – oder was gewisse Leute dafür halten. Und am Ende des Tages kann man sie nie kaufen. Entweder, weil es immer Prototypen bleiben oder sie sündhaft teuer sind und keine Krankenkasse sie zahlen würde. Alles Kriterien eines Disability Dongles, wie ich jetzt weiß. 

Positive Beispiele

Aber es sind auch nicht alle neuen Technologien Disability Dongles. Beispielsweise kann eine Sprachassistenz wie Alexa (alternativ natürlich auch Siri und Co.) Menschen mit Behinderungen in ihrem Alltag unterstützen, indem sie Sprachkommandos geben, um z. B. die Lichthelligkeit im ganzen Haus zu regulieren oder mittels Videoanrufe die Persönliche Assistenz in einem anderen Raum zu kontaktieren. Ein weiteres positives Beispiel ist der Xbox Adaptive Controller von Microsoft, über den Anita Mortaloni, Director of Accessibility Xbox, sagt, er sei mehr als „nur“ ein Produkt, das es Spieler*innen mit Behinderungen ermöglicht, Spiele zu spielen, zu denen sie zuvor keinen Zugang hatten. „Es hat zu einer Diskussion darüber geführt, dass Barrierefreiheit über Funktionen wie Untertitel und Schwierigkeitsstufen hinausgehen kann, und hat gezeigt, dass wir wirklich innovativ sein und die Bedürfnisse von Menschen erfüllen können, die zuvor von Gaming ausgeschlossen waren.“ Der Controller fungiert dabei ein bisschen wie der Goldstandard, der der ganzen Branche zeigt, wie Barrierefreiheit richtig geht. Und er ist wirklich kaufbar!

Nicht für, sondern mit behinderten Menschen designen

Was die Designer des Xbox Controllers verstanden haben, ist, dass der Schlüssel zum Erfolg darin liegt, nicht FÜR, sondern vielmehr gemeinsam MIT Menschen mit Behinderungen zu gestalten. Menschen mit Behinderungen sind die wahren Expert*innen, wenn es darum geht, Produkte zu entwickeln, die ihre Bedürfnisse bestmöglich erfüllen. Nur wenn nicht-behinderte Designer*innen und Ingenieur*innen auf die Perspektiven von Menschen mit Behinderungen hören, entsteht eine Symbiose aus Kreativität und Funktionalität, die nicht nur die Bedürfnisse behinderte Menschen adressiert, sondern oft auch die Gesellschaft insgesamt bereichert. 

Fazit: Normative Standards und Wohlfühlgeschichten für nicht behinderte Menschen

Disability Dongles projizieren die normativen Standards der Dominanzgesellschaft auf behinderte Menschen, indem sie einen potenziellen „Makel“ „heilen“, wie im Fall der Google Glasses die Kommunikation autistischer Menschen. Gleichzeitig präsentieren die Medien Disability Dongles als Wohlfühlgeschichten, sodass sich die Dominanzgesellschaft nicht mit tatsächlicher Inklusion beschäftigen oder Barrieren wirklich abbauen muss. Den Entwickler*innen von Disability Dongles ist überhaupt nicht bewusst, welche Barrieren für behinderte Menschen existieren und wie diese zu lösen wären, weil sie nicht mit behinderten Menschen sprechen. Mittels Disability Dongles fokussieren wir stattdessen auf von der Dominanzgesellschaft generierte Probleme, die keine sind und ignorieren dabei die tatsächlichen Hürden. Jackson schreibt dazu: „Im Klartext geht es beim Entwurfsprozess für einen Disability Dongle nicht um die Herstellung eines Hilfsmittels, sondern darum, eine Vorstellung davon zu entwickeln, was Behinderung ist. Die Technologien, Medien und kulturellen Artefakte, die Behinderung als bedauernswert und Technologie als Retterin reproduzieren, sind der springende Punkt.“ Disability Dongles tragen nicht zu Inklusion bei. Wahre Innovation und Fortschritt sind nur möglich, wenn Designer*innen, Ingenieur*innen und Entwickler*innen die tatsächlichen Bedürfnisse und Herausforderungen der betroffenen Community verstehen und respektieren.



8 Antworten zu “„Disability Dongle“: Wenn nicht behinderte Lösungen für behinderte Menschen kreieren”

  1. Ich frage mich oft, warum Designer*innen/Architekt*innen/usw sich nicht mit Behinderten zusammensetzen. Das fängt doch schon bei simplen Dingen an wie Geschäfte (warum wird eine notwendige Säule mitten in den Gang und nicht in die Regalreihe geplant, wenn man einen Markt bestückt) oder barrierefreie Hotelzimmer (Zimmer ist top barrierefrei, viel Platz, breite Türen, riesige Dusche, es gibt sogar Parkplätze am Haus, aber das Hotel selber ist vorn nur über Stufen und hinten über mehrere Meter Kiesweg betretbar und die Einfangs-/Zwischentüren gehen nicht automatisch; erlebt in Flensburg).

