Nichts ohne uns

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft müssen Menschen mit Behinderung vorangehen. Heute am 5. Mai, dem Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung, sollte uns ganz besonders bewusst werden, wie wichtig es ist, dass wir unser Schicksal in die eigene Hand nehmen.
Alles beim Alten
Ganz unzweifelhaft leben wir alle – Menschen mit und ohne Behinderung – nach wie vor in einer Welt, die auf die Bedürfnisse von nicht behinderten Menschen optimiert ist: Treppenstufen, fehlende Blindenleitsysteme, zu wenig Texte in einfacher Sprache und vieles mehr.
Zu oft kommen Menschen mit Behinderung an massive Grenzen, die einzig und allein durch fehlende Barrierefreiheit entstehen.
Das ist ärgerlich und meistens auch vollkommen unnötig.
Frustration und Wut entsteht. Man schimpft und meckert über diese Ungerechtigkeiten. Irgendwann ist die Wut verraucht und alles bleibt beim Alten. Bis man auf die nächste Barriere/Ungerechtigkeit/Diskriminierung stößt und alles von vorne beginnt.
Eines ist allerdings sicher: Meckern alleine bringt nichts – weder Veränderung noch neue Perspektiven. Schimpfen mag zunächst durchaus hilfreich sein: Man kann seiner Wut Luft machen, Dampf ablassen. Aber wenn die freigesetzte Wut nicht nicht in eine Tat mündet, steckt man irgendwann einem Wutkreis:

