Was fehlt: Vielfalt in Kinderbüchern

Das Logo zu KIMBUK, dem vielfältigen Kinderbuchfestival: Ein gestreiftes Chamäleon
Am vergangenen Wochenende fand das erste vielfältige Kinderbuchfestival Deutschlands KIMBUK statt. Als Mit-Organisator wurde mir aufgrund der großen Nachfrage und der vielen Gespräche, die ich erleben durfte, erneut bewusst: Wir alle müssen aktiv werden und unseren Kindern vielfältige Erfahrungen schon früh in Kinderbüchern ermöglichen.
Mögen Jungen keine weiblichen Kinderbuch-Heldinnen?
Viele Verlage, Autoren*innen, Eltern, Pädagogen*innen und Menschen, die etwas mit Kinderbüchern zu tun haben, eint oft die Vorstellung: Je privilegierter ein Kind ist, desto weniger interessiert es sich für Kinderbuchhelden*innen, die zu marginalisierten Gruppen gehören.
Die klischeebehafteten Ideen sind:

  • Jungs lesen keine (oder kaum) Bücher, deren Hauptfigur weiblich ist.
  • Mädchen hingegen mögen durchaus Geschichten mit männlichem Hauptcharakter.
  • Weiße Kinder können sich nicht mit Helden*innen of Color identifizieren.
  • Von Lesern*innen of Color wird allerdings erwartet, dass sie sich mitgemeint fühlen, wenn fast immer weiße Hauptcharaktere die Geschichten bestimmen.
  • Behinderte Kinderbuch-Helden*innen sind – wenn überhaupt – nur etwas für Kinder mit Behinderung.

Aber stimmt das? Fühlen sich schwarze Kinder tatsächlich mitgemeint, wenn die Protagonisten*innen weiß sind? Können Jungs mit Heldinnen nichts anfangen? Und wäre eine behinderte Figur, die zudem die Merkmale aktiv, stark und selbstbestimmt mitbrächte, eine Überforderung für nichtbehinderte Leser*innen?

Illustration von drei weißen Jungen, die gespannt ein Buch lesen. Auf dem Buch-Cover ist ein schwarzes Mädchen abgebildet, der Buchtitel ist “Detektivin Anna löst den Fall!”. Einer der Jungen sagt: “Jetzt blätter endlich um! Ich will wissen, wie es weitergeht!”

Die Antwort auf die erste Frage ist ganz klar: Nein, schwarze Kinder fühlen sich nicht mitgemeint, wenn starke Kinderbuchhelden*innen fast immer weiß sind. Ebenso wenig wie Kinder mit Behinderungen sich mitgemeint fühlen, wenn sie grundsätzlich nicht behinderte Helden*innen erleben. Und Jungs können durchaus weibliche Kinderbuch-Heldinnen spannend finden – wenn man sie lässt. Protagonistinnen wie Pippi Langstrumpf (deren Geschichten aus rassismuskritischen Gründen teilweise schwierig sind), Ronja Räubertochter, Matilda und Momo zeigen ja bereits, dass es geht. Und dass eine spannende und mutige Kinderbuch-Hauptfigur mit Behinderung, die in einem Mainstream-Verlag für ein Massenpublikum veröffentlicht würde, eine Überforderung für nicht behinderte Kinder wäre – der Beweis muss erst noch erbracht werden.
Wenn Kinder, die selbst ein Diskriminierungsmerkmal besitzen, immer und immer wieder erleben, dass sie sich selten bis nie in Kinderbuch-Helden*innen widergespiegelt sehen, hat das negative Auswirkungen. Das ist eine sehr intensive Diskriminierungserfahrung in einem Alter, in dem die Identitätsentwicklung gerade in vollem Gange und noch lange nicht abgeschlossen ist.
“Alle Kinder, die in Kinderbüchern vorkommen, gehören dazu, sind Teil dieser Welt.” (Jana Kühn, KIMBUK-Mitorganisatorin von VIEL & MEHR). Und folgerichtig gehören dann Kinder, die sich nicht wiederfinden, nicht dazu.
Zudem wird weißen Kindern die Möglichkeit vorenthalten, sich mit Kinderbuchhelden*innen of Color zu identifizieren und die Vielfalt ihrer Umwelt auch in prägenden Kinderbüchern zu erfahren.
Zu wenige vielfältige Kinderbuchhelden*innen
Die Psychotherapeutin Elisabeth Jürgens und die Psychologin Prof. Dr. Ruth analysierten zwölf Bücher, die 2007/2008 vom Deutschen Jugendliteraturpreis im Bereich “Bilder- und Kinderbuch” für Kinder bis sechs Jahren empfohlen wurden, bezüglich geschlechtsstereotyper Darstellungen.
Sie untersuchten die Bücher nach folgenden Kriterien:

