Werden Menschen mit Behinderung in Talkshows, zu Diskussionen oder in Unternehmen eingeladen, geht es nur selten um ihre berufliche Expertise. Oftmals stehen die Behinderung und ihr Umgang damit im Fokus. Das ist in Ordnung, wenn es wirklich darum geht, aus diesen Erfahrungen etwas abzuleiten oder zu lernen. Meistens jedoch zielen diese Auftritte auf einen emotionalen Seelen-Striptease ab, der unsere Gesellschaft nicht einen Meter weiter bringt.
Manchmal sind Menschen mit Behinderung gefragte Talk-Gäste. Sie werden eingeladen, um über ihre Alltagserfahrungen, Diskriminierung, Empowerment, die Schwierigkeiten am ersten Arbeitsmarkt oder über ihre sportlichen Erfolge zu referieren. Das ist grundsätzlich gut und richtig – auch ich äußere mich zu zahlreichen Themen, die etwas mit Behinderung zu tun haben. Schließlich kann ich an dieser Stelle meine eigene Erfahrung einbringen.
Kritisch werden solche vermeintlichen Expertengespräche allerdings, wenn der behinderte Mensch nur als Staffage dient, um andere emotional zu berühren. Oft genug haben so genannte, Diversity Manager oder eben jene, die Menschen mit Behinderung zu verschiedenen Diskussionen und Workshops einladen, ein vorgefertigtes Bild davon, was diese erzählen sollten oder wie sie zu sein haben. In diesem Fall möchte das Publikum nicht wirklich von der Expertise seiner Gäste profitieren, sondern sucht Bestätigung oder will sich besser fühlen, weil es einem behinderten Menschen eine Plattform geboten hat. Den Zuhörern geht es eher darum, eine Schicksalsstory zu hören und wie diese Person das Schicksal überwunden hat – ohne, dass das Publikum tatsächlich etwas an ihrer Weltanschauung ändern oder sich den realen Herausforderungen, etwa in ihrem Unternehmen, stellen möchten.
Das Tragische daran ist, dass die Gastgeber oder Diversity-Beauftragten diese Dynamik nicht bewusst erkennen. Vielmehr glauben sie tatsächlich, sie würden gleichermaßen etwas Gutes für ihre Zuschauer oder ihr Team sowie für die behinderten Expertinnen und Experten tun. Um hier nicht in die Mitleidsfalle zu tappen, sollten Menschen mit Behinderung, die aufgefordert werden, „ihre Geschichte“ zu erzählen, auf ihr Bauchgefühl hören und die Idee hinter der Veranstaltung zumindest hinterfragen. Geht es vielleicht nur um weichgespülte Floskeln? Will das Publikum wirklich etwas von struktureller Benachteiligung, von diskriminierenden Gesetzen oder Gewalt in Behinderteneinrichtungen hören? Sind sie bereit, die eigene Haltung zu hinterfragen? Oder geht es ihnen nur darum, den Referierenden für die schwere Kindheit zu bemitleiden, voyeuristisch etwas über Krankheiten und Behinderungen zu erfahren und anschließend zu sagen, wie inspirierend seine bzw. ihre Stärke für sie ist?
Mitleid schafft keine Benachteiligung ab
Jede und jeder von uns muss individuell entscheiden, wie weit sie oder er sich emotional nackig machen und die eigene Behinderung thematisieren möchte. Aber sich blind in einen Seelen-Striptease zu stürzen, wird die politischen und gesellschaftlichen Hürden, denen wir als Menschen mit Behinderung tagtäglich und nach wie vor begegnen, nicht beseitigen. Wir müssen uns dafür stark machen, dass Menschen mit Behinderung auch über ihre Behinderung hinaus wahrgenommen werden. Sie sind Redakteure, Politikwissenschaftlerinnen, Schauspieler oder Wirtschaftsprofessorinnen. Entsprechend sollten sie vollkommen selbstverständlich als Fachleute neben Menschen ohne Behinderung zu Talkshows, Podiumsdiskussionen oder in Betriebe eingeladen werden.
Sicher: Sie sind auch Expertinnen und Experten beim Thema Behinderung und sollten dazu gehört werden. (im Vergleich zu Menschen ohne Behinderung, die viel zu oft eingeladen werden, um über das Thema Behinderung zu schwadronieren.) Aber eben nicht, damit andere sich besser fühlen oder sie bemitleiden können, sondern damit sie die Probleme, denen sie sich im Alltag stellen und die wir gemeinsam als Gesellschaft angehen müssen, ansprechen – und auf ernst gemeintes Interesse stoßen. Denn ohne ihre Schilderung kann ein Sehender sich kaum vorstellen, welche Gefahren ein U-Bahnhof ohne Leitsystem darstellt. Ein Mensch, der nicht im Rollstuhl sitzt, wird kaum hinterfragen, wieso eine Rathaustreppe zum Problem wird. Und ein Akademiker kann sich vermutlich nicht vorstellen, dass es auch Menschen gibt, die sich die Antwortschreiben einer deutschen Krankenkasse in Leichter Sprache wünschen. Hier dürfen und müssen die Betroffenen berichten, damit sich in der Wahrnehmung aller etwas ändert.
Die Realität ist hart und manchmal schmerzhaft. Aber es bringt uns als Gesellschaft erst weiter, wenn sich Entscheider nicht mehr hinter ein paar inspirierenden Wohlfühl-Storys verstecken, sondern Menschen mit Behinderung, ihre Erfahrungen und Belange wirklich ernst nehmen.
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3 Antworten zu “Wir sind nicht dazu da, dass ihr euch gut fühlt!”
Es muss ein Umdenken in der Gesellschaft stattfindet. Menschen mit und ohne Behinderungen möchten auf gleicher Ebene in Talkshows über Themen diskutieren, die uns alle Angehen.
Im Vordergrund steht immer das Miteinander innerhalb der Gesellschaft, das alle Menschen an gemeinsamen Projekten arbeiten, das nenne ich Inklusion . Talkshows geben uns Menschen z. B. Raul einen Namen, der für viele Menschen mit Behinderungen steht.
Jeder Mensch ist so wie er ist perfekt, einzigartig und vollkommen.
Meiner Meinung nach, gehört das Wort „Behinderung“ aus dem Sprachgebrauch gestrichen, da es keinen makellosen Menschen gibt. Dann wären wir alle Maschinen.
[…] Wir sind nicht dazu da, dass ihr euch gut fühlt! […]
[…] Raul Krauthausen: Wir sind nicht dazu da, dass ihr euch gut fühlt! (via @stviola71 / […]