Wutkreis
Wutkreis
Eine Chance auf Veränderung
Eine hilfreiche Reaktion auf Ungerechtigkeit ist Frustration, die zur Wut wird, die einen zum Handeln bewegt. Wir dürfen nicht beim Punkt “Wut” stecken bleiben.
Das Handeln kann ganz klein beginnen. Zum Beispiel mit etwas, das man selbst in der Hand hat: Der Veränderung des eigenen Verhaltens.
Dabei geht es nicht darum, dass ich mein Verhalten den Gegebenheiten anpasse.
Ein Beispiel: Ich bin bisher gezwungen, mit dem Sachbearbeiter meiner Bank auf der Strasse zu sprechen, weil das Bankgebäude nicht barrierefrei ist. Ich nehme dies bisher als unveränderbar hin, weil es genau das ist, was meine Bank mir bisher suggeriert: “Es geht nicht anders.” Und damit ihr Problem der nicht vorhandenen Barrierefreiheit erfolgreich auf mich auslagert.
Meine Verhaltensänderung könnte sein, dies nicht mehr hinzunehmen. Mich stattdessen zu beschweren, mit Vorgesetzten zu reden, klar zu machen, dass ich diese Behandlung nicht mehr hinnehme, sondern als behinderter Kunde das gleiche Recht wie allen anderen darauf habe, meine Privatsphäre gewahrt zu wissen und in der Filiale bedient zu werden. Und damit das von der Bank auf mich verlagerte Problem an die Problemerzeuger*innen zurückzugeben.
Wenn die Veränderung meines Verhaltens noch keine Änderung des Problems bewirkt, könnte der nächste Schritt sein, mir Gleichgesinnte zu suchen. Die Sozialen Medien erleichtern das ungemein – aber auch offline kann man sich nach Vereinen umschauen, die ähnliche Interessen verfolgen. Ich schätze hier die Arbeit des Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e. V. – ISL sehr.
Und so kann jeder Schritt größer und weiter werden: Eine Online-Petition zu starten, einen Blog zu schreiben, in den Sozialen Medien auf das Thema aufmerksam zu machen, an einer Demo zum Thema teilzunehmen – und schließlich selbst eine Demonstration zu organisieren.
Wenn ich bei meinem persönlichen Beispiel bleibe – meiner nicht barrierefreien Bankfiliale – klingt eine Demo zu massiv. Aber das Thema Barrierefreiheit ist ein Thema, das viele Menschen mit Behinderung in unterschiedlichen Lebensbereichen betrifft. Und so wird es dann zu einem gemeinsamen Thema, das durchaus große Aktionen wie Demonstrationen wert ist.
Ich kann nicht versprechen, dass diese Aktionen tatsächlich von Erfolg gekrönt sein werden – aber sie bieten wenigstens eine Chance für Veränderungen.
„Wege entstehen dadurch, dass man sie geht.“
Oder fährt. Was dieses Zitat von Franz Kafka uns sagen will: Wir müssen uns auf den Weg machen, damit ein Weg entstehen kann. Zunächst nur ein kleiner Trampelpfad – und später vielleicht eine dreispurige Straße, auf der unterschiedlichste Menschen gut vorankommen.
Aber wenn wir stehenbleiben und lediglich schimpfen, kann nicht mal ein Trampelpfad entstehen.
Für Menschen mit Behinderung gilt dieses Credo in besonderen Maße, denn noch immer sind wir zahlreichen Formen der Diskriminierung ausgesetzt und unsere Forderungen bleiben ungehört. Egal ob es um fehlende Barrierefreiheit, zu geringe Chancen auf dem Arbeitsmarkt oder um ein Teilhabegesetz geht, das uns in die Altersarmut zwingt.
Wir sollten nicht über Ungerechtigkeiten jammern und darauf hoffen, dass sich irgendwann möglicherweise jemand unseres Problems annimmt. Wir selbst sind gefragt, wir müssen aktiv werden, uns zusammenschließen und für unser Recht kämpfen.
Selbstbestimmt entscheiden
Viele Menschen mit Behinderung sind von klein auf daran gewöhnt, dass andere für sie Entscheidungen treffen. Erst sind das die Eltern – wie natürlich bei Kindern ohne Behinderung auch, bei denen endet dies in den meisten Fällen irgendwann. Anschließend übernehmen oftmals Behinderteneinrichtungen die Organisation des Alltags: Immer weiß irgendjemand anderes, was gut und richtig für den behinderten Menschen ist.
Aber selbst wenn ein Mensch mit Behinderung ein grundsätzlich selbständiges Leben führt, sorgt immer noch der Gesetzgeber dafür, dass behinderte Menschen – besonders, wenn Assistenzbedarf besteht – viele Entscheidungen nicht wirklich frei treffen dürfen.
Wir Menschen mit Behinderung selbst sind die einzigen, die unsere eigenen Bedürfnisse richtig einschätzen können. Und wenn wir bevormundet werden und unsere Autonomie angegriffen wird, müssen wir wütend werden. Und wir müssen laut werden, um uns Gehör zu verschaffen.
Und schließlich müssen unsere Worte müssen zu Taten.
Denn sonst entscheiden weiterhin andere über unsere Köpfe hinweg darüber, was vermeintlich gut für uns ist.
Was tun?
Menschen mit Behinderung können sich zum Beispiel in Vereinen und Netzwerken engagieren, die sich mit ihren Anliegen befassen. Unter anderem gibt es den Verein Führungskräfte mit Behinderung von Leadership Berlin oder das Projekt CASCO.
Aber wir müssen noch viel langfristiger planen. Damit Menschen mit Behinderung genau dort Einfluss nehmen können, wo Entscheidungen getroffen werden – in NGOs, in den Führungsetagen der Wohlfahrt und in der Politik – ist gute Bildung und die notwendige Qualifizierung unabdingbar.
Solange man also Kinder und Jugendliche mit Behinderung an Förderschulen und Behindertenwerkstätten aussortiert, werden sie nie die fachliche Kompetenz entwickeln können, um in berufliche Entscheider*innen-Positionen zu gelangen.
Deshalb ist Schul-Inklusion eine der wichtigsten und nachhaltigsten Bedingungen für echte Teilhabe. Damit behinderte Jugendliche gute Ausbildungschancen bekommen und Erwachsene mit qualifizierter Ausbildung auf einem inklusiven Arbeitsmarkt zu Entscheidern werden können.
Nicht klagen, sondern anpacken, so lautet das Motto.
Damit die nächste Generation nichts mehr zu meckern hat.
(sb)
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Foto: Jörg Farys | Gesellschaftsbilder.de



Eine Antwort zu “Nichts ohne uns”

  1. Ich finde Raul und seine Projekt super. Gerade das Projekt „Nichts ohne uns“ ich selbst nehme auch an Veranstaltungen am 5. Mai, dem Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung, teil.

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