  • Gattung der dargestellten Figuren (Mensch, Tier, Fabelwesen)
  • Geschlecht der Figuren (männlich, weiblich, neutral)
  • Rollenbedeutung (Hauptrolle, Nebenrolle, ohne Rollenbedeutung)
  • Nennung der Hauptperson im Titel (männlich, weiblich, männlich & weiblich, neutral, keine Nennung)

Dabei stellten sie u.a. fest, dass fast 60% der Hauptcharaktere männlich waren und sich je ca. 20 Prozent auf weibliche und neutrale Hauptfiguren verteilte. In einigen Büchern kamen nicht mal weibliche Nebenfiguren vor. Die Geschlechterrollen hatten sehr unterschiedliche Merkmale: Während die weiblichen Protagonistinnen oft als “dumm, unwissend, hilflos, passiv oder böse” dargestellt wurden, waren die männlichen häufig positiv, aktiv und machten eine wünschenswerte und spannende Entwicklung durch.
Nur drei der zwölf Buchtitel bezogen sich auf eine weibliche Haupt- bzw. Nebenfigur, wobei nur eine der Titelfiguren als positives Vorbild fungieren kann, die anderen beiden wurden unter Gendergesichtspunkten problematisch dargestellt.
Bezogen auf People of Color als Kinderbuchhelden*innen sieht es in Deutschland noch schlechter aus als im Bereich Geschlechtergerechtigkeit. Eine Statistik diesbezüglich gibt es bisher nicht. Aber es gibt Schätzungen nach denen in 95% der in Deutschland erschienenen Kinderbücher keine People of Color vorkommen – nicht mal als Nebenfiguren. Eine Untersuchung des US-amerikanischen Marktes (THE DIVERSITY GAP IN CHILDREN’S PUBLISHING, 2015) stellte fest, dass zwar 37% der US-Amerikaner People of Color sind, aber in nur in 10% der Kinderbücher People of Color als Protagonisten vorkommen – dabei wurden nicht nur die Hauptfiguren gezählt.
Welche gesellschaftliche Rolle spielen Kinderbücher?
Egal, ob Kinder in einem Elternhaus groß werden, in dem Bücher von Anfang an dazu gehören oder nicht: Spätestens im Kindergarten wird das kindliche Weltbild durch Kinderbücher mitgeprägt. Und Kinder machen hier schon früh einschneidende Erfahrungen: Wer sind üblicherweise die Helden*innen in Kinderbüchern? Wie werden Geschlechterrollen dargestellt? Gibt es Mütter, die einer Arbeit außerhalb des Hauses nachgehen? Gibt es vielfältige Familienkonzepte, Regenbogenfamilien, Einelternfamilien? Können sich alle Kinder in den Hauptcharakteren wiederfinden? Auch Kinder mit Diskriminierungserfahrungen? Werden Menschengruppen klischeehaft dargestellt und dadurch falsche Ideen in Kinderköpfe gepflanzt?
Dass Kinder hier positive und vielfältige Prägungen erfahren, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe – auch für Nicht-Eltern und Nicht-Pädagogen*innen.
Meine persönlichen Erfahrungen mit Kinderbüchern
Ich selbst verbinde eher negative Kindheitserfahrungen mit Büchern. Dass ich von meiner Umwelt möglicherweise als “andersartig” und als Belastung gesehen werden könnte, wurde mir erst durch ein Kinderbuch bewusst. Ich fühlte mich beschämt nach der Lektüre. Auch weitere Bücher, die explizit das Thema Behinderung bearbeiteten, fand ich als Kind eher unangenehm: zu moralisierend, zu ernst – zu wenig Abenteuer und Spaß.
Das einzige Kinderbuch, in dem ich mich als behindertes Kind positiv widergespiegelt sah, ist “Lauf, kleiner Spatz” von Brigitte Weninger und Anna Anastasova. Leider ist das Buch mittlerweile vergriffen.
KIMBUK, das vielfältige Kinderbuchfestival
So wichtig ich bisher das Thema Vielfalt in Kinderbüchern fand – ich war mir oft unsicher, ob das Thema auch bei anderen brennt, ob jetzt die Zeit für Veränderung in diesem Bereich gekommen ist. Vor zwei Jahren hielt ich einen Talk auf der re:publica zum Thema Vielfalt in Kinderbüchern. Die Recherchen im Vorfeld zeigten zwar, dass Diversity in Kinderbüchern eindeutig fehlt – aber würde das Thema vor breitem Publikum auf Interesse stoßen?
Die Reaktionen waren eindeutig: Ja! Menschen mit und ohne Diskriminierungserfahrungen fanden das Thema extrem wichtig, hatten viele Fragen und viele Anregungen. Was tun mit so viel Feedback? Ein eigenes Kinderbuch schreiben? Artikel in vielen relevanten Medien veröffentlichen? Oder ein Festival veranstalten, um möglichst viele Menschen miteinander zu vernetzen? Zusammen mit Jana Kühn (VIEL & MEHR), Gabriele Koné (ISTA) und Suse Bauer (/RevoluzZza) fiel die Entscheidung: Ein Kinderbuchfestival soll es sein.