  2. Schöner Beitrag, der ein grundsätzliches Problem beim Produktdesign aufzeigt. Viel zu oft geht es um die Selbstverwirklichung/Selbstverliebtheit seitens Designer*innen, aber viel zu wenig wird auf Usability geachtet. Ein schönes Beispiel ist immer wieder die Barrierefreiheit: Es ist jedem geholfen, wenn man ohne Stufen in einen Zug kommt (FEX Berlin mit zwei Koffern, da wird es trotz genügend eigener Muskelkraft und ausreichend Cardiofitness doch irgendwann eng) und womöglich dann das Gepäck noch in die Ablage packen könnte (die aber für Reisekoffer zu klein ist).
    Ich habe auch ohne Sehbehinderung als „Normaluser“ einen Benefit, wenn Schriften in einer App lesbar sind und die Farben zueinander passen.
    Ampelphasen die man zu Fuß auch ohne Sprint schaffen kann, ein Gehsteig ohne Stolperfallen, breit genug und nicht zuparkbar. An vielen Stellen fragt man sich, wer sich beim Entwickeln eines Produkts wirklich den User im Fokus hatte (LinkedIn Follower Tipp: Tom Goodwin)

  3. Lebende sollten nicht als Totengräber arbeiten, weil sie nur zu leicht Bedürfnisse der Toten postulieren, die mit deren Realität nichts zu tun haben.

  4. Aus der IT kenne ich das leidige Argument: nicht unsere Zielgruppe. Ich finde es ist ein Unding auf Usability und Barrierearmut mit so einem Argument zu pfeifen und musste diese Debatte leider viel zu häufig führen, weil zu wenig Einsicht und Problembewusstsein existiert 🙁

    • Im Zweifelsfall mal den Hinweis auf den European Accessibility Act (EAA) und das daraus resultierende Barrierefreiheitstärkungsgesetz (BFSG), geben.
      Die Funktionen „Messenger-Dienste“ und „elektronischer Geschäftsverkehr“ sind ab 2025 barrierefrei zu gestalten.

  5. Das erinnert mich an so sinnvolle Dinge wie Kaffeetassen für Linkshänder oder Bleistifte für Linkshänder. Aber wenigsten haben die ein eigenesn Emoji 🙂 (-:

    Mikrometerschrauben und Spannungsprüfer dagegen sucht man, wie viele Meßgeräte, vergeblich.

  6. Oder noch’n schönes Beispiel als Blinder in Berlin. Bei den BVG Bussen ist seit sehr vielen Jahren auf den „Haltwunsch Knöpfen“ ein Braille „S“ erhaben tastbar. (Wozu sonst sind wohl diese Knöpfe, dass wissen auch wir Blinden!) Ich hab‘ dann meinen Freunden immer erzählt, dass da S für Steuerung stünde, die aber nur funtioniere, wenn ein Blinder den Knopf drückt; Mit einem Geheimcode, den nur wir Blinden kennen würden… . Aber die wirklich sinnvolle Erfindung durch einen Ton zu quittieren, dass dieser Knopf gedrückt wurde, kam erst sehr viele Jahre später! Und dass diese Knöpfe in jedem Bustyp immer an den gleichen Stellen sind, darauf sind die Designer immer noch nicht gekommen… .

  7. Vielen Dank für diesen Artikel. Wir haben als Startup auch ein Hilfsmittel für blinde Menschen entwickelt (feelSpace naviGürtel) und die Sorge in diese Falle zu tappen, hat bei uns dazu geführt, dass wir von Anfang an mit blinden Menschen gemeinsam entwickelt haben. Schnell hatten wir auch einen blinden Mitarbeiter an Board der uns durch seine Begeisterung und auch durch sein kritisches Feedback zum Glück davor bewahrt hat in die ein oder andere Falle zu tappen. Ich als sehende Person habe im Laufe der Jahre so viel über die tatsächlichen Alltags-Herausforderungen blinder Menschen gelernt, das hätte ich zu Gründungszeit unseres Startups alles noch nicht gewusst. Nur durch den direkten Kontakt mit den betroffenen Personen während der gesamten Entwicklungszeit, hat dafür gesorgt, dass wir nun ein Hilfsmittel entwickelt haben, was wirklich hilft und auch von vielen gerne und täglich genutzt wird.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Einmal die Woche gibt es von mir handgepflückte Links aus aller Welt zu den Themen Inklusion und Innovation in meinem Newsletter. Kein Spam. Versprochen.

Die vergangenen Ausgaben gibt es hier.




If you’re interested in our english newsletter
„Disability News Digest“, please subscribe here!