Das Logo zu KIMBUK, dem vielfältigen Kinderbuchfestival: Ein gestreiftes Chamäleon

Großartige Experten*innen berieten uns in Bereichen, von denen wir keine Ahnung hatten und in denen wir selbst keine Diskriminierungserfahrungen haben. Wir haben viele tolle und spannende Referent*innen gefunden, die mit uns in das Abenteuer KIMBUK starteten. Keine*r von uns wusste, ob das Festival genügend Menschen interessieren würde, um die Werkstatt der Kulturen zu füllen. 260 verkaufte Tickets bis zum Festival-Tag waren nicht viel für die gewählte Location. Es kamen schließlich über 600 Menschen, Workshops waren ausgebucht, es wurde viel gelacht, genetzwerkt und viele Besucher*innen blieben weitaus länger, als wir gedacht hatten.

Joana Adu-Gyamfi liest ein Buch vor einem Publikum vor, auf einer Leinwand hinter ihr sieht man ein Buch-Cover „The Hate U Give“ von Angie Thomas
Joana Adu-Gyamfi liest the „The Hate U Give“.
Es herrschte eine fröhliche und angeregte Volksfest-Atmosphäre. Zwischendurch gab es ein bisschen Frust, weil einige Workshops wegen Überfüllung geschlossen werden mussten. Aber rückblickend bin ich immernoch vollkommen hin und weg von den vielen großartigen Festival-Besuchern*innen, dem tollen Feedback und der Atmosphäre, die noch immer in mir nachhallt.
Erwachsene und Kinder schauen sich Bücher an einem Büchertisch an, im Hintergrund weitere Menschen. Vorurteilsbewusste Kinderbücher am Büchertisch des ISTA
Vorurteilsbewusste Kinderbücher am Büchertisch des ISTA.
Mit den Erfahrungen des ersten Festivals würden wir jetzt vieles anders (eine größere Location mieten), aber vieles wieder genauso machen, wie es am letzten Wochenende stattfand.
KIMBUK wird es auch im nächsten Jahr geben und wir sind gespannt, welche Entwicklungen auf dem Kinderbuchmarkt sich im kommenden Jahr ergeben werden.
Grafiken: Suse Bauer
Fotos: Carsten Thesing
(sb)
Dieser Artikel entstand in Zusammenarbeit mit Suse Bauer.
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7 Antworten zu “Was fehlt: Vielfalt in Kinderbüchern”

  1. Mich hätten die Bücher interessiert, mit denen du so negative Erfahrungen gemacht hast.
    Es gab und gibt aber auch immer mal wieder Bücher, die in die richtige Richtung gehen. Ich denke da zum Beipsiel an die Vorstadtkrokodile, und den Detektiv-Gentleman Thabo.

  2. Hallo Raul Krauthausen,
    vielen, vielen Dank für dieses wunderbare Festival! Ich bin begeistert.
    Am Meisten habe ich mich gefreut über die Möglichkeiten, nicht nur viele Bücher anzusehen / zu lesen, sondern dabei auch gleich mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen, die ebenso und anders achtsame und reflektierende Haltungen mitbrachten. Ich habe sehr spannende Unterhaltungen geführt und Neues gelernt.
    Und: ich habe mit einem Bücher-Budget meines Kindergartens so einiges gekauft.
    Jetzt haben wir schon einige spannende Bücher gelesen und spannende Unterhaltungen dazu geführt über Kinderrechte, über einfache Sprache und Braille-Schrift, … es bereichert sehr 🙂
    Ich wünsche mir sehr, dass es dieses Festival auch in Zukunft geben wird. Es ist so wertvoll.
    Ich glaube sogar, das Festival hätte Potential für mehrere Tage.
    Vielen, vielen Dank!

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